Wundernetz aus Kohle

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Das Rennen um die zukünftige Anwendung von Graphen ist dennoch bereits in vollem Gange. Vor allem Asien scheint sich einiges von der neuen Technologie zu versprechen, denn Graphen-Plättchen lassen sich in einer Flüssigkeit verteilt vergleichsweise unkompliziert auf Glas oder Kunststoff auftragen. Wenn die Trägerflüssigkeit verdunstet ist, entsteht eine gut leitende, transparente Schicht, die beispielsweise für Elektroden in Solarzellen oder Displays verwendet werden kann und dort das teure Indiumzinnoxid ersetzen soll. Bereits im Mai 2010 zeigten koreanische Forscher zudem den Prototypen einer flexiblen, transparenten Auflage für Displays, die Energie erzeugen soll: In dem Demonstrationsobjekt verwendeten die Wissenschaftler piezoelektrische Nanostäbchen, die zwischen zwei Elektrodenschichten aus Graphen liegen. Jeder Fingerdruck des Users auf den Touchsreen würde so Energie für das Display liefern – selbst das Aufrollen eines flexiblen Displays würde noch Strom fließen lassen. Im Idealfall, hoffen die Forscher, könnte nicht nur das Display betrieben, sondern auch überschüssige Energie an die Akkus abgeführt werden.

Südkorea hat in den vergangenen Jahren bereits 100 Millionen Dollar in die Graphen-Forschung investiert und will jetzt noch einmal 300 Millionen nachschießen. Auch in Singapur wird die Graphen-Forschung mit 60 Millionen Euro gefördert, während ganz Europa bisher nur schätzungsweise 50 Millionen Dollar in diesen Forschungszweig investiert habe, mahnt Kinaret. Damit Europa nicht den Anschluss verliert, will das Konsortium zunächst eine Bestandsaufnahme der internationalen Forschungstätigkeit erarbeiten. Daraus soll dann abgeleitet werden, welche Graphen-Anwendungen in Europa entwickelt werden sollten, weil sie auf bereits vorhandene, gut entwickelte Forschungs- und Industriestrukturen aufsetzen können.

Dass man gegen den Vorsprung der asiatischen Länder in der Display-Technologie ankommen könne, hält Kinaret für "sehr fraglich". Traditionell stark sieht der Physiker die Europäer dagegen beispielsweise im Bereich der "gedruckten Elektronik". Unternehmen wie BASF arbeiten seit Jahren daran, Funketiketten mit preiswerter, flexibler Elektronik aufzurüsten, um den Klebeschildchen damit allerlei elektronische Zusatzfunktionen zu verleihen. Um die Tags möglichst günstig und flexibel zu produzieren, werden die dabei verwendeten Schaltkreise mit Tintenstrahldruckern hergestellt. Das elektronische Material, das in solchen Etiketten verwendet wird, besteht in der Regel aus speziellen halbleitenden Kunststoffen. Die "organische Elektronik" ist allerdings sehr viel langsamer als herkömmliche Silizium-Elektronik – der Funktionsumfang der Etiketten ist deshalb noch immer sehr eingeschränkt. Das könnte sich ändern, wenn stattdessen Graphen zum Einsatz käme.

Auch im Bereich der Energiespeicherung sieht Kinaret gute Chancen für europäische Unternehmen, denn die weltweite Führungsrolle beim Ausbau erneuerbarer Energien hat auf diesem Gebiet die Nachfrage deutlich erhöht. Mit seiner großen Oberfläche bietet sich Graphen förmlich als Elektrodenmaterial für Lithium-Ionen-Akkus und sogenannte Superkondensatoren an. Die hätten im Unterschied zu Akkus den Vorteil, elektrische Energie erheblich schneller speichern und freigeben zu können.

In kommerziellen Superkondensatoren bestehen die Elektroden aus porösem Kohlenstoff. Unter Spannung gesetzt, sammelt der Kondensator Ionen des Elektrolyten in den Poren des Kohlenstoffs und speichert so die elektrische Energie. Graphenschichten bieten im Vergleich dazu viel mehr Fläche, um Ionen zu binden. Zudem könnten diese sich schneller anlagern und wieder lösen. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass es bisher nur kleine Graphen-Plättchen gibt, die dazu neigen, sich zu verklumpen, was die verfügbare Oberfläche wieder verkleinert.

Weltweit arbeiten Forschungsgruppen daher an Herstellungsmethoden für großflächige Graphenschichten und an Verfahren, die das Verkleben der Plättchen verhindern sollen. Doch auch bei den Energiespeichern werden sich die Europäer sputen müssen: Das Unternehmen Nanotek Instruments aus Ohio hat nach eigenen Angaben bereits eine etwa münzgroße Kondensatorzelle aus Graphen entwickelt, die effektiv rund 28 Wattstunden Energie pro Kilogramm speichern kann.

"Wir wollen eine vertikale Produktionskette von der Materialherstellung bis zur Systemintegration aufbauen", sagt Kinaret. Dazu sei ein koordiniertes Vorgehen unbedingt notwendig: "Die Materialhersteller warten, bis der Bedarf groß genug ist, um ihre Produktionsverfahren zu entwickeln. Aber wenn klar ist, dass nicht genügend Rohstoff zur Verfügung steht, werden auch keine Graphen-Bauteile entwickelt. Also bleibt der Bedarf niedrig." Ein klassisches Henne-Ei-Problem, das sich nur über staatliche Hilfe lösen lässt, meint Kinaret: Die damit verbundenen Risiken seien viel zu hoch, um von einem einzigen Unternehmen geschultert zu werden.

Denn obgleich das Material Physiker regelmäßig zu Begeisterungsstürmen hinreißt, haben ähnlich potente Nanoteilchen aus Kohlenstoff die Hightech-Industrie bereits zweimal enttäuscht: Die kugelförmigen "Buckyballs" aus 60 Kohlenstoff-Atomen ließen sich bislang gar nicht praktisch verwenden, gelten mittlerweile sogar als gefährliches Material. Und die in den neunziger Jahren entdeckten Kohlenstoff-Nanoröhrchen werden heute zwar in ultraleichten Komposit-Materialien verwendet. In der Elektronik sind sie aber bislang noch nicht angekommen.

Natürlich bestehe auch diesmal ein Risiko, räumt Kinaret ein. Graphen sei aber wesentlich leichter zu kontaktieren als Nanoröhrchen. Und während Nanoröhrchen sowohl metallisch als auch halbleitend sein können, habe Graphen immer einheitliche Eigenschaften. "Es gibt unglaublich viele Ideen für mögliche Anwendungen", sagt Kinaret. "Einige werden funktionieren, andere nicht. Eine Milliarde Euro ist zwar eine Menge Geld, aber dafür können Sie andererseits nicht mal ein Drittel einer modernen Chipfabrik kaufen. Ich denke, so viel sollte uns die Zukunft wert sein." (wst)