Zahlen, bitte! Der Nullmeridian, oder: Irgendwo muss die Weltkugel ja anfangen

Ein kleiner Ort wurde ab 1884 zum wichtigsten Bezugspunkt der Seefahrt. Der Greenwich-Nullmeridian setzt seitdem den Standard für die weltweite Navigation.

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Inhaltsverzeichnis

Ein beschaulicher Ort bei London wurde 1884 in der internationalen Meridian-Konferenz zum Nabel der Welt. Der Meridian von Greenwich setzte sich dabei gegen Paris und den seit dem Altertum verwendeten Ferro-Meridian durch.

Der Nullmeridian ist der Längenkreis im Gradnetz der Erde, von dem aus die Zählung beginnt. Meridiane sind gedachte Linien und verlaufen senkrecht zum Äquator. Und während der Äquator einfach bestimmbar ist, da er über die Rotationsachse den Planeten in zwei Teile teilt, ist der Nullmeridian willkürlich und muss im gemeinsamen Konsens festgelegt werden.

Eine um 1300 von Maximus Planudes geschaffene Weltkarte nach Ptolomäus Vorbild. Der Nullmeridian ist links auf den Kanarischen Inseln zu sehen. Der Strich in der Mitte ist die Heftung zweier Blätter geschuldet.

Lange Zeit war die westlichste Kanareninsel El Hierro (damals: Ferro), unter dem Namen Isla del Meridiano als Ferro-Meridian geläufig. Urheber war der griechische Philosoph und Mathematiker Claudius Ptolemäus, der um 150 nach Christus herum einfach den westlichsten Ort der damals bekannten Welt als Nullmeridian festlegte.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Gerhard Mercator, der Erfinder der Mercator-Projektion, verwendete zwischen 1538 und 1569 sogar drei verschiedene Meridiane. Über die Jahrhunderte war jedoch der Ferro-Meridian der am häufigsten verwendete Bezugspunkt, bis vor allem ab dem 18. Jahrhundert aus nationalistischen Gründen weitere Nullmeridiane dazukamen. Die Meridian-Vielfalt begann ausgerechnet in der Zeit, in der die Welt über Schiffshandelsrouten mehr und mehr zusammenwuchs.

So wurde durch den englischen Astronomen und Mathematiker George Biddel Airy im Jahr 1851 der britische Nullmeridian in Greenwich festgelegt. Er führt durch das Royal Greenwich Observatory, eine Sternwarte der damaligen Gemeinde Greenwich in der Grafschaft Kent, die im Jahr 1889 in London eingemeindet wurde. In Frankreich wurde neben dem Ferro-Meridian ein Paris-Meridian eingeführt. Im damaligen Russland war St. Petersburg der Meridian-Startpunkt.

Der Wildwuchs an Meridianen hatte Folgen. Zwar wurden Seekarten durch leistungsfähigere Vermessungen immer präziser, aber verschiedene Meridiane begünstigten in der Seefahrt Navigationsfehler: Die konnten im schlimmsten Falle zu Schiffsunglücken führen. Der im 19. Jahrhundert aufkommende Eisenbahnverkehr litt zudem an einem Flickenteppich an Zeitzonen, die vom Meridian abhingen.

Somit kamen im Oktober 1884 Vertreter aus 25 Nationen auf Einladung von US-Präsident Chester A. Arthur in Washington zusammen: Auf der Internationalen Meridian-Konferenz sollten Delegierte sich auf einen weltweiten Nullmeridian sowie die darauf basierenden Zeitzonen und die Weltstandardzeit einigen. Die Beschlüsse, die einen empfehlenden Charakter hatten, entstanden auch auf Druck der Schiffsreeder und Bahngesellschaften.

Es waren mehrere Meridiane im Gespräch:

  • Der Ferro-Meridian
  • Ein Meridian in der Nähe der Azoren
  • Ein Meridian im Pazifischen Ozean (in etwa dort, wo heute die Greenwich-Datumslinie liegt)
  • Der Meridian des Observatoriums von Paris
  • Der Greenwich-Meridian.

Frankreich wollte mit Nachdruck seinen Paris-Vorschlag durchsetzen, scheiterte aber an der Mehrheit der Delegierten. Alternativ wollten sie den Ferro-Meridian, was ebenfalls von der Versammlung abgelehnt wurde. Die Azoren sowie der Meridian im Pazifischen Ozean scheiterten, weil ihre Linien keine Observatorium-Standorte beinhalteten und vom Telegrafen-Netz abgeschnitten waren. Außerdem verliefe bei einem Nullmeridian im Pazifischen Ozean die Datumsgrenze, also die Linie im gegenüberliegende Erd-Halbkreis, direkt durch Europa. Sie würde somit den Kontinent in zwei Zeitzonen mit verschiedenen Kalendertagen teilen.

Ein Nullmeridian in Greenwich hatte den Vorteil, dass die Datumsgrenze nur äußerst dünn besiedeltes Gebiet betraf. Obendrein waren durch Großbritannien als große Seefahrtnation bereits viele Karten damit ausgestattet, was mögliche Umstellungskosten begrenzte.

Die Markierung des Greenwich-Nullmeridians am Gebäude.

(Bild: CC-BY SA 3.0, ChrisO)

So stimmten am 13. Oktober 22 der 25 anwesenden Nationen für die Festlegung von Greenwich als Nullmeridian. Brasilien und Frankreich enthielten sich. San Domingo (die heutige Dominikanische Republik) stimmte dagegen. Wie sehr Frankreich das Ergebnis ablehnte, zeigte sich daran, dass sie erst im Jahr 1911 den Greenwich-Nullmeridian umsetzten. Und statt Greenwich-Nullmeridian verwendeten sie als Bezeichnung "Pariser Mittelzeit, um 9 Minuten und 21 Sekunden verzögert." Ausgerechnet in Paris auf der Weltkartenkonferenz im Jahre 1913 wurde die 1884 beschlossene Empfehlung verbindlich ratifiziert.

Neben dem Nullmeridian setzte sich die Greenwich Mean Time (GMT) als Weltzeit ab 1884 durch und wurde 1928 zur Universal Time (UT) umbenannt. Sie ist die mittlere Sonnenzeit auf dem Nullmeridian von Greenwich, mit Beginn der Mitternacht. Am 1. Januar 1972 wurde sie durch die Koordinierte Weltzeit (UTC) abgelöst. Die von Atomuhren gemessenen Atomzeit wird über Schaltsekunden den Unregelmäßigkeiten der UT angepasst.

Zahlen, bitte! Greenwich Nullmeridian

Greenwich ist offizieller Nullmeridian der Erde: Seit 1884

Länge des Nullmerdian: 20.003,9 km (halber Erdumfang des internationalen Erdellipsoids)
Heutige korrigierte Abweichung des Nullmerdians: 102,5 Meter östlich

Verlauf Greenwich-Nullmeridian:
Großbritannien: 319 KM
Frankreich: 735 KM
Spanien: 336 KM
Algerien 1555 KM
Mali: 760 KM
Burkina Faso: 430 KM
Togo: 39 KM
Ghana: 569 KM
Antarktika: 2331 KM

Durchqueerte Meere und Seen:
Nordpolarmeer: 3217 KM
Nordsee: 977 KM
Mittelmeer: 424 KM
Voltastausee, Ghana: 78 KM
Atlantischer Ozean inklusive Südpolarmeer: 8278 KM

Auf jemanden, der, mit einem GPS-Empfänger bewaffnet, den Innenhof der Sternwarte Greenwich aufsucht, wartet eine Überraschung: Stimmt doch die im Boden versenkte Nullmeridianlinie aus Messing nicht mit den Koordinaten überein. Stattdessen liegt der tatsächliche Nullmeridian etwa 102 Meter oder 5,3 Gradsekunden weiter östlich. Forschende vermuten, dass bereits bei der Bestimmung des Nullmeridians im 19. Jahrhundert eine Schwereanomalie für die Lotabweichung gesorgt hat. Da die Erde nicht eine perfekte Kugelform hat, können solche Abweichungen auftreten. Weil die Ortsbestimmung über Satellitennavigation hochpräzise ist, wurde die Differenz deutlich.

Seit dem World Geodetic System 1984 sind die Koordinaten wie Längen- oder Breitengrade ohnehin nicht mehr erdgebunden, da die Erdoberfläche verschiedene tektonischen Verschiebungen ausgesetzt ist.

Und egal, wie die neueren Verfahren abweichen, sie basieren auf die Beschlüsse, die damals das beschauliche Greenwich zum Maßstab für die Weltnavigation machten.

(mawi)