Zurück in die Zukunft

Der neue Enthusiasmus für die bemannte Weltraumfahrt ist nicht hauptsächlich wissenschaftlich begründet. Vielmehr entspringt er politischem Kalkül.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 25 Min.
Von

Zusammengenommen forschen Jim Watzin und Gordon Chin seit mehr als einem halben Jahrhundert für die US-Raumfahrtbehörde NASA. Und der Backstein- Flachbau, in dem sie arbeiten, hat mindestens genauso viele Jahre auf dem Buckel: Das Gebäude auf dem Gelände des Goddard Space Flight Center in Maryland bei Washington sieht so heruntergewirtschaftet aus wie ein Raumfahrtzentrum im ehemaligen Ostblock. Unkraut wuchert aus den Gehsteigen, die Farbe blättert von alten Raketen, Warntafeln sind voller Rechtschreibfehler.

Warum die NASA ausgerechnet hier eines der Nervenzentren ihrer neuen Weltraumambitionen etabliert hat, können sich auch Watzin und Chin nicht so recht erklären. Sicher wissen sie nur, dass es einen neu erwachten Drang in den Weltraum gibt, nicht nur in den USA. „Nach 30 Jahren Abstinenz haben Forscher in aller Welt plötzlich wieder Interesse am Mond“, sagt Chin, „aus einem einzigen Grund: als Zwischenstopp zur Erforschung der Tiefen des Weltalls.“

Das Rennen ist eröffnet – zum zweiten Mal binnen 40 Jahren. Im Vergleich zu den Zeiten des Kalten Krieges hat sich das Teilnehmerfeld allerdings mächtig gewandelt. Der einstige Erzrivale der USA, Russland, ist dieses Mal nur im Verbund mit der europäischen Weltraumbehörde ESA mit im Rennen; Ziel der Kooperation ist ein eigenes landefähiges Raumfahrzeug. Zum neuen Hauptkonkurrenten der Weltraummacht USA dagegen hat sich ein Volk gemausert, dem man noch vor wenigen Jahren nichts dergleichen zugetraut hätte: die Chinesen. Mit dem ersten bemannten Raumflug im Oktober 2003 etablierte sich China als dritte Macht, die aus eigener Kraft Menschen ins All bringen kann. Im kommenden Jahr will die Volksrepublik einen Mondsatelliten und ab 2017 ein Programm für bemannte Mondflüge starten. Ernst zu nehmende Ambitionen im All hat außerdem Japan: Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt will zum wichtigsten Datenlieferanten für alle Mondprogramme in diesem Jahrhundert aufsteigen. Und nicht nur die Besetzung, auch die Spielregeln haben sich bei dieser Neuauflage des Wettlaufs ins All geändert: Diesmal gewinnt nicht, wer eine Fahne in den Mondboden rammt. Diesmal geht es um eine permanente Präsenz auf dem Mond – und um die nächste Etappe: den Mars.

Der neue Enthusiasmus für die bemannte Weltraumfahrt ist nicht hauptsächlich wissenschaftlich begründet. Vielmehr entspringt er politischem Kalkül. Spätestens seit US-Präsident George W. Bush im Wahlkampfjahr 2004 vollmundig eine neue Vision der amerikanischen Raumfahrt angekündigt hat, ist die Stoßrichtung klar: Die Raumfahrt dient nicht nur der Demonstration der eigenen technischen Leistungsfähigkeit, sondern auch der Sicherung strategischer Interessen. Wie weit diese reichen, hat Bush deutlich zu verstehen gegeben, indem er seine Weltraum-Rede unter das Motto „zu Mond, Mars und darüber hinaus“ stellte. Bei ihrer zweiten Eroberung des Mondes wollen die Amerikaner Erfahrungen für eine Langzeitmission zum Mars sammeln. Außerdem soll es eine permanent bemannte Mondstation unter US-Flagge geben – zum Trainieren und Studieren langer All-Aufenthalte, aber wohl auch als psychologisches Signal an den Rest des Universums: die Lufthoheit über den erdnahen Weltraum haben wir. Strategisch gesehen ist für die Amerikaner der Mond also eine Art Brückenkopf – von Weltraumromantik keine Spur.

Kaum anders die Situation in China: Aktuelle inländische Publikationen erklären dort unverhohlen, das ganze Weltraumprogramm diene „der Verbesserung von nationaler Stärke und Prestige“ und „der Aufrechterhaltung nationaler Interessen im All, besonders auf dem Mond“. Diese Aussagen passen zur Geschichte des chinesischen Raumfahrtprogramms und der Rhetorik der Genossen. „Ohne Atombombe, ohne Wasserstoffbombe und ohne Satelliten seit dem Beginn der 60er Jahre würde China nicht Großmacht genannt werden, die die Welt beeinflusst“, stellte der inzwischen verstorbene Architekt der chinesischen Öffnungspolitik Deng Xiaoping 1988 in einer Rede vor Wissenschaftlern in Peking klar. „Diese Dinge reflektieren die Fähigkeiten einer Nation und sind ein Gütesiegel des Wohlstand eines Volkes und eines Landes.“

ERST SONDEN, DANN MENSCHEN

Klotzen, nicht kleckern: Rund 104 Milliarden US-Dollar umfasst Bushs Plan zur Erforschung des Sonnensystems. Die erste 400-Millionen-Dollar-Tranche ist für die Roboter-Erkundung des Mondes im niedrigen Orbit durch eine Sonde vorgesehen. Dafür soll am 15. Oktober 2008 eine Rakete ins All geschossen werden. Der Lunar Reconnaissance Orbiter wird das erste Projekt der NASA zur Erkundung des Mondes seit der Lunar-Prospector-Mission 1999. „Deswegen ist das Projekt mit so hohen Erwartungen verbunden“, sagt NASA-Veteran Watzin, heute Projektleiter der für Oktober 2008 geplanten Mondmission. „Wir werden das Territorium erkunden und damit die fundamentalen Daten einbringen, mit denen Planer für weitere Missionen arbeiten können.“

Bei der Beschreibung der Mission gerät Watzins Chefwissenschaftler Chin, dessen Armbanduhr das Emblem der Raumfahrtbehörde ziert, ins Schwärmen. „Um eine permanente menschliche Präsenz im All auszubauen, ist der Mond eine gute Adresse. Er liegt so nahe und gibt uns dennoch jede Menge wissenschaftliche Rätsel auf.“ Um die zu lösen, hat die NASA ein halbes Dutzend Instrumente ausgewählt, die insgesamt 91 Kilogramm Nutzgewicht an Bord der voraussichtlich 1315 Kilogramm schweren Sonde mit dem Spitznamen „Straw Man“ (Strohmann) ausmachen werden. Die wichtigste Aufgabe lautet, geeignete Landepunkte für die nächste Robotermission und spätere bemannte Missionen sowie eine permanente Basis zu finden. „Die gegenwärtigen Mondkarten haben eine Ungenauigkeit von ein bis drei Kilometern“, sagt Chin, „nur die Landepunkte der Apollo-Missionen sind uns gut bekannt, da dort Laserreflektoren stehen.“ Sie befinden sich allerdings allesamt entlang des Äquators auf der Vorderseite des Mondes. Dieser Streckenabschnitt ist für die Wissenschaftler uninteressant.

Sie wollen die Verhältnisse an den Polen untersuchen. Landepunkte oder eine zukünftige Mondbasis könnten an einem Krater oder Abhang liegen, der zum einen permanentes Sonnenlicht zur Energieerzeugung bietet, andererseits aber Eis oder Mineralien im permanenten Schatten. Diese Ressourcen ließen sich von Maschinen und Menschen ausbeuten – etwa zur Gewinnung von Wasser, Wasserstoff oder gar Sauerstoff aus Titanoxid. NASA-Planer haben bislang rund 50 Landeplätze zur genaueren Inspektion identifiziert. Die hochauflösenden Bilder der drei Kameras von Straw Man, die mehr als 90 Prozent des Datenaufkommens ausmachen werden, sollen dabei helfen, die optimalen Landepunkte zu lokalisieren. Der Roboter-Orbiter hat zwei Festplatten mit je 300 Gigabyte Speicherkapazität an Bord. Während vier der täglich zwölf Umkreisungen ist die Verbindung zur Bodenstation in White Sands, New Mexico, gut genug, um in 45-Minuten-Intervallen insgesamt 600 Gigabit Messergebnisse am Tag zur Erde zu schicken. Nach einem ersten Monat zur Feinjustierung hofft Watzin, werde sein Team nach einem Vierteljahr in der Umlaufbahn die ersten vorläufigen Resultate vorlegen können. Über das Internetportal Planetary Data System will Watzin die Daten anderen Forschern verfügbar machen.

Die Datensammlung ist ein Kampf gegen die Uhr. Da der Orbiter rund die Hälfte seines Gewichts in Form von mehr als einer halben Tonne Treibstoff an Bord hat, wird ihn die Mission Control höchstens ein Jahr lang auf seiner niedrigen Umlaufbahn halten können. „Wenn wir ihm nicht einmal im Monat einen Boost geben, würde er innerhalb von zwei Monaten abstürzen“, sagt Watzin. Nach dem ersten Jahr soll die Robotersonde auf eine höhere, elliptische Umlaufbahn angehoben werden, um Energie zu sparen. In diesem Orbit reicht der Sprit für weitere vier Jahre.

Bis dahin dürfte die Sonde Gesellschaft bekommen: Um 2010 wird eine Robotersonde namens RLEP auf den Mond geschossen, um die Basis für die bemannte Mission zu legen. Weitere zwei Jahre später soll ihr ein neuartiges Crew Exploration Vehicle (CEV) folgen, das in der Erdumlaufbahn Platz für sechs Astronauten bietet und vier von ihnen zum Mond be- fördern kann. Das CEV wird federführend vom Johnson Space Center in Houston entwickelt – jenem NASA-Standort, der für das bald endende Shuttle-Programm und die International Space Station verantwortlich ist. Bis Mitte 2006 will die NASA sich endgültig entscheiden, welchem Entwurf aus der Raumfahrtindustrie sie den Zuschlag gibt: Zwei Vorschläge sind noch im Rennen, veröffentlicht ist jedoch nur der Entwurf von Lockheed-Martin.

APOLLO-PROGRAMM AUF STEROIDEN

Zurzeit orientiert sich die NASA mit dem Design stark an den Missionen aus den 60er und frühen 70er Jahren. Es besteht aus einer kegelförmigen Raumkapsel – dem Kommandomodul, einem so genannten Servicemodul und einem separaten Mondlandegerät. Die Mission startet mit zwei separaten Raketen: Das Service-Modul und der Mondlander werden mit einer unbemannten Schwerlastrakete ins All geschossen, das CEV mit einer weiteren Rakete. Im Erdorbit werden die Module automatisch zusammengekoppelt und fliegen dann zum Mond, wo sie in eine Umlaufbahn einschwenken. Alle vier Astronauten sollen dann mit dem Lander zur Mondoberfläche absteigen, wo sie bis zu einer Woche lang bleiben. Die Landegeräte sollen bei den bemannten Mondmission – ähnlich wie bei Apollo – größtenteils auf dem Mond bleiben: So können sie zur Basis für eine mögliche bemannte Mondstation werden. Und sollte sich herausstellen, dass sich in der Nähe der Pole tatsächlich Wassereis befindet, wollen die Amerikaner daraus später Wasserstoff gewinnen, den sie als Treibstoff einsetzen.

Mit Hilfe der Triebwerke am Servicemodul fliegen die Astronauten jedoch zunächst wieder in die Erdumlaufbahn, um dann schließlich mit der CEV-Kapsel auf der Erde zu landen. Die bemannte Mondmission ist zunächst auf zwei Flüge pro Jahr ausgelegt. Als Trägerraketen für die Raumkapsel und Nutzlasten will die NASA anstelle der Saturn V zwei neue Antriebssysteme verwenden. Sie bestehen aus Fest- und Flüssigtreibstoff- Elementen, die aus dem Shuttle-Programm übernommen werden. Wie bei den Orbiter-Instrumenten versucht die Behörde auch hier, bereits bestehende Komponenten wieder zu verwenden, um Zeit und Geld zu sparen. NASA-Direktor Michael Griffin beschreibt das Konzept deshalb als „Apollo- Programm auf Steroiden“.

Deutlich bescheidener geben sich die Chinesen: Ihnen stehen lediglich umgerechnet etwa 170 Millionen Dollar zur Verfügung. Derzeit ginge es vor allem darum, Erfahrungen zu sammeln für künftige Mondmissionen, erklärt Fu Xiangdong, Direktorin der Verwaltungsabteilung des chinesischen Mondforschungszentrums. „Unser Standpunkt lautet: niedrige Investitionen und hohe Resultate“, sagt Fu, „das ist eine chinesische Tradition.“ Die Chefplanerin will dies nicht durch Dumpinglöhne fürs wissenschaftliche Personal erreichen. „Unsere Wissenschaftler können mit ihren jetzigen Gehältern ein sehr gutes Leben führen. Unser Etat ist niedrig, weil wir für die erste Stufe ausgereifte, vorhandene Technologien nutzen.“

Zum Beispiel die Trägerrakete vom Typ „Langer Marsch- 3A“, Chinas treuestem „Feuerpfeil“, wie die Rakete wörtlich im Chinesischen heißt. Neun von neun Starts sind laut amtlicher Statistik geglückt. Gewöhnlich befördert die Rakete Satelliten in den erdnahen Orbit sowie in geo- und sonnensynchrone Umlaufbahnen. Sie kann 2,6 Tonnen in den geostationären Transfer-Orbit befördern. Die geplante Mondsonde „Chang’e 1“ wiederum baut auf der Plattform des bereits sechsmal gestarteten DFH-3-Satelliten auf.

EINE FEINE ADRESSE

Die chinesischen Offiziellen werden den Start der prestigeträchtigen Operation in einem angemessenen Ambiente verfolgen können: Im Mai 2005 wurde das Hauptquartier des chinesischen Mondprogramms aus grauen Fluren in ein gerade errichtetes, repräsentatives Bürogebäude im Pekinger Stadtteil Haidian verlagert. Designer-Sitzecken, elegante Blumengestecke, Glasfronten, modernste Technik und edle Konferenztische aus fünf Zentimeter dicken Holzplatten prägen die be- legte Etage – noch allerdings schirmen Beamte Wissenschaftler und Labore vor der neugierigen Auslandspresse ab. Die erste Phase des chinesischen Mondprogramms soll im kommenden Jahr mit der Mondumkreisung des Satelliten „Chang’e 1“ – benannt nach der chinesischen Mondgöttin – abgeschlossen werden. Bis 2012 ist die Landung eines Roboter-Rovers geplant, der Bodenproben sammelt. Spätestens 2017 möchten die Wissenschaftler auch die Rückreise sicher meistern. Dann soll nach dem noch inoffiziellen Willen der Regierung der erste Taikonaut (abgeleitet vom chinesischen Wort für Weltall Tai Kong) den Mond betreten.

RESPEKT VOR DEM JAPANER

Auch wenn die aktuelle Höhe des chinesischen Budgets kaum beeindruckt – die selbst gesteckten wissenschaftlichen Ziele für die erste Etappe sind ambitioniert: Der 2350 Kilogramm schwere und 2 mal 1,72 mal 2,2 Meter große Satellit soll dreidimensionale Bilder der Mondoberfläche liefern, 14 Elemente identifizieren können, die obersten Schichten des Mondes analysieren, Helium-3-Vorkommen finden und das Raumklima zwischen Erde und Mond vermessen, um künftige Missionen vorzubereiten. Über die genauen Spezifikationen und das Leistungsvermögen ihrer Geräte hüllen sich die Programm-Manager jedoch in Schweigen.

Das dürfte zum einen damit zu tun haben, dass die Mission nicht nur der Erhebung wissenschaftlicher Daten dient: Noch wichtiger ist den Chinesen die Entwicklung und Ausweitung ihrer Kontrollsysteme. „Der Schlüssel ist das Design des Orbit und die Flugkontrolle“, bestätigt Direktorin Fu. Dazu wird das Tracking-, Telemetrie- und Kontrollsystem erweitert. Derzeit verfügt China nur über zwei 25?Meter große Antennen auf dem Sheshan 30 Kilometer westlich von Shanghai und Nanshan, 70 Kilometer südlich von Urumqi, der Hauptstadt der westlichsten Provinz Xinjiang. Da diese Antennen jedoch nur vier bis sechs Stunden Informationen vom Satelliten empfangen können, errichtet die chinesische Raumfahrtagentur CNSA in der Nähe der Hauptstadt Yunnans, Kunming, eine 40- und nahe Peking eine 50-Meter-Antenne. Die Verschwiegenheit der Programm-Manager dürfte noch einen weiteren Grund haben: Die Chinesen müssen damit rechnen, dass die Qualität ihrer Daten mit denen der geplanten japanischen Mond-Mission nicht mithalten kann. Und diesen Gesichtsverlust will kein chinesischer Offizieller riskieren.

Respekt haben die Chinesen vor allem vor Yoshihisa Takizawa, dem Leiter des zur griechischen Mondgöttin Selene abgekürzten japanischen Mondprojekts Selenological and Engineering Explorer. Unweit von Tokio, in einem gläsernen Neubau der Forschungs-Vorstadt Tsukuba, hat Takizawa sein Forschungslabor errichtet. Für ihn ist Selene die wahre Wegbereiterin: „Unser Projekt gibt der Welt die Basisdaten für die Mondprogramme des 21. Jahrhunderts“, sagt Takizawa selbstbewusst, „Chinas Chang’e ist politisch.“ Weit mitteilsamer als die chinesische Seite zählt Takizawa die geplanten Pioniertaten auf: Schon die Abstimmung von drei Satelliten für ein Projekt hat in dieser Form noch niemand gewagt. Der 2,1 mal 2,1 mal 4,8 Meter große Hauptsatellit trägt die meisten Geräte. Seine zwei Begleiter sind nur 53 Kilogramm schwere, achteckige, antriebslose Zylinder, die rundherum mit Solarzellen bepackt sind und durch einen Spin von zehn Umdrehungen pro Minute in ihrem elliptischen Orbit stabilisiert werden sollen. Der eine ist ein VRAD-Satellit (kurz für Very Long Baseline Interferometry Radiosource) zur Messung des Gravitationsfelds und der Ionosphäre des Mondes. Seine Umlaufbahn schwankt zwischen 100 und 800 Kilometern. Der zweite fungiert in einem Orbit von 100 und 2400 Kilometern als Relay-Satellit. Über ihn bekommen die Forscher auch dann Kontakt zum Hauptorbiter, wenn dieser sich hinter dem Mond und damit eigentlich im Funkschatten befindet.

HAUSHALTSSANIERUNG VOR VISIONEN

Auch der ohne Treibstoff 1,7 Tonnen schwere Selene-Orbiter selbst ist originell. Das Haupttriebwerk mit einer Schubkraft von 500 Newton ist im Antriebsmodul untergebracht. Dieses soll nach einem Jahr im Orbit abgespalten werden und weich auf dem Mond landen – als Test für die Landetechnologie und als zusätzlicher Referenzpunkt für den VRAD-Satelliten. Im Orbiter verbleiben fünf etwa zehn Meter lange Antennen, ein Solarpanel und 13 Instrumente: Röntgen- und Gamma- Strahlen-Spektrometer sollen die Verteilung von Elementen wie Aluminium oder Uran klären, ein Spektral-Profiler und ein Multiband-Imager die von Mineralien. Mit Magnetometer, Plasma-Imager und -Analyzer sowie einem Partikelspektrome- ter werden das magnetische Feld und die Verteilung des Plasmas zwischen Mond und Erde untersucht. Ein weiterer Clou ist der Lunar Radar Sounder, eine 15 Meter lange Antennenkonstruktion aus gekreuzten Dipolen. Aus den Reflexionen ihrer 5- MHz-Radiowellen können die Forscher die geologische Struktur des Mondes bis in fünf Kilometer Tiefe errechnen. Dies könnte wertvolle Hinweise liefern – schließlich will niemand seine Mondstation mitten in ein Mondbebengebiet setzen. Wie ihr chinesisches Gegenstück ist Selene zudem mit Laser- Altimeter und Stereokamera bestückt. Ihre dreidimensionalen Bilder der Mondoberfläche sollen die schärfsten werden, die jemals gemacht wurden: Selenes Auflösung beträgt zehn Meter anstelle der bisher möglichen 200 Meter. Feinere Fotos schoss nur die Apollo-Mission, jedoch nicht in 3-D. „Chinas Stereokamera hat meines Wissens eine Auflösung von 100 Metern“, verrät Takizawa.

Profane Widrigkeiten verhindern jedoch bislang das Abheben des technischen Wunderwerks. Der Starttermin von Selene war ursprünglich 2003 vorgesehen, derzeitiger Planungsstand ist 2007. Ein Grund für die Verzögerung war eine Pannenserie der Trägerrakete HII-A. Mit ihr wollten die perfektionistischen Japaner einen neuen Standard setzen – stärker, besser, effizienter als alle anderen All-Lastesel. Doch erst abgerüstet funktionierte das vermeintliche Prunkstück. Seit Anfang Februar 2005 ist es im Normalbetrieb. Doch das zweite großem Hemmnis bleibt bestehen: Geldnot. Um ihre Pläne umzusetzen, benötigt die japanische Weltraumbehörde Jaxa – ein Zusammenschluss des für Weltraumforschung zuständigen Institute of Space and Astronautical Science (ISAS), des für die Entwicklung neuer Flugzeuge verantwortlichen National Aerospace Laboratory of Japan (NAL) und der für Raketenbau und Internationale Raumstation zuständigen National Space Development Agency of Japan (NASDA) – ein Jahresbudget von 250 bis 280 Milliarden Yen (1,8 bis 2 Milliarden Euro). Bisher knauserte die Regierung jedoch, denn die Haushaltssanierung der am höchsten verschuldeten Industrienation der Welt hatte Vorrang vor der Finanzierung vager Weltraum-Visionen.

„Es ist sehr schwierig für uns, unter diesen Umständen das Projekt fortzusetzen und voranzutreiben“, klagt Selene-Chef Takizawa. Zwar hat er genug Geld für seine 30 fest angestellten Wissenschaftler und dutzende Co-Investigatoren, die die Instrumente entwickeln. Nur kann er die Hersteller des Satelliten- Trios nicht bezahlen. Inzwischen denkt die Jaxa darüber nach, für einige kommerziell interessante Projekte Privatinvestoren ins Boot zu holen, zum Beispiel für die Entwicklung und den Betrieb von Kleinsatelliten oder die Erforschung hitzebeständiger Materialien für Raumschiffe.

Der Raketentechniker a. D. Hiroki Matsuo – vielen gilt er als der japanische Wernher von Braun – vermutet hinter dem buchhalterischen Umgang mit der Krise kulturelle Gründe: „Wenn die USA sich in Schwierigkeiten fühlen, bricht das Land auf, neue Grenzen zu überwinden, und das Volk versammelt sich hinter dem Ziel. Die wahrscheinlichsten Ziele heute sind nun mal Mond und Mars. Die Chinesen haben einen ähnlichen Geist. Japan hat dieses Momentum nicht.“ Aus der Not machen die Japaner immerhin eine Tugend und setzen auf Kooperationen. „Der Größe nach ist Japan nicht wirklich viel versprechend“, weiß Jaxa-Chef Tachikawa. „Die USA sind tatsächlich das einzige Land, das mit der Raumfahrtindustrie Profite macht, und das nur, weil die Rüstungsindustrie Teil des Programms ist.“ Japans Programm ist dagegen auf friedliche Nutzung des Alls festgelegt, von ein paar Spionagesatelliten einmal abgesehen. Durch Teamarbeit mit der ESA oder den Russen will Japan die hohen Anfangsinvestitionen in die bemannte Raumfahrt senken, um dann bis 2025 gänzlich japanische Missionen durchführen zu können.

Geldnot könnte auch die ehemaligen Hauptkonkurrenten der USA, die Russen, zu ungewöhnlichen Allianzen verleiten. „Traditionell haben die Europäer lieber mit den Amerikanern zusammengearbeitet. Aber die Amerikaner haben uns nicht eingeladen, uns an ihrem Transportsystem zu beteiligen“, sagt Dieter Isakeit, Sprecher der Direktion bemannte Raumfahrt der europäischen Raumfahrtagentur ESA. Also verhandelt die ESA mit den Russen seit einigen Jahren über die gemeinsame Entwicklung eines eigenen landefähigen Raumfahrzeuges. Klar ist bereits jetzt, dass der „Klipr“ sechs Personen transportieren soll – das entspricht einer vollständigen ISS-Besatzung – und zehnmal so viel Nutzlast wie die alten Sojus-Kapseln (also 500 statt bisher 50 Kilogramm). Zudem soll die Rückkehrfähigkeit verbessert werden. Das riesige Steppengebiet in Kasachstan, das zur Landung der Sojus- Kapseln vorgesehen ist, steht der russischen Weltraumagentur Roskosmos zwar noch immer zur Verfügung, aber mittlerweile lassen sich die Kasachen die Nutzung des Areals teuer bezahlen. Der Klipr soll daher in einem nur drei mal drei Kilometer großen Areal aufsetzen können. „Damit“, so Isakeit, „könnten wir im Prinzip auch in der Lüneburger Heide lan- den.“ In die zweijährige Studienphase, die jetzt die Entwicklung einleiten soll, müsste die ESA allerdings gut 50 Millionen Euro investieren – Geld, das die Regierungen der Mitgliedsländer der Raumfahrtagentur bislang nicht zur Verfügung stellen.

500 TAGE WARTEN AUF DIE RÜCKFAHRT

Das ficht die Direktion Bemannte Raumfahrt der ESA allerdings nicht an. Sie entwickelt munter weitergehende Pläne für eine bemannte Marsmission: „Die wichtigsten Parameter für die Definition der Trajektorie“, formulieren die ESA-Experten knochentrocken in einer Studie, „sind das Delta-V und die Gesamtdauer der Mission“. Im Klartext: Es gibt einen kurzen Weg zum Mars, aber der erfordert eine hohe Geschwindigkeit und somit exponentiell anwachsende Mengen an Treibstoff. Oder die Astronauten lassen sich deutlich länger Zeit, benötigen dafür aber weniger Treibstoff.

Wegen ihrer geringeren Distanz zur Sonne benötigt die Erde für einen Umlauf 365, der Mars hingegen 687 Tage. Dabei überholt die Erde den Mars etwa alle 26 Monate; die Distanz zwischen Mars und Erde variiert daher erheblich. Wenn der Marsflug die kürzest mögliche Route nehmen soll, sind die Astronauten sechs bis acht Monate unterwegs. Nach ihrer Ankunft müssen sie allerdings relativ lange – zwischen 500 und 600 Tage – auf dem Mars verbringen, bis die Konstellation für den Rückflug wieder hinreichend günstig ist.

Die ersten Forschungsprojekte der NASA für einen solchen Langzeit-Aufenthalt laufen seit Ende der 90er Jahre. Bei einer Durchschnittstemperatur von minus 63 Grad Celsius und einer UV-Strahlung, die um das 800fache über dem Wert auf der Erde liegt, sind etwa die bislang gebräuchlichen Raumanzüge zu schwer und unhandlich. Auf der kanadischen Insel Devon testen die Amerikaner seit 2003 deshalb neue Schutzkleidung und ein mit Windenergie versorgtes Treibhaus, das autonom Pflanzen bis zur Ernte heranreifen lässt.

Auch beim bisher diskutierten Design der neuen USRaumfahrzeuge ist die Schnittstelle zur Mars-Mission erkennbar: Das Service-Modul des CEV soll beispielsweise mit einem druckversorgten Sauerstoff-Methan-Triebwerk ausgestattet werden. Diese Mischung gilt zwar als nicht allzu effizienter Treibstoff, aber die NASA plant, dass die Astronauten aus mitgebrachtem Wasserstoff, dem Kohlendioxid der Marsatmosphäre und elektrischer Energie Methan und Wasser erzeugen, um für den Rückflug wieder aufzutanken. Zudem sehen die Pläne der NASA eine weitere Ausdifferenzierung der Module vor. So soll ein verändertes Kommandomodul für die Landung auf dem Mars genauso geplant werden wie eine reine Frachteinheit für den Transport von Bauteilen in die Erdumlaufbahn. „Mit dem CEV“, verkündete NASAChef Griffin stolz auf einer Pressekonferenz im September, „können wir überall hingehen.“ Davon sind längst nicht alle Experten überzeugt. „Ein Flug zum Mars ist sowohl mit dem CEV als auch mit dem Klipr ausgeschlossen“, sagt Michael Khan, Missionsanalytiker bei der ESA. „Weder das Lebenserhaltungssystem noch die Lebensdauer der Komponenten noch die Abschirmung lassen so etwas zu, ganz zu schweigen von den psychologischen Schwierigkeiten, die bei einem mehrmonatigen Aufenthalt in so einem kleinen Gefährt auftreten würden.“

Auch der Nutzen des CEV beim Zusammenbau eines größeren Raumschiffs im Orbit beschränkt sich laut Khan darauf, Personal für die Montage hinauf- und hinunterzubefördern: „Weder die Nutzlastkapazität noch die Ausstattung ist für einen weitergehenden Einsatz ausgelegt.“ Und selbst den Nutzen einer permanent bemannten Mondbasis als Vorbereitung für bemannte Marsmissionen bezweifelt Khan: Wenig von dem, was auf dem Mars benötigt werde, tauge schon auf dem Mond. „Die Abwesenheit einer Atmosphäre, die Zusammensetzung und Härte des lunaren Regolith, der Mangel an Wassereis, die Länge der Tage und die daraus resultierenden extremen thermischen Verhältnisse, die relative Nähe zur Erde und die tägliche Möglichkeit zur Rückkehr, all das stellt sich beim Mars vollkommen anders dar“, sagt der Analytiker. „Ein Landesystem, das auf dem Mars funktioniert, wäre auf dem Mond nutzlos und umgekehrt. Die thermischen Verhältnisse auf dem Mars sind viel weniger extrem, dafür aber hat man dort Probleme mit Staubstürmen und Wind.“

SHOW STATT STRATEGIE?

Vielleicht hat ja einer der schärfsten Kritiker der US-Pläne, der Physiker Robert Park von der Universität Maryland, tatsächlich Recht. In einem Gastbeitrag für die „New York Times“ urteilte er kürzlich: „Die Ära menschlicher Exploration im Weltraum ist vorbei. Die Kosten sind zu hoch, und der wissenschaftliche Ertrag ist zu niedrig.“ Das Festhalten an bemannten Missionen hat einen anderen Grund, vermutet Park: „Politiker wissen, dass Amerikas Öffentlichkeit Fortschritte in der Raumfahrt mit menschlichen Astronauten gleichsetzt.“ Also alles nur eine große Show statt seriöser Strategie? Man könnte argumentieren, dass diese Unterscheidung letztlich keine Rolle spielt: „Egal, ob man auf den Mond fliegt oder auf den Mars oder ein U-Boot in eine Tiefe von zehn Kilometern schickt: Wenn die besten Köpfe vieler Nationen über Jahre hinweg an einem ehrgeizigen Projekt arbeiten, dann bringt das auf jeden Fall einen technologischen Schub“, sagt ESA-Sprecher Isakeit. In diesem Sinne: Gute Reise! (wst)