Corona: Die (Ohn-)Macht der Zahlen

Seite 2: Vorbild England

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Wie so eine Studie richtig aussehen müsste, führt uns England und das Imperial College in London schon seit eineinhalb Jahren vor. Dort werden regelmäßig statistisch repräsentative Echtzeitdaten für England (also nicht für ganz Großbritannien) erhoben: REACT-1, Real-time Assessment of Community Transmission. Seit Mai 2020, schreibt man monatlich bis zu 860.000 (!) englische Bürger an, von denen allerdings im Schnitt nur 20 Prozent (leider mit deutlich abnehmender Tendenz) ihre Bereitschaft erklärten, an dem Test teilzunehmen. Diese bekommen ein PCR-Testkit zugeschickt, und die zumeist mehr als 100.000 Stäbchen wurden anfangs abgeholt und gekühlt zu den Laboren transportiert. Inzwischen hat sich gezeigt, dass ein normaler Transport per Post keine schlechteren Ergebnisse liefert. Parallel dazu hatte man ein zweites Programm namens REACT -2 aufgelegt, das bis zu 200.000 Selbsttests monatlich verschickte. Die letzte REACT-2-Runde war aber schon im Juni 2021

Am 4. November hat das Imperial College die vorläufigen Ergebnisse von REACT-1, Runde 15a mit 67.000 Proben, die vom 19. bis 29. Oktober ausgewertet wurden, veröffentlicht – nur wenige Tage nach Ende der Messperiode, davon kann man hierzulande nur träumen. Mit solchen frühzeitig ermittelten, belastbaren Zahlen könnten die Politiker sehr zeitnah reagieren. Das ist wohl auch dringend nötig, denn die Studie ergab dramatische Werte. Denn im Schnitt war jeder 58. Engländer infiziert, so hoch lag der Wert noch nie. Darüber hinaus gibts noch deutlich krassere Werte, je nach Wohnort, Geschlecht und so weiter, etwa 1:35 in Southwest. Besonders schlimm traf es die Kinder: Jedes 17. Schulkind (sowohl bei den 5-12-Jährigen, als auch bei den 13-18-Jährigen) war infiziert, mit anderen Worten, in jeder Schulklasse im Primärbereich haben im Schnitt 1,5 Kinder "Corona".

Rechnet man die Prävalenzwerte über 11 Tage grob auf die übliche 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 um, so kommt man auf 1100 für alle bzw. 3700 für die Kinder. Die veröffentlichte Sieben-Tage-Inzidenz von England lag am 24. Oktober bei ihrem aktuellen Höchstwert von 497, fällt seitdem wieder (362 am 12. November). Das ergibt eine Dunkelziffer von 2,2

Dank der zusätzlich erhobenen Daten kann man diverse weitere Schlüsse ziehen, etwa weitere Gründe für die hohe Infektionsrate bei Kindern ausmachen. Zum Beispiel die Haushaltsgröße. Im Single-Haushalt ist das Infektionsrisiko viermal geringer als in Haushalten mit fünf oder sechs Personen und Schulkinder leben nun mal üblicherweise nicht in Single-Haushalten. Hatte man Kontakt zu einer infizierten Person, so stieg das Risiko um den Faktor 12 und so weiter.

Hochinteressant sind auch die in Runde 14 vom September angegebenen Zahlen zu den Impfdurchbrüchen: bis 3 Monate nach der zweiten Impfung waren 0,35 Prozent infiziert, zwischen 3 und 6 Monaten dann schon 0,55 Prozent: ein klares Signal für eine frühe Boosterimpfung auch für jüngere Leute. Angesichts dieser Zahlen muss man darüber nachdenken, die Zeit bis zur Boosterimpfung noch zu verkürzen.

In der vorläufigen Auswertung der Runde15a fehlen solche Zahlen noch, ebenso wie ein Vergleich der Prävalenzen von Ungeimpften und Geimpften. Wie Mitautorin Prof. Christl Donelly jedoch heise online mitteilte, will man diese im "full report" nachtragen. Bei den Ergebnissen im August und September waren die Prävalenzen der Ungeimpften jedenfalls – ähnlich wie bei den RKI-Werten – dreimal so hoch wie die der vollständig Geimpften.

Leider kann man die englischen Werte nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen, man müsste hier schon selber tätig werden. Solche Werte wären ausgesprochen hilfreich für die Beurteilung der tatsächlichen Lage, sonst fliegt man weiter im Blindflug. Die Koalitionsverhandlungen laufen ja noch, vielleicht sollte man dort ein vom Gesundheitsministerium finanziertes Programm à la REACT-1 beschließen. Dann könnte man auch gleich das RKI anweisen, in die täglich veröffentlichen Fallzahlen nicht mehr alle Korrekturen und Nachmeldungen hineinzurechnen, sondern nur noch solche, die sich auf die letzten 7 Meldetage beziehen.

Bislang rechnet das RKI nämlich Korrekturen und Nachträge zum Teil auch aus "uralter Zeit" in die aktuellen Fallzahlen hinein, was zur Beurteilung der aktuellen Lage völliger Blödsinn ist und nur für Intransparenz sorgt. Durch die Beschränkung von Korrekturen und Nachträge auf die letzten sieben Meldetage wären die veröffentlichten Inzidenzen auch transparent für jedermann nachzuvollziehen, einfach aus der Fallsumme der letzten 7 Tage geteilt durch 7.

An dem langen per § 11 des Infektionsschutzgesetzes erlaubten Verzug der Übermittlung von den Landkreisen über die Landesgesundheitsämter bis hin zum RKI kann das RKI nichts, hier wäre gegebenenfalls eine Gesetzesänderung sinnvoll, die bei aktuell grassierenden Pandemien schnellere Übermittlungen einfordert.

So verbleibt also als Forderung:

  • Vernünftige repräsentative Ermittlung der Fallzahlen à la REACT in England
  • Vernünftige Angabe der aktuellen Fallzahlen durchs RKI
  • Keine 2G-Scheinsicherheit: Mindestens die AHA-Regeln müssen weiterhin gelten, empfehlenswert wären auch regelmäßige Tests von Geimpften/Genesenen
  • Überprüfung der "Karenzzeit" bis zum Booster – nach den englischen Zahlen wären vielleicht schon drei Monate sinnvoll

(bme)