Der Schiri hat das letzte Wort – aber bitte mit aller Technik, die da ist

Wenn Tor und Abseits durch Technik festgestellt werden können, muss das auch für strafbares Handspiel gelten, meint Nico Ernst.

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Schiedsrichter mit Fragezeichen

(Bild: Erzeugt mit Dall-E und bearbeitet durch heise online)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Nico Ernst
Inhaltsverzeichnis

"Angeschossen!", hörte ich früher bei Fußball spielenden Kindern oft als Erklärung, wenn ein Handspiel vermeintlich unabsichtlich erfolgte, ein Tor verhindert wurde, und man für den Spaß am Spiel lieber weiterspielen ließ. So kann auch die umstrittene Szene deuten, als im Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft zwischen Deutschland und Spanien der spanische Spieler Marc Cucurella den Ball im Strafraum mit der Hand berührte. Es gab keinen Elfmeter, auch keine Überprüfung durch den Videoschiedsrichter, der Unparteiische auf dem Platz ließ weiterspielen.

Nur sehen wir bei einer Europameisterschaft eben nicht Kinder, sondern in der Regel millionenschwere Profis auf dem Platz. Die Jahre, oft Jahrzehnte, jeden Aspekt des Spiels trainiert haben. Deren Körperbeherrschung und Athletik ist so gut, dass man bei jedem Foul oder Handspiel schlicht Absicht unterstellen muss. Rigoros geahndet, auch bei dieser EM, wird unter anderem der Tritt auf den Fuß des Gegenspielers beim Kampf um den Ball.

Ob ein Foul absichtlich oder unabsichtlich war, spielt dabei schon lange keine Rolle mehr. Foul ist Foul. Allenfalls die Art der Bestrafung, etwa gelbe Karte oder doch nur Freistoß, kann eine Ermessensfrage sein. Das ist der menschliche Faktor des Schiedsrichters, und ein guter Referee bezieht dabei auch vorherige Aktionen eines Spielers, die Wichtigkeit der Partie und den allgemeinen Spielverlauf ein. Revanchefouls beispielsweise sind immer eine besonders dumme Idee, weil leicht zu durchschauen.

Diese Rolle soll der Schiedsrichter auch in Zukunft behalten, trotz Chip im Ball, Torlinientechnik und dem Video Assistant Referee (VAR) und all dem anderen, was in einem Stadion heute Fehlentscheidungen verringern soll. Ich frage mich, warum es ausgerechnet beim Handspiel keine klar geregelte technische Unterstützung gibt. Bundestrainer Julian Nagelsmann hatte da, direkt nach dem Ausscheiden gegen Spanien, eine gute Idee: Warum nicht die Flugbahn des Balles ohne die Hand des Gegenspielers berechnen und dann entscheiden: Wäre das ein Tor gewesen? Oder war das Handspiel für die Torchance unerheblich?

Wenn man das etwas weiterdenkt: Strafbares Handspiel könnte dann vorliegen, wenn die Hand am Ball das Tor verhindert hat. Und eine lässliche Sünde ist es nur dann, wenn die Spielsituation durch das Handspiel nicht wesentlich zum Nachteil der angreifenden Mannschaft verändert wurde. Das darf dann gerne wieder im Ermessen des Schiedsrichters liegen.

Bei anderen Regelverstößen gibt es diese Klarheit bereits, zum Beispiel beim Tor – Wembley ist mit heutiger Technik unmöglich – und auch beim Abseits. Es ist natürlich bitter, wenn Dänemark beim Achtelfinale gegen Deutschland wegen einer Fußspitze im Abseits ein Tor aberkannt bekommt. Nur kennt die Regel da keinen Ermessensspielraum: Ist ein Körperteil des Spielers im Abseits, steht der ganze Sportler im Abseits. Wo wollte man da auch die Grenze ziehen? Bei 5 Zentimetern? Und gilt das dann, am Beispiel der serbischen Mannschaft, für Andrija Zivkovic mit 1,69 Metern Körpergröße und Vanja Milinković-Savić mit seinen 2,02 Metern gleichermaßen? Abseits ist Abseits. Und ein Handspiel, das ein Tor verhindert, muss auch eindeutig geregelt sein.

Was hat man da von allen Verbänden nicht schon seit Jahren versucht herumzuregulieren: "unnatürliche Bewegung", "vergrößerte Körperfläche", "die Hand geht zum Ball", all das führte nur dazu, dass die Spieler mit auf dem Rücken verschränkten Armen im Strafraum herumhüpfen. Oder die Arme locker hängen lassen, wie eben der Spanier Marc Cucurella. Größere Körperfläche als mit den Greifwerkzeugen am Steiß, klar, aber eben auch ganz vorteilhaft, wenn der Ball da vorbeikommt. Und laut der aktuellen Auslegung der Handspielregel der UEFA kein strafbares Handspiel.

Denn das ist der Kern: Das war, wie schon vor dem Turnier klar war, eben kein Elfmeter. Roberto Rosetti, Schiedsrichter-Chef der UEFA hatte im Vorfeld der EM eine ähnliche Situation wie bei Deutschland gegen Spanien gezeigt, wo der verteidigende Spieler aus kurzer Distanz im Strafraum den Ball an die Hand geschossen bekam: "Das ist niemals ein Strafstoß", sagte er. Daran hat sich offenbar auch der Schiedsrichter im für Spanien siegreichen Viertelfinale orientiert. Auch wenn Cucurella da den Ball klar kommen sah, worüber fröhlich diskutiert wird.

"Weil man als Schiedsrichter nicht in den Kopf des Spielers schauen kann, müssen andere Hilfskriterien herangezogen werden", sagte der frühere DFB- und FIFA-Schiedsrichter Manuel Gräfe nach der Partie. Dem kann man sich nur anschließen: Wenn die Verbände es nicht gebacken bekommen, die ewig uneindeutige Handspielregel eindeutig zu machen, müssen andere Mittel her. Technik kann da helfen. Sie sollte selbstverständlich nicht die Entscheidung allein treffen, denn, siehe oben, der menschliche Faktor auch des Schiedsrichters auf dem Platz macht einen Teil des Sports aus.

Bei all dem geht es um Fairness. Nicht allein der aktuelle Spielstand bestimmt die Psychologie eines sportlichen Wettkampfs, sondern auch die Gewissheit, dass die Regeln immer für alle gleich sind. Der Fußball ist längst so fair, dass ein Tor ein Tor und Abseits Abseits ist. Warum nicht endlich auch beim Handspiel klare Verhältnisse schaffen?

Und, abschließend: Natürlich kann sich nicht jeder Verein, jede kleinere Liga die Technik dafür leisten. Das war schon immer so, "den Fußball" gab es nicht mehr, seit die einen die besseren Schuhe oder den ebeneren Platz als die anderen hatten. Bei den nationalen Ligen, EM- und WM-Turnieren sollte aber insbesondere das vermaledeite Handspiel technisch besser geklärt werden. Das letzte Wort hat dann der Schiedsrichter, so wie es immer war, so soll es bleiben. Und das Geunke, dass "KI den Schiri ersetzen soll" ist nichts anderes als der reflexhafte Schrei: "Angeschossen!" Aber das gilt im Profisport eben nicht.

(nie)