"Furchtlose Monster"

Der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux über die Erforschung des menschlichen Gedächtnisses und Ansätze, Erinnerungen zu manipulieren.

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Von
  • Brian Bergstein

Der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux über die Erforschung des menschlichen Gedächtnisses und Ansätze, Erinnerungen zu manipulieren.

Für die Erforschung des menschlichen Gedächtnisses ist ein goldenes Zeitalter angebrochen. Wissenschaftler experimentieren mit Laborratten, um ihre Erinnerungen zu manipulieren, andere suchen nach Wegen, das Gedächtnis zu verbessern. Das klingt für Laien mitunter unheimlich, doch könnten diese Studien am Ende neue Wege aufzeigen, um Demenz, Ängste, Depressionen, Suchtverhalten oder das das Post-traumatische Stress-Syndrom (PTSD) zu lindern.

Möglich ist diese Forschung vor allem, weil Neurowissenschaftler erkannt haben, dass das menschliche Gehirn viel plastischer ist als früher angenommen. Lange Zeit glaubte man, Erinnerung funktioniere so, als ob ein Foto etwa eines lange zurückliegenden glücklichen Sommertags aus der Kindheit hervorgekramt, kurz gezeigt und wieder in eine Schublade gelegt wird. Erinnerungen wurden als statisch, als „konsolidiert“, angesehen. Inzwischen wird immer deutlicher, dass das Gegenteil der Fall ist: Jedes Mal, wenn wir uns an etwas erinnern, erzeugt das Gehirn das Bild neu, es „rekonsolidiert“ es. Jede Einnerung an den Sommertag von einst ist nur eine Version des letzten Aufrufs im Gedächtnis.

Diese Erkenntnis hat erstaunliche Konsequenzen. Das Rekonsolidierungsprozess kann Gedächtnisinhalte und die mit ihnen verbundenen Gefühle ändern. Wichtige Arbeiten dazu hat der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux geleistet. Seit den 1970ern untersucht er, wie das Gehirn Gefühle hervorbringt. Seit einigen Jahren macht er mit seinen Kollegen an der New York University unter anderem Experimente, in denen Probanden sichunter dem Einfluss eines Medikaments gegen Angstzustände an traumatische Erfahrungen erinnern sollen. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, ob die mit der Erinnerung verbundenen negativen Gefühle dadurch abgeschwächt würden. Sollte das funktionieren, würden sich damit Möglichkeiten eröffnen, das Gedächtnis umzuformen. Technology Review sprach mit LeDoux über den Stand der Forschung.

Technology Review: Menschen mit einer Pille dabei zu helfen, unangenehme Erinnerungen zu verarbeiten, klingt nach einer eleganten Therapie gegen PTSD und andere Störungen. Wie weit ist die Forschung hier inzwischen?

Joseph LeDoux: Die Idee ist nach wie vor realistisch. Wir wissen aber noch nicht, welches Medikament diesen Trick bewirken kann.

TR: Was spricht gegen Propranolol, das in verschiedenen Experimenten eingesetzt wurde?

LeDoux: Wir wissen, dass es bei Ratten sehr gut wirkt. Bei Menschen gab es ein paar erfolgreiche Versuche, aber ist wohl keine besonders stabile Lösung.

TR: Wie sind die Aussichten auf eine besseres Gedächtnis für Demenz-Patienten – oder auch jeden von uns?

LeDoux: Die Frage, die sich bei Erinnerungslücken immer stellt, ist: Besteht das Problem darin, dass man vorhandene Erinnerungen nur nicht zurückholen kann – oder ist die Erinnerung gar nicht mehr vorhanden? Wir haben auf jeden Fall Schwierigkeiten mit dem Zurückholen. Man kann sich an eine bestimmte Sache nicht genau erinnern, weiß aber, dass da noch etwas ist, und zwei Stunden später ist die Erinnerung plötzlich da. Es gibt also Dinge im Gedächtnis, die wir nicht einfach so zurückholen können. Darin, glaube ich, liegt auch die Hoffnung, dass man etwas unternehmen könnte, um den Prozess des Zurückholens zu erleichtern.

TR: Was könnte das sein?

LeDoux: Die einfachste Idee wäre, dass es sich um ein Problem niedriger Erregung im Gehirn handelt. Wir wissen, dass emotional aufregende Situationen besser im Gedächtnis bleiben als alltägliche. Das liegt zu einem erheblichen Teil daran, dass in solchen Situationen sogenannte Neuromodulatoren ausgeschüttet werden, und die verstärken die Speicherung von Erinnerungen. Das Gehirn ist dann wacher und aufmerksamer. Seine Speichen drehen sich gewissermaßen, sein Getriebe ist geölt.

TR: Könnte man Gedächtnisvitamine entdecken, die denselben Schub auslösen?

LeDoux: Die Wirkung von Neuromodulatoren lässt sich mit Medikamenten nachahmen. Oder sie stellen eine Information, an die sie sich erinnern wollen, in einen wichtigen Kontext. Anders gesagt: Geben Sie der Erinnerung Bedeutung, indem sie sie positiv oder negativ aufladen, oder indem sie etwas tun, was die Erregung des Gehirns steigert – sportliche Übungen zum Beispiel.

TR: Wäre auch eine Gedächtnisprothese möglich? Also etwas, das ins Gehirn eingesetzt wird, um verlorene Erinnerungen etwa bei Demenz-Patienten wiederherzustellen?

LeDoux: Die DARPA [die Forschungsagentur des US- Verteidigungsministeriums] lässt offenbar unter Volldampf solche Technologien erforschen. Sie plant, Chips ins Gehirn einzusetzen. Die wären wie Prothesen – anstatt, dass man den Arm bewegt, repariert man Erinnerungen. Ich habe aber keine Idee, wie sie das erreichen will.

TR: Wir wissen also noch nicht, wie wir dahinkommen?

LeDoux: Ich weiß es nicht. Das Gedächtnis befindet sich zum einen nicht an einer bestimmten Stelle im Gehirn. Es ist wahrscheinlich über viele Gehirnareale verteilt, über Millionen von Synapsen. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, wie man es rekonfigurieren, ja reparieren will. Ich weiß nicht, wie die richtigen Verbindungsmuster zu regenerieren wären. Denkbar wäre aber, die Fähigkeit wiederherzustellen, neue Erinnerungen zu speichern.

TR: Ins Gedächtnis einzugreifen, ist keine Kleinigkeit. Es rührt an den Kern dessen, was wir sind. PTSD zu behandeln, wäre wunderbar, aber könnte man damit nicht auch künstliche Daueroptimisten schaffen?

LeDoux: Oder furchtlose Monster. Es wird immer ethische Implikationen geben. Aber das müssen wir klären. Als wir das erste Mal unsere Arbeit zur „Rekonsolidierung“ von Erinnerungen etwas veröffentlichten, schrieb jemand in einem Kommentar in der New York Times: „Nehmen wir an, Sie wären ein Holocaust-Überlebender. Sie haben 50 Jahre mit diesen grauenhaften Erinnerungen gelebt, und dann, ganz plötzlich, löschen Sie diese Erinnerungen aus. Was würde das mit Ihrer Persönlichkeit machen? Es geht darum, wer Sie jetzt sind.“

Nach weiteren Arbeiten kamen wir zu dem Schluss, dass ein Patient und ein Therapeut langsam und behutsam eine Erinnerung entfernen müssten, bis hin zu einem Zustand, mit dem sie einverstanden sind. Die derzeitige Forschung legt nahe, dass sie das „Zischen“ einer Erinnerung verringert, die emotionale Bedeutung aus einer Situation entfernt, anstatt die Erinnerung als ganzes zu löschen.

Die andere Seite daran ist, dass man Erinnerungen auch intensivieren kann. Als wir Ratten Propranolol gaben, schwächte das eine Erinnerung. Isoproterenol hingegen hat die gegenteilige Wirkung auf die Neuromstimulatoren des Gehirns – die Erinnerung wird stärker. Wenn es einen Weg gäbe, um eine Erinnerung nach dem Zurückholen zu verstären, könnte sie danach besser und klarer sein.

TR: Wie sähe eine Situation aus, in der Menschen so etwas tun wollten?

LeDoux: Allgemein formen sich bei Menschen, die ein schlechtes Gedächtnis haben, Erinnerungen nicht sehr gut. Mit einer niedrigen Dosis Isoproterenol könnten sie einen leichten Schub bekommen. Die andere Idee ist, dass wir Menschen positive Erfahrungen vermitteln und dabei einen Schuss Isoproterenol verabreichen, so dass sie diese Erfahrungen im Gedächtnis anstelle von negativen Erlebnissen abspeichern.

TR: Man würde in ihnen also mehr positive Erinnerungen anlegen?

LeDoux: Ja, richtig.

TR: Dies könnte Menschen helfen, die an Depressionen leiden.

LeDoux: So weit ich weiß, ist das nie ausprobiert worden. Es ist aber machbar.

TR: Warum ist es nie versucht worden?

LeDoux: Wissen Sie, mir kam diese Idee schon vor einiger Zeit, aber dann habe ich sie wieder vergessen. Und sich jetzt daran zu erinnern – vielleicht sollte ich da etwas machen [LeDoux lacht].

(nbo)