Zahlen, bitte! Start mit sieben Angestellten: Die Gründung der Rundfunkikone BBC

Vor 100 Jahren gründeten sechs Telegrafie-Firmen die britische BBC. Ein Blick auf die größte und einflussreichste Sendeanstalt der Welt.

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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Vor 100 Jahren gründeten sechs auf drahtlose Telegrafie spezialisierte Firmen die British Broadcasting Company (BBC). Mit sieben Angestellten startete der Sendebetrieb am 14. November 1922. Zum 100. Geburtstag kommt eine Gedenkmünze in den Handel, ein virtuelles Museum wurde schon zum Jahresbeginn geöffnet.

Ein paar Zahlen zum Auftakt: Aktuell wird die Reichweite der BBC auf 308 Millionen Menschen geschätzt. Weltweit hören oder sehen 1 von 16 Erwachsenen die Nachrichten der BBC, in Großbritannien ist es jeder 4. Einwohner, der so vor allem Nachrichten, aber auch Diskussionssendungen und TV-Serien konsumiert.

Das BBC-Logo seit 2021

Zum Geburtstag kommt eine Gedenkmünze von 50 Pence in den Umlauf, auf der das Motto steht, mit dem die BBC startete: "Inform, Educate, Entertain" – Information, Bildung, Unterhaltung. Man könnte als vierten Punkt "keine Werbung!" hinzufügen und als fünften "Überparteilichkeit", auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entspricht.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Vor der Gründung der BBC am 18. Oktober 1922 gab es bereits Rundfunksendungen. So organisierte Lord Northcliffe, der Eigentümer der Daily Mail, im Jahr 1920 Live-Übertragungen aus der Fabrik von "Marconi’s Wireless Telegraph Company" in Chelmsford. Sie war damals der weitaus größte Hersteller von Sendern, Empfängern und Sendeanlagen, hatte ein Monopol auf den Seefunkverkehr und versuchte, nun auch das Land zu erobern. Northcliffe engagierte Nellie Melba, die erste Primadonna der Welt, für 1000 Pfund pro Abend.

Die Regierung untersagte die Konzerte mit einem Erlass und der Begründung, dass Radioübertragungen nur für militärische Zwecke und Regierungsinformationen erlaubt sind, nicht für Unterhaltungssendungen. Das führte zu heftigen Protesten der Funkamateure und Radiobastler, gewissermaßen den Nerds dieser Zeit, die ihre Geräte selbst bauten.

Die Regierung ruderte zurück, wollte aber das Radiohören streng reglementieren, mit Geräten, die auf eine Frequenz eingestellt und verplombt waren. Ebenso sollte es nur eine Firma geben, die Radiosendungen produziert. So schlossen sich Marconi, Vickers, Thompson-Houston, General Electric, Western Electric und die Radio Communication Company zu einem Konsortium namens British Broadcasting Company zusammen, um die begehrte Sendelizenz zu erhalten.

Das Geschäftsmodell der British Broadcasting Company war schlicht. 10 Prozent des Verkaufspreises eines kommerziellen Radiogerätes sollte an die BBC gehen, dazu die Hälfte der Haushalts-Empfangslizenz von zehn Schilling, die dem Wert von 50 Pence der heutigen Gedenkmünze entsprechen.

Daneben ging es in Großbritannien vor allem darum, den US-amerikanischen Wildwuchs zu unterbinden, der als Folge des Booms im Amateurfunkbereich ausgebrochen war. Jugendbücher und Pfadfinderhandbücher veröffentlichten Bauanleitungen für Sender und Empfänger, an Colleges war ab 1919 der Gerätebau Bestandteil des Physikunterrichtes. Nach Angaben der Radiohistorikerin Susan Douglas beschäftigten sich 0,7 % der männlichen weißen Amerikaner um 1920 mit dem Bau von Sendern und Empfängern. Wurden im November 1922 in den USA ganze fünf Radiostationen registriert, so waren es wenige Monate später 450. "Ein derart schnelles Wachstum war nur durch das Potenzial an Funkamateuren möglich, die in der Lage waren, die neuen Sendestationen auch zu betreiben. So bildeten Funkamateure sowohl die erste Hörerschaft als auch das erste Sendepersonal", schreibt der Historiker Patrick Flichy über die USA.

Ähnliches galt auch für Großbritannien und die BBC: Die ersten 177 Angestellten waren samt und sonders Technikbegeisterte, die "funken" wollen. Die arrivierten Journalisten der Fleet Street rümpften die Nase, wenn sie das Wort "Broadcasting" hörten.

König George V. bei der Weihnachtsansprache 1934. Zehn Jahre nach Entstehung der BBC wurde auch die Tradition der Weihnachtsansprache des britischen Oberhaupts eingeführt. Sie jährt sich 2022 zum 90. Mal.

Die soziale Stellung des neuen Mediums Radio änderte sich schlagartig erst 1932, als König George V. die erste Weihnachtsansprache hielt. Sie wurde vom Empire Service der BBC weltweit ausgestrahlt -- unter George V. hatte das britische Empire seine größte Ausdehnung. Noch ein Rekord: Als der britische Premierminister Neville Chamberlain am 3. September 1939 nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen Deutschland den Krieg erklärte, sollen in Großbritannien 30 Millionen Radiogeräte eingeschaltet gewesen sein.

Dass die BBC erfolgreich wurde, ist zwei Männern zu verdanken. Da ist einmal der Cheftechniker Peter Pendleton Eckersley, zuvor Entwicklungsleiter bei Marconi. Eckersley hatte dort den Versuchssender 2MT aufgebaut und erforschte bei der BBC die Sendetechnik, damit der Mittelwellenrundfunk die städtischen Kleinsender ablösen konnte. Erster Direktor der BBC wurde John Reith, ein schottischer Calvinist und Weltkriegsveteran.

John Charles Walsham Reith, 1. Baron Reith (* 20. Juli 1889 in Stonehaven, Schottland; † 16. Juni 1971 in Edinburgh, Schottland)

Reith kam als Ingenieur aus der Waffentechnik und soll sich bei dem Firmenkonsortium auf eine Anzeige hin beworben haben, ohne zu wissen, was "Broadcasting" sein soll. Der Legende nach hielt er es für eine Waffentechnik. Mit seinem Amtsantritt im Dezember 1922 legte er das erwähnte Motto "Inform, Educate, Entertain" fest. Die Rundfunksprecher mussten Krawatte und Anzug tragen, wenn sie die Nachrichten vorlasen. Diese wurden in der Anfangszeit doppelt vorgetragen, einmal im Schnelldurchgang, dann langsamer zum Mitschreiben.

Um die Nachrichtenhoheit lieferte sich Reith einen zähen Kampf mit der Regierung. Die hatte festgelegt, dass die junge BBC nur die Agenturmeldungen vorlesen durfte, die bis 7:00 Uhr in der Frühe eintrafen. So sollte die Tagespresse vor laufend aktualisierten News-Meldungen des Rundfunks geschützt werden.

Mit dem bald anlaufenden Empire Service gewann Reith den Streit: Irgendwo auf der Welt war es immer kurz vor sieben. Für den tief gläubigen Schotten war Werbung übrigens absolut verpönt. "Man stelle sich vor, wir senden die Morgenandacht und danach macht jemand Reklame für ein Sandwich", heißt es in seinen Notizen. Ein Ansager, der bei einer Übertragung erwähnte, dass das Pianokonzert auf einem Steinway-Flügel gespielt wird, wurde gefeuert.

Peter Pendleton Eckersley, (* 6. Januar 1892 in Puebla, Mexiko; † 8. März 1963 in Hammersmith, London)

(Bild: Bain News Service)

Die große Bewährungsprobe für die junge BBC als Company kam mit dem Britischen Generalstreik von 1926. Die Lage im Land war angespannt, die wichtigsten BBC-Mitarbeiter wurden unter die Aufsicht der damals wichtigsten Militärstreitkraft gestellt, der Marine. John Reith verfügte, dass der (katholische) Erzbischof von Westminster im Rundfunk eine Rede halten durfte, in der dieser das Streiken als Sünde bezeichnete. Eine Rede des (anglikanischen) Erzbischofs von Canterbury, der vom Streik als Arbeiterrecht sprach, wurde abgelehnt.

Zuvor hatte Reith die Produktion des Hörspiels "Broadcasting the Barricades" des katholischen Hardliners Ronald Knox genehmigt, dass davon handelte, wie London in Chaos versinkt und zahlreiche Hörerinnen und Hörer verängstige. (Das Stück inspirierte Orson Welles zu seinem "Krieg der Welten".)

Als die Gewerkschaften des Trade Union Congress den Streik abbrachen, erfuhr Reith mittags am 12. Mai 1926 davon, brachte die Nachricht aber erst in den Morgennachrichten des nächsten Tages, zusammen mit den Stellungnahmen des Königs und des Premierministers. "Was die BBC anbelangt, so hoffen wir, dass ihr Vertrauen in unsere Berichterstattung nicht gelitten hat". Später rechtfertigte Rieth sein durchaus parteiisches Vorgehen unter dem Titel Forsan... (lateinisch: Vielleicht...):"Wenn es den Rundfunk zur Zeit der Französischen Revolution gegeben hätte, hätte es keine Französische Revolution gegeben. Revolutionen basieren auf Unwahrheiten und Falschinformationen." Mit dem Versuch, die ganze Wahrheit zu zeigen, habe die BBC beim Generalstreik auf der Seite von Recht und Ordnung gestanden.

Man mag diese Beschönigung verurteilen und mit neueren Erzählungen ergänzen, wie die BBC Labour schneidet und die Tories feiert, die ihr den Etat bis zur totalen Verstümmelung beschneiden wollen. Sicher ist, dass dadurch die damals anstehende Verwandlung der privaten British Broadcast Company zur öffentlich-rechtlichen British Broadcast Corporation erheblich gefördert wurde. Am 1. Januar 1927 startete die echte BBC. In seinem Essay "As I please" schrieb George Orwell: "Selbst in Indien, wo die Bevölkerung so feindlich ist, dass sie keiner britischen Propaganda aufgesessen sind und kaum auf britische Unterhaltungsprogramme reagieren, hören sie die BBC News, weil sie glauben, dass sie der Wahrheit am nächsten kommen."

Wenn die Tardis in der Form einer britischen Polizeizelle vor dem Haus steht, wie hier vor der BBC Television Centre, ist ein Timelord nicht weit: Doctor Who, eine BBC-Science-Fiction-Serie hat im Vereinigten Königreich in etwa die Relevanz wie hierzulande der Tatort. Sie wurde 1963 erstmals ausgestrahlt, und erfreut sich mittlerweile auch in Deutschland steigender Beliebtheit.

Während die BBC solchermaßen "die BBC" wurde, geriet der deutsche Rundfunk in der nationalsozialistischen Herrschaftszeit zur Propagandamaschine schlechthin. Bereits zur ersten öffentlichen Rundfunksendung am 29. Oktober 1923 betonte der Rundfunkkommissar den unpolitischen Charakter des Rundfunks: "Er soll Weltanschauungsfragen, sozialpolitische und wirtschaftspolitische Betrachtungen zur Schonung von Empfindlichkeiten mit großer Vorsicht anfassen. Ja, er muss sie manchmal sogar farblos gestalten und parteipolitische Fragen natürlich ängstlich meiden."

Das sahen die Nationalsozialisten ganz anders. Für Deutsche, die andere Informationen bekommen wollten, wurden Radio Beromünster und besonders der deutsche Service der BBC, der 1939 seinen Dienst aufnahm, zu wichtigen Quellen. Anfang des Zweiten Weltkrieges soll BBC 1 Million deutsche Hörer gehabt haben, am Ende waren es 4 Millionen, die sich über den Zusammenbruch der Diktatur informierten.

Neun Tage, bevor die Nazi-Herrschaft in Deutschland zusammenbrach, erreichten britische Truppen Hamburg und besetzten das intakte, hochmoderne Funkhaus. Noch am Abend desselben Tages ging man auf Sendung: "This is Radio Hamburg, a station of the Allied Military Government.” Die britische Nationalhymne wurde gespielt.

Für die britischen Besetzer war von Anfang an klar, dass in ihrer Zone ein Rundfunksystem nach dem Vorbild der BBC errichtet werden sollte. Der NWDR wurde geschaffen und sollte das Gebiet von Schleswig-Holstein über Niedersachsen bis Nordrhein-Westfalen vom Funkhaus Hamburg aus bespielen. Nur in Bremen und Bremerhaven düdelte ein anderer Sender der US-Armee, der etwas laxer war und den Jazz popularisieren wollte.

Der Leiter des Deutschland Services der BBC, Hugh Carleton Greene, der in Marburg als Germanist promoviert hatte und durch einen direkten Befehl von Hitler ausgewiesen worden war, übernahm die Leitung und Kontrolle des Riesensenders NWDR mit den legendären Worten "Ich bin hier, um mich überflüssig zu machen". Er wollte eine deutsche BBC installieren und dann wieder nach Großbritannien gehen.

Greene scheiterte mit seinem Projekt. Er konnte seine Vorstellung einer BBC in deutscher Sprache nicht durchsetzen. Die wieder existierenden Parteien, allen voran die CDU unter Konrad Adenauer, bestanden auf einer Proporz-Beteiligung an der Ausrichtung des Senders. Aber auch die SPD hatte andere Vorstellungen wie die von den Niederlanden: Dort gehörten ein Sendetag in der Woche allein den Sozialdemokraten und den mit ihnen verbündeten Gewerkschaften. Der Traum war schnell ausgeträumt: Als der NWDR aus der britischen Aufsicht 1948 entlassen wurde, dauerte es nur kurze Zeit, bis der Zusammenschluss zusammenbrach und im Westen der eigenständige WDR entstand.

Das Logo des NWDR - Die Sendeanstalt, aus der später NDR und WDR hervorgingen.

In seinen Memoiren schrieb Carleton Green (der danach lange Jahre leitender Direktor der BBC war) bedauernd: "Vielleicht war ich zu ambitioniert. Vielleicht habe ich die unterschiedlichen deutschen und britischen Traditionen unterschätzt. Aber ich denke, dass meine zwei Jahre in Deutschland nicht ein kompletter Reinfall waren und einem wirklich unabhängigen Rundfunk den Weg gezeigt haben."

Damit lag Carleton Greene richtig: Als Klaus von Bismarck Intendant des WDR wurde, erklärte dieser die BBC zum Vorbild und John Rieth zur Leitfigur des Westdeutschen Rundfunks. Die stoische Art, wie Bismarck seinen WDR in den 70er-Jahren gegen alle Angriffe der CDU/CSU auf den "Rotfunk" verteidigte, gehören zur Erbschaft der BBC.

Das Vorbild für einen unabhängigen Öffentlich Rechtlichen Rundfunk, hat zum 100. Geburtstag ein digitales Museum mit 100 Objekten, 100 Gesichter und 100 Stimmen eingerichtet. Wir gratulieren!

(mawi)