Zahlen, bitte! Mit 80 Bildern pro Sekunde durch die Luft fliegen
Dass Fliegen in Bruchteilen einer Sekunde der schlagenden Hand ausweichen können, liegt an ihrem Sehvermögen: Sie nehmen die Welt vielfach schneller wahr.
Das Sehen von Bewegungen ist für Menschen wie für Tiere von größter Bedeutung. So werden wilde Tiere enttarnt, die sich anschleichen, fallende Gegenstände erkannt, auf die man achtgeben muss oder eben ansausende Fliegenklatschen entdeckt, um geschickt auszuweichen. Die Facettenaugen einer Fliege ermöglichen nicht nur einen Panoramablick im Vergleich zu dem kleinen Menschenauge, sondern sind auch Hochleistungsrezeptoren. Das führt dazu, dass das Fliegenhirn über 80 Einzelbilder pro Sekunde wahrnehmen und damit schnelle Bewegungen viel präziser sehen kann.
Kein Wunder, dass Fliegen und hier besonders die Fruchtfliegen in der Erforschung des Sehvorgangs eine wichtige Rolle spielen. Mit genetischen Methoden ist es Neurobiologen gelungen, die Schaltkreise beim Bewegungssehen der Fliege aufzuklären -- und sie mit ähnlich funktionierenden Systemen bei den Säugetieren zu vergleichen.
Die Erforschung des Sehvorgangs und des Bewegungssehens der Fruchtfliege ist nach Ansicht des Neurobiologen Alexander Borst vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz so etwa wie der Heilige Gral der Erforschung des Sehvorgangs. Bewegung gehört nach seinen Worten zu den wichtigsten Bildinformationen, die Menschen benutzen, etwa im Straßenverkehr. "Wenn wir die Augen öffnen und umherblicken, erkennen wir in Sekundenbruchteilen, wo wir uns befinden, und wissen, welche Gegenstände uns umgeben. Wir erkennen ein Buch, sehen seine Farbe, wir wissen, wie weit entfernt von uns das Buch steht. Alle diese Informationen sind zwar in den Bildern vorhanden, die unser Gehirn von der Netzhaut empfängt, aber nicht explizit: Um diese Informationen zu erhalten, muss unser Gehirn rechnen."
Bewegungs-Schaltmodell im Fliegenhirn erklärt
Die Rechenvorgänge, die bei der Wahrnehmung einer Bewegung im Gehirn einer Fliege ablaufen, wurden vor mehr als 60 Jahren mit einem Schaltmodell erklärt. "Um die zeitliche Abfolge der Signale in zwei benachbarten Sinneszellen und damit die Bewegungsrichtung zu erkennen, wird das Signal einer Lichtsinneszelle durch einen sog. Tiefpass-Filter zeitlich verzögert und anschließend mit dem nicht verzögerten Signal der Nachbarzelle multipliziert. Wird diese Operation in zwei zueinander spiegelbildlichen Einheiten durchgeführt und deren Signale anschließend voneinander subtrahiert, erhält man am Ausgang eine richtungsselektive Antwort: Bewegt sich das Objekt von links nach rechts, ist die Antwort positiv, bewegt sich das Objekt von rechts nach links, ist die Antwort negativ", erklärt Borst die Bildverarbeitung im Fliegenhirn die entsprechende Schaltzeichnung.
Während das Modell zwar erklären konnte, was im Seh-System der Fliege ablief, musste es durch zahlreiche Experimente ergänzt werden. Schließlich wurden genetische Experimente durchgeführt, um die Nervenzellen zu identifizieren, die die Bewegungsrichtung aus einem Bild extrahieren. Doch auch die Untersuchung der Sehfunktionen von Säugetieren, etwa bei Mäusen machte große Fortschritte. Die Forscher stießen auf gleichartige neuronale Schaltpläne wie bei den Fliegen.
Die erstaunliche Ähnlichkeit trotz einer getrennten Evolutionslinie von 550 Millionen Jahren könnte ein Hinweis darauf sein, dass der für das Bewegungssehen entwickelte neuronale Schaltplan bereits bei einem gemeinsamen Vorgänger existierte. Alternativ können sich die Schaltpläne bei Insekten und Säugetieren unabhängig voneinander entwickelt haben. "Wir gehen davon aus, dass dieser Schaltplan die bestmögliche Berechnung von Bewegungsrichtungen durch Nervenzellen darstellt – mit so wenigen Zellen wie nötig und so energieeffizient wie möglich", erklärt Alexander Borst die Ähnlichkeit.
Bewegungssehforscher ĂĽberstehen Wirren des Zweiten Weltkriegs
Die Idee, dass beim Bewegungssehen zwei benachbarte Sinneszellen beteiligt sind, hatten der Physiker Werner Reichardt [PDF] sowie der Zoologe Bernhard Hassenstein. Beide kannten sich aus Kriegszeiten, als sie beim meteorologischen Funkpeildienst in Potsdam arbeiteten. Reichardt wurde nach dem misslungenen Attentat auf Hitler als Funker Mitglied einer Widerstandsgruppe verhaftet und zum Tode verurteilt, konnte aber fliehen. Nach dem Krieg studierte er Physik in Berlin und wurde dort ein Assistent des Nobelpreisträgers Max von Laue und erforschte Halbleiter.
Im Anschluss eines Forschungsaufenthalts in Kalifornien am Institut des Biophysikers und Nobelpreisträgers Max Delbrück gründete er 1958 zusammen mit Bernhad Hassenstein die Forschungsgruppe Kybernetik am Max-Planck-Institut für Biologie in Tübingen, die das Reichardt-Hassenstein Schaltmodell entwickelt wurde. Nach ihm wurde das "Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften" benannt. Der Mitbegründer der Biokybernetik wurde vor 100 Jahren in Berlin geboren.
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