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Worldcoin: Tausche Kryptowährung gegen Augen-Scan

Eileen Guo, Adi Renaldi
Die eigene Iris soll nach den Vorstellungen von Worldcoin zur Eintrittskarte ins Web3 werden. , IStock

Die eigene Iris soll nach den Vorstellungen von Worldcoin zur Eintrittskarte ins Web3 werden.

(Bild: IStock)

Das Start-up Worldcoin, das CEO Sam Altman mitbegründet hat, geht in Deutschland an den Start. Die Idee: Iris-Scan mit eigner Kryptowährung kombinieren.

Der Name Sam Altman ist eigentlich unweigerlich mit dem Technologie-Unternehmen OpenAI und damit mit ChatGPT, GPT-4 und weiteren KI-Modellen verbunden. Doch Altman ist ebenso Mitbegründer von Worldcoin. Das Start-up will nicht weniger als ein gerechtes universelles Grundeinkommen schaffen, das auf einer Kryptowährung beruht. Dazu soll die Identität eines Menschen per Iris-Scan nachgewiesen werden. Das Angebot ist nicht unumstritten. So hat eine britische Forscherin 2022 verschiedene Bezahl-, Währungs- und Identifikationsprojekte untersucht [1], die zunächst an marginalisierte Gruppen gerichtet sind. Auch Worldcoin hat eine biometrische Datenbank aufgebaut – auf Kosten zahlreicher Testpersonen. In den kommenden zwei Jahren sollen rund eine Milliarde Menschen mit dem Augen-Scan erfasst werden. Der Dienst startet jetzt auch in Deutschland [2], wie es auf der Worldcoin-Website heißt.


Anlässlich der Expansion von Worldcoin nach Deutschland veröffentlichen wir an dieser Stelle unseren Hintergrundbericht über das Vorgehen des Start-ups. Unter dem Titel "Augen auf" erschien der Text erstmals in Ausgabe 4/202 (als Print- und pdf-Ausgabe im heise shop) [3].


Eines sonnigen Morgens im vergangenen Dezember wurde Iyus Ruswandi früh von seiner Mutter geweckt. Ein Technologieunternehmen veranstaltete eine Art "Sozialhilfeaktion", sagte sie und drängte ihn, hinzugehen.

Ruswandi, ein 35-jähriger Möbelbauer aus dem indonesischen Dorf Gunungguruh, reihte sich in eine lange Schlange ein. Sie bestand hauptsächlich aus Frauen, die zum Teil schon seit sechs Uhr morgens warteten. Am Ende der Schlange registrierten Vertreter von Worldcoin Indonesia ihre Mail-Adressen und Telefonnummern und scannten ihre Augen mit einer futuristischen Metallkugel. Auch Dorfbeamte waren vor Ort und verteilten nummerierte Tickets, um für Ordnung zu sorgen. Ruswandi fragte einen Vertreter von Worldcoin, um welche Art von Wohltätigkeit es sich handelte, erfuhr aber nichts Genaueres.

Auch in zwei Dutzend weiterer Länder tauchten Worldcoin-Vertreter auf. An Unis, U-Bahn-Stationen, Märkten und Einkaufszentren sammelten sie biometrische Daten im Tausch gegen Bargeld, Apple Airpods oder das Versprechen künftigen Reichtums. Sie verrieten jedoch kaum etwas über ihre wahren Absichten.

Das dahinterstehende Unternehmen Tools for Humanity mit Sitz in San Francisco ging erst wenige Monate zuvor an die Öffentlichkeit. Worldcoin sei eine Ethereum-basierte "neue, kollektive globale Währung, die fair an so viele Menschen wie möglich verteilt wird", heißt es auf der Webseite.

"Ich habe mich sehr für Dinge wie das universelle Grundeinkommen interessiert", sagte Sam Altman gegenüber Bloomberg. Altman ist heute vor allem bekannt als CEO von OpenAI [4], aber er ist auch Mitbegründer von Worldcoin [5] und ehemaliger Präsident des renommierten Gründerzentrums Y Combinator. Worldcoin sollte einen Weg zeigen, "wie wir Technologie nutzen können, um dies in globalem Maßstab zu tun". Der deutschstämmige CEO Alexander Blania, der direkt nach seinem Physik-Master am Caltech im Alter von 27 Jahren bei Worldcoin einstieg, ergänzt: "Viele Menschen auf der Welt haben noch keinen Zugang zu Finanzsystemen. Kryptowährungen können uns dorthin bringen."

Worldcoin-Gründer Alexander Blania (links) und Sam Altman wollen eine universelle Authentifizierungsmethode für das Web3 schaffen., Worldcoin

Worldcoin-Gründer Alexander Blania (links) und Sam Altman wollen eine universelle Authentifizierungsmethode für das Web3 schaffen.

(Bild: Worldcoin)

Jeder Erdenbürger soll einen kostenlosen Anteil an der neuen Kryptowährung erhalten – wenn er dem Scan seiner Iris zustimmt. Dies geschieht mit einer "Orb" – ein Gerät, das einem enthaupteten Roboterkopf ähnelt. Zudem werden hochauflösende Bilder von Körper und Gesicht der Benutzer erfasst.

Das machte viele, darunter auch Ruswandi, mehr als stutzig: Was hat Worldcoin mit all diesen Daten vor?

Um diese Frage zu beantworten, sprach MIT Technology Review mit mehr als 35 Menschen in sechs Ländern – Indonesien, Kenia, Sudan, Ghana, Chile und Norwegen. Dabei zeigte sich, dass zwischen den Versprechen von Worldcoin und den Erfahrungen der Nutzer große Lücken klaffen. Wir fanden heraus, dass die Vertreter des Unternehmens irreführendes Marketing betreiben, mehr Daten sammelten als zugegeben und dafür keine ausreichende Zustimmung einholten.

[6]

Aus den Augen-Scans erzeugt ein Algorithmus einen "Hashwert", indem er die unverwechselbaren Merkmale der Iris mathematisch auf eine einzigartige Zeichenkette eindampft. Dieser Wert wird laut Worldcoin lokal in der Orb gespeichert und niemals weitergegeben. Er soll verhindern, dass sich jemand mehrfach bei Worldcoin anmeldet. Dazu verwendet das Unternehmen nach eigenen Angaben eine neuartige kryptografische Methode namens "Zero-Knowledge-Proof": Das System liefert nur die Information, ob eine Person bereits angemeldet ist oder nicht – ohne Übermittlung persönlicher Daten.

Worldcoin soll auch wichtige technische Probleme für das "Web3" lösen. In dieser viel gehypten dritten Generation des Webs sollen Daten und Inhalte dank Blockchains von Einzelpersonen und Gruppen kontrolliert werden statt von einer Handvoll Technologieunternehmen. Allerdings leidet das Web3 unter einem Mangel an Benutzern und einem Übermaß an gefälschten Konten. Worldcoin will beide Probleme lösen. Es sei "eine offene Plattform" für jedermann und könne dadurch zu einer universellen Authentifizierungsmethode für Kryptowährungen und das Web3 werden, sagte Blania gegenüber TR.

Die "Orb" ist ein Iris-Scanner, der bald in Serie gehen soll. , Worldcoin

Die "Orb" ist ein Iris-Scanner, der bald in Serie gehen soll.

(Bild: Worldcoin)

Wenn das geschieht, könnte auch die dahinterstehende Währung wertvoller werden. Dies dürfte der Grund sein, warum neben Altman auch einige der größten Namen des Silicon Valley eingestiegen sind. Andreessen Horowitz etwa investierte kürzlich über 100 Millionen Dollar, wodurch sich die Bewertung des Start-ups auf drei Milliarden Dollar verdreifachte.

Als wir im März mit Blania sprachen, hatte Worldcoin bereits 450.000 Menschen in 24 Ländern gescannt, 14 davon sind Entwicklungsländer. Bis 2023 will das Start-up eine Milliarde Anmeldungen sammeln.

Die bisher gesammelten biometrischen Daten sollen ein neuronales Netz zur Erkennung der Iris trainieren. Danach, verspricht Worldcoin, werden sie gelöscht. Bei der künftigen öffentlichen Version ihres Systems sollen neue Nutzer keine biometrischen Daten mehr abgeben müssen. Allerdings erklärt das Unternehmen nicht, wie dies funktionieren soll.

Aber wir wissen, wie die Nutzergewinnung derzeit funktioniert: Worldcoin schließt Verträge mit lokalen "Orb-Betreibern" für bestimmte Länder oder Regionen ab, die wiederum Subunternehmen zu eigenen Bedingungen beschäftigen können. Die Betreiber werden zwar vom Worldcoin-Team interviewt und ausgewählt, Unternehmenssprecherin Anastasia Golovina betont aber, dass sie "unabhängige Vertragspartner und keine Angestellten" seien – und selbst dafür verantwortlich, "lokale Gesetze und Vorschriften einzuhalten". Für jede gescannte Person erhalten sie eine Provision in Form des "Stablecoins" Tether, dessen Wert an eine traditionelle Währung gekoppelt ist.

Neue Nutzer bekommen derzeit Worldcoin im Wert von 25 US-Dollar, wenn sie sich scannen lassen und in ihre Worldcoin-Wallets einloggen. Einige Nutzer erhalten die Summe auf einmal, andere in wöchentlichen Raten. Laut Blania will man auf diese Weise herausfinden, was die effektivsten Anreize sind. Da es noch keinen Markt für die Worldcoins gibt, weiß allerdings niemand, welchen Wert sie wirklich haben. Sie sind also vorerst so etwas wie ein Schuldschein des Unternehmens und können schlimmstenfalls wertlos sein.

Viele Nutzer haben sich nach eigenen Angaben "aus Neugier" angemeldet. Andere kamen über Freunde, Bekannte oder Verwandte hinzu. Einige hofften, frühzeitig bei etwas einzusteigen, was der nächste Bitcoin werden könnte. Andere brauchten einfach das Geld. Viele vermuteten, dass es sich um einen Betrug handeln könnte, aber nur wenige konnten es sich leisten, sich die Summe entgehen zu lassen, wenn doch etwas dahintersteht.

Ruswandi fiel in mehrere dieser Kategorien. Er hatte während der Pandemie einen Großteil seiner Aufträge verloren und handelte in seiner Freizeit viel mit Aktien und Kryptowährungen. "Ich war neugierig und dachte, es könnte nicht schaden", erinnert er sich. Aber ihm kamen schnell Zweifel. Weder die Unternehmensvertreter vor Ort noch die Beamten des Dorfes konnten auch nur grundlegende Fragen zu Worldcoin beantworten. Nachdem er im Internet weiter recherchiert hatte, kam er zu dem Schluss, dass es sich um einen Betrug handelte – um eine massenhafte Datenerfassung, getarnt als "Offline-Airdrop", eine Taktik, bei der neue Kryptowährungen massenhaft kostenlose Token verteilen, um sich zu etablieren.

Schließlich beschränkten sich die Internetkenntnisse vieler seiner Nachbarn auf die vorinstallierte Facebook-App auf ihren Smartphones. Bevor sie mit der neuen Währung überhaupt etwas anfangen konnten, mussten die Vertreter von Worldcoin "ihnen erst einmal helfen, E-Mails einzurichten und sich im Internet anzumelden", erzählt Ruswandi. Wenn es darum ging, Nutzer für eine neue Kryptowährung zu gewinnen, fragte er sich, "warum hat Worldcoin dann in erster Linie einkommensschwache Dörfer ins Visier genommen statt Krypto-Enthusiasten?".

Auch viele weitere Experten zweifeln am Datenschutzkonzept von Worldcoin, zumal das Unternehmen noch kein Whitepaper veröffentlicht oder seinen Code für eine externe Bewertung geöffnet hat. "Benutzt keine biometrischen Daten zur Betrugsbekämpfung. Benutzt Biometrie für gar nichts. Der menschliche Körper ist kein Fahrkartenlocher", twitterte etwa der NSA-Whistleblower Edward Snowden. "Es sieht so aus, als ob [Worldcoin] eine globale (Hash-)Datenbank der Iris-Scans erstellt und die Folgen abwiegelt, indem es sagt: ‚Wir haben die Scans gelöscht!‘ Ja, aber Sie speichern die *Hashes*, die von den Scans erzeugt werden. Hashes, die mit *künftigen* Scans übereinstimmen."

Andere bemängelten, dass ein Fünftel der Coins bereits zugeteilt worden waren – je zehn Prozent an die Vollzeitmitarbeiter von Worldcoin und an die Investoren. Viele in der Blockchain-Szene waren auch mit dem Grundgedanken von Worldcoin nicht einverstanden: die Schaffung einer zentralen Identität für das gesamte Web3. Schließlich hatten sich viele den Blockchains und dezentralen Organisationen gerade deshalb zugewandt, um anonym zu bleiben.

Für Blania geht diese Kritik an der Sache vorbei. "Große Teile unseres Teams haben einen Hintergrund in der Kryptoszene. Daher liegt uns der Datenschutz sehr am Herzen", sagte er in einem Videointerview Anfang März von Erlangen aus gegenüber TR. Er verstehe die Besorgnis vollkommen, glaube aber, dass sie eher "emotionale Bauchreaktion" als "objektive Kritik" sei. Er räumte ein, dass es zu Beginn noch einige "Reibungsverluste" gegeben habe, weil das Unternehmen noch am Anfang stehe. "Es sind hier nur ein paar Leute, die versuchen, etwas zum Laufen zu bringen. Es ist nicht wie bei Uber mit hunderten von Leuten." Die Kritiker hätten übersehen, wie gut das Worldcoin-Protokoll die Privatsphäre schützen wird, sobald es fertig ist.

Außerdem, fügte das Unternehmen hinzu, "sammeln wir Daten nicht, um daraus Profit zu schlagen oder unsere Nutzer zu überwachen, wie viele andere Tech-Unternehmen da draußen. Wir wollen die Daten ausschließlich für die Entwicklung unserer Algorithmen verwenden, um Betrug zu minimieren und die Privatsphäre der Nutzer zu schützen."

Vertreter von Worldcoin haben allerdings eine Reihe fragwürdiger Methoden eingesetzt, um neue Nutzer zu gewinnen. Im Sudan verlosten sie AirPods, in West-Java tarnten sie eine Scan-Session als Workshop über Kryptowährungen und bezahlten einige Beamte dafür, für Worldcoin zu werben. Viele Bewohner dachten daraufhin, die Veranstaltung würde von der Regierung selbst organisiert. Worldcoin bezeichnete die Beispiele als "unabhängige und isolierte Aktionen lokaler Orb-Betreiber".

Orb-Einsatz in Chile: Neben dem südamerikanischen Land kam das Gerät unter anderem auch in Sudan, Ghana und Indonesien zum Einsatz., Fotos: Worldcoin

Orb-Einsatz in Chile: Neben dem südamerikanischen Land kam das Gerät unter anderem auch in Sudan, Ghana und Indonesien zum Einsatz.

(Bild: Worldcoin)

Orb-Einsatz in Indonesien: Worldcoin-Vertreter mussten erstmal helfen, E-Mails einzurichten und sich im Internet anzumelden., Worldcoin

Orb-Einsatz in Indonesien: Worldcoin-Vertreter mussten erstmal helfen, E-Mails einzurichten und sich im Internet anzumelden.

(Bild: Worldcoin)

Nicht immer steht böse Absicht dahinter. Die Orb-Betreiber, mit denen wir sprachen, erwähnten oft, wie wenig Informationen sie von Worldcoin-Vertretern bekamen. (Worldcoin entgegnet, dass es seinen Orb-Betreibern einen Verhaltenskodex zur Verfügung stellt, an den sich auch die Subunternehmen halten müssen, und dass es künftig von Provisionen, die allein auf der Anzahl der Scans basieren, abrückt.)

Bryan Mtembei war einer dieser Betreiber. Der Bauingenieur hat vor Kurzem sein Studium in Nakuru, der viertgrößten Stadt Kenias, abgeschlossen. Nachdem er im September auf dem Campus gescannt wurde, arbeitete er freiberuflich für Worldcoin. Er hätte sich "eine kurze Schulung über die Grundlagen von Worldcoin" gewünscht. Stattdessen war seine einzige Anweisung, "mehr Leute anzulocken, um mehr Geld zu bekommen", sagte er. "Der Rest war Sache meiner sozialen Marketingfähigkeiten."

Also tat er sein Bestes, um die Fragen der neuen Nutzer zu beantworten. Mtembei schätzt, dass etwa 40 Prozent der Angesprochenen Sorgen wegen der Weitergabe ihrer biometrischen Daten hatten. Als er anfangs ähnliche Bedenken äußerte, wurde ihm von einem Worldcoin-Vertreter versichert, dass alle seine Fragen in einem "White Paper" behandelt würden. Ein solches Dokument existiert jedoch nicht. Nach Angaben des Unternehmens könnten auch kürzere Blogbeiträge als White Paper angesehen werden. Letztlich überwog Mtembeis Geldnot seine Bedenken; er sagt, er habe zwischen 150 und 200 Personen zu umgerechnet je 44 US-Cent angemeldet.

Laut Worldcoin-Sprecherin Golovina "werden alle Nutzer, die sich während des Feldtests anmelden, umfassend darüber informiert, welche Daten gesammelt werden und wie sie verwendet werden, und sie müssen ihre Zustimmung geben, bevor sie sich anmelden dürfen. Jede Person, die ihre Zustimmung erteilt, kann diese jederzeit widerrufen, und die Daten werden dann gelöscht."

Keiner der von uns befragten Personen wurde jedoch explizit darauf hingewiesen, dass sie "Testnutzer" waren, dass ihre Fotos, Videos und 3D-Körperscans dem Training eines Algorithmus dienten oder dass sie die Löschung ihrer Daten verlangen können.

Zudem lagen Nutzungsbedingungen mitunter nur auf Englisch vor, auch wenn ein Nutzer dieser Sprache nicht mächtig war. Manchmal wurden neue Nutzer aufgefordert, zusätzliche persönliche Daten anzugeben, die Worldcoin nach eigenen Angaben nie anfordert. So sollten fast alle Personen, mit denen wir gesprochen haben, ihre E-Mail-Adressen angeben, um sich bei ihren Wallets anzumelden, manchmal auch ihre Telefonnummern.

Mtembei betonte, dass persönliche Angaben niemals optional seien und dass es keine Möglichkeit gebe, sich bei seiner Orb ohne E-Mail und Telefon anzumelden. In Nairobi berichteten mehrere Studenten, dass die Betreiber ihren Personalausweis fotografiert hätten. Worldcoin hat nach eigenen Angaben noch nie Ausweisdokumente von normalen Nutzern verlangt, lediglich von den Orb-Betreibern.

Datenschützer waren von dieser Praxis nicht überrascht. "Es gibt einen Wettlauf, wer in dieser KI-gesteuerten Wirtschaft die meisten Daten bekommt", sagt Payal Arora, digitale Anthropologin und Autorin von "The Next Billion Users: Digital Life Beyond the West". Strenge Datenschutzgesetze in Europa und den USA bedeuten, dass die dortigen Unternehmer ihre Trainingsdaten nicht von der eigenen Bevölkerung bekommen können. Es ist einfacher und billiger, Daten dort zu sammeln, wo Menschen weniger Geld und rechtlichen Schutz haben.

Pete Howson, Dozent für Kryptowährungen an der Northumbria University, bezeichnet solche Aktionen als "Krypto-Kolonialismus", bei dem "Experimente vulnerablen Gemeinschaften aufgezwungen werden, weil sie sich nicht wehren können". Dezentrale Krypto-Konstrukte seien dabei noch schädlicher als andere Formen des Datenkolonialismus, weil es bei ihnen nur eine "sehr begrenzte Rechenschaftspflicht" gebe, wenn etwas schiefgehe.

Worldcoin betont, dass es auch in europäischen Ländern aktiv ist, darunter Frankreich, Italien, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Spanien, Großbritannien und Deutschland. Damit operiert es im Geltungsbereich der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Diese verlangt, dass betroffene Personen vollständig darüber informiert werden, warum ihre Daten gesammelt werden, wie sie verwendet werden, wer sie verarbeitet, wohin sie übertragen werden und wie sie gelöscht werden können. Worldcoin erklärt, die DSGVO vollständig einzuhalten. In seinem Einwilligungsformular steht aber das Gegenteil: "Es besteht die Möglichkeit, dass unsere Richtlinien und Verfahren nicht ausreichen, um die DSGVO-Anforderungen zu erfüllen." Laut Worldcoin erscheint diese übervorsichtige Formulierung nicht mehr in der neuesten Version des Einwilligungsformulars. Zu Redaktionsschluss war sie aber immer noch online.

Zudem gibt Worldcoin an, einen Datenschutzbeauftragten zu beschäftigen und eine Datenschutz-Folgenabschätzung durchgeführt zu haben – lehnte es jedoch ab, diese öffentlich zu machen. Dies ist allerdings auch nicht vorgeschrieben, solange es für Betroffene einen Weg gibt, mit den Beauftragten in Kontakt zu treten, etwa über ein Webformular.

In Deutschland firmiert Worldcoin als Tools for Humanity GmbH. Offizielle Adresse ist ein Business Center im Osten Erlangens, daneben baut es einen Standort in Berlin auf. Eine eigene Webseite hat das Unternehmen nicht, die Adresse ist nur über das Handelsregister herauszufinden.

Das Business Center ist so neu, dass Google Maps noch die Bilder der Baustelle zeigt. Vor allem Start-ups ziehen hier ein. Es riecht nach Farbe und es fehlt an Grün, die Wände sind kahl. Noch sind hier nicht alle Büros bezogen. Die Firmenschilder bestehen aus ausgedruckten DIN-A4-Seiten, mit Tesafilm an die Tür geklebt. Hier hat Tools for Humanity mehrere übereinanderliegende Büroetagen bezogen.

Die Tür steht offen. Als der TR-Reporter eintritt und ein Gespräch mit einem Mitarbeiter beginnt, kommt Deutschland-Geschäftsführer Fabian Bodensteiner dazu. Zunächst möchte er keine Auskünfte geben und verweist auf die Pressestelle. Beim Hinausgehen lässt er sich aber doch noch auf ein Gespräch ein.

Die Prototypen-Phase der Orbs sei bereits abgeschlossen, verrät er. Nun beginne der Aufbau der Produktion. Die Geräte werden nach seinen Angaben nicht in Deutschland, sondern in einem anderen europäischen Land gefertigt – welches, sagt er nicht. In Erlangen werde die Software für die Orbs geschrieben. Dazu expandiere man stark, er führe regelmäßig Vorstellungsgespräche. Die Software soll später als Open Source veröffentlicht werden. Doch im Moment sei sie aus Sorge vor militärischem Missbrauch noch geheim. Nach Fertigstellung soll sie durch eine entsprechende Lizenzierung geschützt werden.

Die in Deutschland zuständige Aufsichtsbehörde ist das Bayerische Landesamt für Datenschutzaufsicht. Sie hat sich mit Worldcoin noch nicht befasst: Bisher habe man "keinen Anlass" gesehen, zu überprüfen, "ob die geschäftlichen Datenverarbeitungstätigkeiten des Unternehmens sich überhaupt im Anwendungsbereich der DSGVO befinden". Die Datenschutzbehörden seien aber "unabhängig von Beschwerden oder Informationen über konkrete Verstöße im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung jederzeit befugt, vom Verantwortlichen Informationen einzuholen". Auf die Nachfrage, ob die bisherigen TR-Recherchen nicht Anlass genug seien, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen, antwortete die Behörde: "Zu laufenden Ermittlungen oder auch Planungen diesbezüglich geben wir in der Regel keine Auskunft."

Als wir Worldcoin sieben Seiten mit den Ergebnissen unserer Recherche vorlegten, bezeichnete das Unternehmen fast alle Vorkommnisse als "Einzelfälle", die in der nächsten (öffentlichen) Version nicht mehr auftauchen würden.

"Wir werden unsere Systeme immer wieder von Datenschutzexperten auseinandernehmen lassen, bevor wir sie in großem Maßstab einsetzen", versprach Alexander Blania gegenüber TR. Das Unternehmen erkannte die Datenerfassung der bisher gescannten 450.000 Nutzer als problematisch und wollte sie einstellen. "Innerhalb der nächsten Wochen wird sich jeder bei Worldcoin anmelden können, ohne seine biometrischen Daten mit uns zu teilen", versprach das Unternehmen.

Die bereits gescannten Legionen von Testnutzern sind aber zum größten Teil nicht die beabsichtigten Endnutzer. Ihnen bot das Unternehmen nicht den gleichen Schutz ihrer Privatsphäre. Vielmehr waren sie einfach nur Futter für die neuronalen Netze von Worldcoin und eine attraktive Nutzerbasis, mit der sich Worldcoin besser als Identitätslösung des Web3 verkaufen kann. Und wenn die echten, monetarisierbaren Produkte – seien es die Orbs, der Web3-Zugang, die Währung selbst oder alles zusammen – für die vorgesehenen Endnutzer auf den Markt kommen, bleibt der Einsatz der vielen gescannten Körper verborgen. Ironischerweise hat gerade der massive Versuch von Worldcoin, Menschen zu erkennen, zu deren Entmenschlichung geführt.

Mitarbeit: Gregor Honsel, Herbert Mackert (grh [7])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7097714

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[1] https://www.heise.de/news/Kryptogeld-Blockchain-und-Web3-Kritik-an-Gefluechteten-als-Versuchskaninchen-7350298.html
[2] https://worldcoin.org/blog/announcements/worldcoin-launches-world-id-sign-ups-eu-largest-economy-germany
[3] https://shop.heise.de/technology-review-04-2022/Print
[4] https://www.heise.de/news/OpenAI-plant-Marktplatz-fuer-Entwickler-und-Profile-9199695.html
[5] https://worldcoin.org/
[6] https://www.instagram.com/technologyreview_de/
[7] mailto:grh@technology-review.de