Zahlen, bitte! 78 Umdrehungen pro Minute - Spin der ersten Schallplatte

Emil Berliners Schallplatte ermöglichte erstmals, Musik, Sprache und Töne günstig zu speichern und immer wieder abzuspielen – Eine wechselhafte Geschichte.

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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Am 26. September 1887 reichte Emil Berliner seine Patentschrift auf das "Grammophon" und die Schallplatte in den USA und im Deutschen Reich ein. Die deutsche Version trug den Titel "Verfahren und Apparat für das Registrieren und Wiederhervorbringen von Tönen". Die technisch einfacher herzustellende Schallplatten gewann den Wettbewerb gegenüber dem walzengesteuerten Phonographen von Thomas Edison. Mit der Elektrifizierung des Plattenspielers und gleichzeitiger Standardisierung der Abspielgeschwindigkeit auf 78 Umdrehungen pro Minute entstand ein Massenmedium.

Emil Berliner (US: Emile Berliner): * 20. Mai 1851 in Hannover; † 3. August 1929 in Washington, D.C.. Der Tüftler gilt als Erfinder der Schallplatte und des Grammophons.

Einer der Ersten, der sich mit der Wiedergabe von Tönen beschäftigte, war der Fotograf und Luftschiffer Nadar. Im Jahre 1856 beschrieb er einen Phonographen "als einen Kasten, in dem Melodien festgehalten und gemerkt würden, ganz ebenso wie die Camera Obscura Bilder aufnimmt und festhält." Nadar hatte kein Interesse, die Idee zu verfolgen. Das wurde erst 1876 im Forschungslabor von Thomas Edison systematisch angegangen. Am 17. Juli 1877 entdeckten Edison und seine Mitarbeiter bei der Entwicklung eines Telephones, dass eine Schreibspitze auf Metall Schwingungen erzeugt, die an menschliche Stimmen erinnern.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

"Sprachschwingungen können exakt aufgezeichnet werden und zweifellos wird es mir schon bald gelingen, die menschliche Stimme aufzuzeichnen und wiederzugeben", notierte Edison in seinem Forschungstagebuch. Dabei dachte Edison nicht an Musik und Unterhaltung, sondern an die Koppelung von Telephon und Phonograph: "Fernsprechteilnehmer können, wenn sie ihre Gesprächspartner nicht zu Hause antreffen, dennoch sagen, was sie zu sagen haben und es vom Phonographen des Abwesenden aufnehmen lassen."

Poetischer sah es der Dichter und Forscher Charles Cros, dem ein Parlophone vorschwebte. Er beschrieb seine Erfindung in einem Gedicht über den Gesang: "Ich wollte, dass die geliebten Stimmen wie der Schnitt einer Gemme ein Gut seien, das man für immer aufbewahrt, damit sie den musikalischen Traum der allzu kurzen Stunde wiederholen können; die Zeit will fliehen, ich halte sie fest."

Emil Berliner mit einem Ur-Grammophon und einer Schallplatte auf Zink-Basis.

Während Cros seine Versuche bald einstellte, ging die Forschung in Edisons Labor weiter. Dort entwickelte man den Phonographen, der Töne von einem Zylinder abspielte. Diese Erfindung wurde in einem anderen Labor entscheidend verändert, in dem von Emil Berliner. Der Hannoveraner Jude war in die USA ausgewandert, hatte dort eine Verbesserung des Mikrofons erfunden und die Patentanmeldung im Jahr 1870 für 50.000 Dollar an Alexander Graham Bell verkaufen können. In seinem Labor tüftelte er am Aufzeichnungs- wie Abspielverfahren, bis er die Kombination von einem "Grammophon" und einer Schall-Platte in den USA wie in Deutschland zum Patent anmelden konnte. "Die vorliegende Erfindung bezweckt eine Registrirung von Schallwellen bei durchaus constantem Reibungswiderstand zwischen Stichel und Registrierfläche. Die in solcher Weise erzeugten Registrirungen werden dann durch ein besonderes Verfahren auf ein widerstandsfähiges Material übertragen, um die Töne selbst wieder hervorbringen zu können." Die Geschichte der Schallplatte konnte beginnen.

Neben vielen Firmengründungen tüftelte Berliner vor allem am Trägermaterial seiner Schall-Platten. Zuerst wurden die Glasscheiben durch Zinkscheiben ersetzt, dann durch Hartgummi, bis schließlich mit der Schellack-Platte das Material gefunden wurde, mit dem Platten in großem Stückzahlen gepresst werden konnten. Etwas weniger glücklich verlief die Entwicklung der Abspielgeräte: "Da seine Patentansprüche aber weder sehr ausführlich noch umfassend waren, konnte der Schutz von vielen Nachahmern relativ leicht umgangen werden", weiß das Deutsche Patentamt. Weltmarktführer wurde so zunächst die französische Firma Pathé. Wegen der Patentstreitigkeiten musste Berliner 1900 den Firmensitz der Gram-o-Phone nach Montreal in Kanada verlegen, wobei zum bekannten Hunde-Logo der Schriftzug "His Master's Voice" hinzugefügt wurde.

Das weltbekannte Logo mit dem Hund, der dem Grammophon lauscht. "Die Stimme seines Herrn" darunter.

Hatten Berliners Schallplatten, wie sie im Deutschen Reich von der Deutschen Grammophon Gesellschaft angeboten wurden, einen Durchmesser von 17 cm, so stellte man 1901 auf 25 cm um. Im Jahre 1906 arbeiteten bei der Deutschen Grammophon in Hannover 200 Plattenpressen, die 36.000 Platten am Tag produzierten. Vor dem Aufkommen des Elektromotors nannten die Plattenhersteller in ihren Katalogen die Geschwindigkeit in Umdrehungen pro Minute, mit der die Platten abgespielt werden sollten. Frühzeitig pendelte sich das Mittel aus Spieldauer, Haltbarkeit der Platte und Aufnahmequalität bei 78 Umdrehungen ein. Exakt festgelegt wurde es aber erst im Jahre 1925, als die akustisch-mechanischen Aufnahmesysteme durch elektroakustisch-magnetische Systeme ersetzt wurden. Ausgangspunkt war der elektrische Antrieb mit einem Motor, der 3600 Umdrehungen pro Minute lieferte. Bei einer Übersetzung von 46:1 kam man in den USA bei 60 Hz und 110/120 Volt auf eine Geschwindigkeit von 78,26 Umdrehungen, in Europa bei 50 Hz und 220/240 Volt auf 77,92 Umdrehungen.

Kulturgeschichtlich interessant ist die Tatsache, dass die 78er-Geschwindigkeit bald nicht nur für die Schellackplatte stand, sondern auch für eine ganze Musikrichtung, den Jazz. In dem großen Aufnahmestudio von Gram-o-Phone in Montreal wurden zahlreiche Aufnahmen mit Jazzmusikern hergestellt. Das führte dazu, dass der Musikstil in der vom Autofabrikanten Henry Ford finanzierten Hetzschriften-Reihe "Der internationale Jude" der Jazz neben rassistischer Hetze auch als "jüdisches Machwerk" antisemitisch diffamiert wurde. Der Popularität der 78er tat das keinen Abbruch, ganz im Gegenteil: Mit dem Ende der Prohibition wurde in den USA im ganzen Land Musik gehört und die Schellack-Platten mit den Jazzern landeten in Jukeboxen.

Der Tonarm mit Stahlnadel bewegt sich über eine rotierenden 25-cm-Schellackplatte und tastet die Musik ab.

(Bild: CC BY-SA 3.0, Holger.Elgaard)

Auch die sogenannte höhere Kunst hatte sich längst mit dem Medium angefreundet. Bereits 1913 wurde von der Deutschen Grammophon Gesellschaft ein komplettes Orchester mit Beethovens 5. Sinfonie aufgenommen und Weihnachten 1928 erreichte man mit der Auskoppelung von "Erzengel Gabriel verkündet den Hirten Christi Geburt" aus Beethovens Missa Solemnis erstmals mit einer Klassik-Platte eine Auflage von einer Million Stück. Die Avantgarde beschäftigte sich auf ihre Weise mit den 78ern: 1923 entwickelte Lázló Moholy-Nagy am Bauhaus eine Ritzschrift für Schellackplatten, die direkt abgespielt wurden und wurde so wahrscheinlich der erste DJ der Musikgeschichte.

1927 verriss der Philosoph Theodor W. Adorno den Plattenspieler als Instrument der bürgerlichen Familie, die Musik zwar genießen, aber nicht mehr spielen kann. Das hinderte den anerkannten ernsten Komponisten Paul Hindemith nicht daran, 1930 ein Werk namens Trickaufnahmen für Schallplatte zu komponieren. Im März 1939 wurde in Seattle das Stück Imaginary Landscape No 1 von John Cage von einem Quartett uraufgeführt.

Zwei Spieler spielten Klavier und Schlagzeug, zwei weitere Spieler bedienten drei Plattenspieler. Während der erste Spieler ein Musikstück auf zwei Plattenspielern mit jeweils 78 und 33 1/3 Umdrehungen pro Minute startet, bedient der zweite einen Plattenspieler, dessen Geschwindigkeit variabel eingestellt werden konnte. Als Platte kam eine Testplatte zum Einsatz, mit der Psychologen die Musikwahrnehmungen ihrer Patienten testeten. Nach dem Angriff auf Pearl Harbour schrieb John Cage das satirische Stück Credo in Us, bei dem ein Radio oder ein Plattenspieler mit Werken von Beethoven, Dvorak oder Sibelius zum Einsatz kommen sollte.

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Die Geschichte der 78er-Umdrehungen ist nicht vollständig ohne die Geschichte der Sammler und Enthusiasten, die sich dem Sammeln und Tauschen von Schellackplatten verschrieben haben. Sie horten Schätze wie die Ansprachen des Nationalkomitees, die in der Sowjetunion produziert wurden, als diese im Kampf gegen den Faschismus stand. Natürlich gibt es archivierte Platten mit den Hitler-Reden an das deutsche Volk, doch es überlebten auch Zeugnisse jüdischer Musikkultur auf den empfindlichen Scheiben.

In den 1930ern kamen erstmals Vinylplatten auf den Markt. Die Platten ließen sich mit PVC wesentlich günstiger herstellen als mit dem teuren Schellack-Naturprodukt und mischten den Markt auf. Das ist aber eine eigene Geschichte wert.

(mawi)