Kommentar: Die Unerträglichkeit des gleichzeitigen ungleichen Seins

Durch soziale Medien ist der Krieg gefühlt so nah wie nie. Trotz aller Dissonanz, die daraus resultiert, sollten wir aber nicht wegschauen, meint Kristina Beer.

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(Bild: Da Antipina/Shutterstock.com)

Lesezeit: 3 Min.

Häufig wird gesagt, mit dem militärischen Überfall auf die Ukraine finde ein Krieg vor unserer Haustür statt. Wir blicken auf einen Konflikt, der näher als gewohnt ist. Der Krieg ist uns jetzt aber auch näher, weil die Technik ihn uns noch näher bringt.

Schon lange verhungern auf dieser Welt Menschen und existieren in Unsicherheit, während wir in Wohlstand und Frieden leben. Das konnten wir bisher ganz gut ausblenden, denn die Ärmsten der Armen twittern nicht, haben keine Facebook-Profile, sie schicken keine Bilder; sie sind einfach nur mit dem Überleben beschäftigt.

Ein Kommentar von Kristina Beer

Kristina Beer schreibt und moderiert für heise online. Sie beschäftigt sich gerne mit der Frage, wie sich technischer Fortschritt auf Gesellschaft, Wirtschaft und politische Entscheidungen auswirkt.

Aus der Ukraine aber bekommen wir über soziale und andere Medien ständig Berichte aus Trümmern, mitunter in Echtzeit. Freundinnen und Freunde spielen uns Tonschnipsel und Bilder von Schlachtfeldern zu. Dabei sitzen wir immer noch in unserem gemütlichen Zuhause, leben kaum mit Engpässen und wandeln durch friedvolle Straßen. Das erzeugt eine Dissonanz, die nun oft noch unerträglicher erscheint als sonst.

Der Krieg in der Ukraine fordert uns neu heraus. Die Menschen sind auf dem Schlachtfeld und auch in den Infowars aktiv. Alle, die regelmäßig online unterwegs sind, müssen sich nun fragen: Sind diese Bilder echt? Was soll ich glauben? Wie sehr mag ich mich mit diesen anderen Realitäten konfrontieren? Was will ich mir zumuten?

Wir könnten abschalten, weil das Geschehen zu komplex ist, weil die angewandten Mittel der Desinformation abschrecken; weg damit, uns geht’s doch gut! Wir könnten aber auch genau hinsehen und uns auf das konzentrieren, was wir selbst gestalten können: zum Beispiel Hilfe.

Viele Menschen in Deutschland tun das. Da, wo die Unmittelbarkeit des Geschehens klar spürbar ist, wird auch schnell reagiert. Menschen schließen sich online zusammen, um die Ankunft von Geflüchteten zu organisieren. Sie veranstalten Barcamps, um rasch zu besprechen, wie Kinder und Jugendliche hier nun ihre ukrainischen Bildungsabschlüsse machen können. Einige Menschen stellen nicht nur die Frage, "was will ich mir zumuten?", sondern fragen auch "was muten wir den anderen zu, wenn wir nicht hingucken mögen?".

So schwer die derzeitige Lage also auch ist, so schwer erträglich auch die Unmittelbarkeit und Nähe der Grausamkeiten; die schnelle Vernetzung, die online möglich ist, hilft auch bei der Koordination von Hilfe. Und die mildert zumindest auch zum Teil die Unerträglichkeit des gleichzeitigen ungleichen Seins.

(kbe)