Erste Analyse zur Apple Vision Pro: Die Entgegenständlichung des Displays

Apple versucht mit der Vision-Pro-Brille wieder die Punkte zu verbinden. Weniger das Ob, eher das Wann ist der knifflige Punkt, findet Malte Kirchner.

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Nach der Keynote im Apple Park konnten Medienvertreter sich das erste Apple-Headset im Steve Jobs Theater schon einmal ansehen.

(Bild: mki / heise online)

Lesezeit: 7 Min.
Inhaltsverzeichnis

Wer Apple seit Jahren verfolgt, weiß: Hardware ist nur die halbe Miete. Während über die Spezifikationen des ersten Mixed-Reality-Headsets von Apple, das am Montag vorgestellt wurde, schon einiges durchgesickert war, blieb die wichtigste Frage im Vorfeld unbeantwortet: Wofür braucht man das? Oder mehr noch: Braucht man das überhaupt? Für jene Anwendungen, wie sie Mitbewerber wie Meta für ihre Headsets schon umgesetzt haben, also vor allem Unterhaltung mit einem bisschen (eher merkwürdiger) Produktivität? Oder hat Apple einmal mehr die entscheidende Idee, die einer Produktkategorie voller Potenzial endlich auf die Sprünge hilft? Connecting the dots – das Verbinden aller wichtigen Punkte – wie es in Marketingvideos in den vergangenen Jahren immer wieder beschworen wurde. Und Apple-Chef Tim Cook stimmte die versammelten Gäste aus aller Welt am Montagabend deutscher Zeit im Apple Park auf einen historischen Tag ein.

Eine Analyse von Malte Kirchner

Malte Kirchner ist seit 2022 Redakteur bei heise online. Neben der Technik selbst beschäftigt ihn die Frage, wie diese die Gesellschaft verändert. Sein besonderes Augenmerk gilt Neuigkeiten aus dem Hause Apple. Daneben befasst er sich mit Entwicklung und Podcasten.

An der Frage des Use Case für die Brille biss sich die Gerüchteküche im Vorfeld die Zähne aus. Softwaregeheimnisse vermag der iPhone-Hersteller besser zu schützen als Hardware-Interna. Gleichwohl kann auch sicher geglaubte Hardware oft mal in die Irre führen: Auf einen Apple-Fernseher und das Apple Car warten wir bis heute. Und beim sicher geglaubten Namen, Reality Pro und xrOS als Betriebssystem, waren die Gerüchteköche einmal mehr reingefallen. Stattdessen heißt das Produkt Vision Pro und das Betriebssystem visionOS.

Seit Montag, als Apple zum Auftakt der Entwicklerkonferenz WWDC endlich den Vorhang aufzog, wissen wir endlich Details: Apple sieht sein Vision Pro, das Anfang 2024 zunächst in den USA erscheinen soll, zuallererst als eine Art Ersatz des Bildschirms – oder besser gesagt: das Entgegenständlichen der Bildschirmanzeige. Apps können in den gesamten Raum gezaubert werden. In der Darstellung der App-Fenster gibt sich der iPhone-Hersteller erstaunlich konservativ. Statt optischem Firlefanz lautete die Botschaft, dass das erste Mixed-Reality-Headset für ernsthafte Anwendungen infrage kommt. Oder für ein raumfüllendes Unterhaltungserlebnis. 3D-Objekte, die im Raum schweben, wurden hingegen erstaunlich wenig gezeigt. Der Begriff des Metaversums wird bei Apple ohnehin kritisch gesehen.

Zumindest bei den Zuschauern der vorab aufgezeichneten Keynote im Apple Park konnte Apples Ansatz, die Punkte zu verbinden, durchaus überzeugen. So bleibt als erste Zwischenbilanz festzuhalten, dass nicht mehr unbedingt das Ob eines solchen räumlichen Computers infrage gestellt wird. Was aber als Frage offen bleibt, ist das Wann. Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, hieß es von Ex-Kanzler Helmut Schmidt einst. Mit seinem Headset verwirklicht Apple hingegen eine seit mindestens 2015 verfolgte Idee – und das auf den ersten Blick überzeugend.

Wie gewaltig die Produktneuvorstellung eines Mixed-Reality-Headsets von Apple zu gewichten ist, hängt davon ab, wie man vorherige neue Produkte einstuft. Wer Apple Watch und AirPods eher als Zubehör abtut, die iPhone, iPad und Mac bloß ergänzen, der landet schnell beim iPad im Jahr 2010, das als letzte wirklich große neue Kategorie in die IT-Geschichtsbücher eingeht. Apples Einstieg in die Mixed Reality – die der Konzern übrigens etwas verkompliziert Spatial Computing (räumlicher Computer) nennt – ist eine große Sache, egal, wie dieses Wagnis ausgeht. Und die Größe dieses Unterfangens ist auch daran zu ermessen, dass Apple alleine dieses Gerät nicht zum Erfolg führen kann. Die Entwickler spielen sicherlich eine große Rolle. Sie müssen das neue Ökosystem mit Leben füllen. Die Aufbruchstimmung im Apple Park, wo neben Medienvertretern eine Anzahl von Developern zugegen war, ließ sich förmlich greifen. Ob die Begeisterungswelle über Cupertino hinausschwappt, ist jetzt die spannende Frage der nächsten Wochen und Monate. All das erinnert ein wenig an das iPhone, dessen Vorstellung eine sechsmonatige Wartezeit folgte. Nur musste Apple damals kein komplettes Ökosystem befeuern, es reichten die paar Apps, die das Smartphone hatte.

Gründe zur Skepsis gibt es: Trotz der Projektion der Augen des Trägers ins Außendisplay kann man es sich im Moment noch schwer vorstellen, dass ein Familienvater während eines Kindergeburtstages die Brille trägt und damit 3D-Fotos knipst. Es wirkt futuristisch bis ins Uncanny Valley, wenn die Vision Pro virtuelle Augen aufs Außendisplay zaubert. Oder ist es nur eine Frage der Gewöhnung? An dem allgegenwärtigen Smartphone nimmt die Gesellschaft auch keinen Anstoß mehr, im Gegenteil, es fühlt sich merkwürdig an, wenn es nicht von 98 Prozent der U-Bahn-Fahrer verwendet wird. Der Akku der Vision Pro, der separat am Kabel hängt, ist für Apple hingegen eine ungewohnt pragmatische Entscheidung – viele werden sich vermutlich Zweitakkus kaufen, da eine Ladung nur zwei Stunden am Stück hält, oder ganz verkabelt bleiben. Der Preis der Vision Pro ist mit 3500 US-Dollar gesalzen – höher sogar als die 3000 Dollar, die im Vorfeld vermutet wurden. Für Deutschland wäre nach den Preisen der letzten Jahre sogar 4200 bis 4500 Euro nicht unrealistisch.

Apple betont, das sei alles erst der Anfang. Vermutlich sind längst Weiterentwicklungen in der Pipeline, die all diese negativen Punkte aufgreifen und verbessern. Und die Vision einer echten Computerbrille – sei es in fünf oder zehn Jahren – bleibt erhalten. Dennoch ist die Frage des Timings knifflig. Wer zu spät kommt, kann von anderen überholt werden, obwohl das angesichts des Zustandes des Mixed-Reality-Marktes aktuell schwerlich zu erwarten ist. Ein verfrühter Start könnte hingegen Vertrauen in diese potenzialreiche Technik verspielen. Apple wird hier im Vorfeld sicher ausgiebig Pro und Contra abgewogen haben. Risikobehaftet bleibt die Entscheidung dennoch. Dass die Vision Pro das leistet, was Apples Video zeigt, müssen ausführliche Tests natürlich noch zeigen.

Und übrigens, neue Betriebssystem-Versionen gab es ja auch noch auf der WWDC 2023. Diese drohen angesichts des Hypes um das Headset in der öffentlichen Wahrnehmung fast in den Hintergrund zu geraten. Einmal mehr werden in iOS 17, iPadOS 17 und macOS Sonoma viele Verbesserungen im Detail vorgenommen. Ein durchaus andersartiges Erlebnis dürfte watchOS 10 werden, das Widgets wiederbelebt. Apple scheint hier aber maßvoll umgestaltet zu haben.

Am Ende verließen einige Gäste im Apple Park – so war stichprobenartig zu hören – die Vorstellung inspiriert, aber durchaus auch etwas ratlos, wie sie diesen Computer der Zukunft finden sollen. Es wehte der Hauch des allerersten iPhones durch den Raum, 16 Jahre nach seiner Vorstellung. Was aber außer Frage steht, ist, dass dies zweifellos die spannendste Keynote seit Jahren war und Apple hier alles andere als auf Nummer sicher geht. Insofern hatte Tim Cook nicht zu viel versprochen: Dieser Tag ist ein Fall für die Geschichtsbücher.

(mki)