Zahlen, bitte! "Elf 99" – Die TV-Begleitung zum Ende der DDR
Kurz vor dem Fall der Berliner Mauer hatte im DDR-Fernsehen ein Versuch begonnen, Werbung für den Sozialismus zu machen. Das lief aber ganz anders als geplant.
2019 sorgte der Zahlen, bitte!-Artikel über die Sendung "Elf 99" im heise-Forum für viele Erinnerungen und Diskussionen um das Jugend-TV der Wende. Wir haben uns erlaubt, ihn zu aktualisieren und zum Jahrestag erneut zu veröffentlichen. Viel Spaß beim Lesen!
Vor 35 Jahren, am 1. September 1989, nahm mit "Elf 99" eine Fernsehsendung ihren Betrieb auf, die zwar nicht alt werden sollte, in ihrer kurzen Lebenszeit aber ein Stück deutsche Mediengeschichte schrieb. Geplant war das alles aber ganz anders, als Versuch des DDR-Fernsehens, die jungen Zuschauer vom Westfernsehen wegzulocken und für die Deutsche Demokratische Republik zu begeistern. Helfen sollten flippige Outfits, westliche Popmusik, die US-Fernsehserie "Dirty Dancing" und Wortmeldungen junger Menschen. Von der DDR wurde die Jugend aber nicht mehr überzeugt, stattdessen sollte "Elf 99" einen Teil zu ihrem Untergang beitragen.
Werbung für die DDR
Einen Monat vor dem 40. Geburtstag der DDR nahm die Sendung dann ihren Betrieb auf, vorerst jeden Freitag für zwei Stunden und mit jeder Menge Anklängen an Fernsehprogramme der Bundesrepublik. Vorgesehen waren Reportagen, Musikvideos, Sport, Unterhaltungsserien und Diskussionen. Im Vorspann tauchte neben dem King of Pop Michael Jackson auch ein zwinkernder Karl Marx und Johann Wolfgang von Goethe auf. Der Name "Elf 99" steht für die Postleitzahl 1199 von Berlin-Adlershof, wo das DDR-Fernsehen seinen Sitz hatte und wohin Zuschauer ihre Anmerkungen per Post schicken konnten.
Draußen begann derweil der Herbst eines turbulenten Jahres, dessen historische Ereignisse größtenteils noch bevorstanden. DDR-Bürger flohen in Massen aus dem Land, um Unfreiheit, Mangelwirtschaft, Propaganda und Wahlfälschungen hinter sich zu lassen. Viele junge Menschen sahen im "real existierenden Sozialismus" keine Zukunft und "Elf 99" setzte da anfangs vor allem auf "leidenschaftliche Mambo- und Lambada-Kurse", wie der Spiegel wenig später zusammenfasste. Aber "wer schmutzig tanzt, kommt auf dumme Gedanken" und so folgten immer häufiger kritische Reportagen, die nur wenige Wochen vorher so nicht denkbar gewesen wären.
Die jungen Journalisten öffneten sich den Entwicklungen auf den Straßen der DDR und testeten aus, was nun im Fernsehen möglich war. Wenn sie dabei auf Widerstand stießen, fegten sie ihn oft einfach beiseite, wie Protagonisten sich später erinnerten. Hilfreich war dabei, dass es ihnen erlaubt war, auch Nachrichten zu senden, was bis dahin dem Propaganda-Instrument "Aktuellen Kamera" vorbehalten war. Als ein Kommentar zur Fluchtwelle aus der DDR von der Fernsehleitung verhindert werden sollte, legte der Kommentator einen genehmen Text vor, sprach dann aber live die ursprüngliche Fassung ein, berichtete ebenfalls der Spiegel.
Redaktion wird immer mutiger
"Die Frechheit der Redaktion wuchs proportional zur Frechheit im Land" hieß es beim Spiegel weiter und schließlich wurde in einer Diskussionsrunde der mächtige Gewerkschaftschef Harry Tisch zum Rücktritt aufgefordert. Der folgte dann auch tatsächlich kurze Zeit später. "Elf 99"-Reporter Jan Carpentier fragte Egon Krenz während eines Flugs nach Moskau nach dessen Alkoholkonsum und ordnet das später mit den Worten ein, "schon der Versuch, Honecker ohne Absprache anzusprechen, wäre Selbstmord gewesen". Mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November brachen dann noch mehr Dämme und die Sendung erreichte einen Kult-Status, den sie unter anderem für Sondersendungen nutzte.
In die Fernsehgeschichte sollte etwa ein Enthüllungsbericht über die sagenumwobene Waldsiedlung der SED-Führung in Wandlitz unter dem Titel "Einzug in das Paradies" eingehen. Carpentier riss die Legenden und Mythen um den streng abgeriegelten Ort ein und zeigt eine biedere Siedlung, die sich äußerlich nicht sehr vom Rest des Landes unterschied. Gleichzeitig gab es in der Kaufhalle vor Ort Obst und Gemüse in Mengen, von denen die DDR-Bürger nur träumen konnten. In einem spontanen Interview bezeichnete Ex-Politbüro-Mitglied Kurt Hager Wandlitz als siebtes Internierungslager, in dem er in seinem Leben gelandet sei. Carpentier selbst hielt seine Reportage über die dramatische Situation beim Wachregiment "Felix Dzierzynski" für wichtiger "Wandlitz war dagegen Kinderkram".
Wie so vieles in jener Zeit wurde dann aber auch "Elf 99" von den Entwicklungen der Wendezeit überrollt. Als die Fernsehsender der DDR schließlich abgeschaltet wurden, übernahmen weder der neue MDR noch der ORB "Elf 99". Die populäre Sendung landete bei RTL, wo man damit aber nicht mehr viel anfangen konnte. Zu Ende ging die Ära von "Elf 99" dann im März 1994 beim neuen Fernsehsender Vox, nach nicht einmal fünf Jahren. Mit Victoria Herrmann, Anja Kling, Ingo Dubinski, Jens Riewa und anderen haben mehrere bekannte Moderatoren und Schauspieler dort ihre ersten Fernsehschritte unternommen. (mawi)