Kommentar: Natürlich ist IPv6 notwendig – und zwar pronto!
Oft sind IPv4-Adressen nur zu horrenden Preisen zu bekommen. Wer CDNs als Alternative vorschlägt, gibt das Netz den Hyperscalern preis, meint Martin Loschwitz.
- Martin Gerhard Loschwitz
Das Gesetz zur Routerfreiheit trat am 1. August 2016 in Kraft. Ein Montag, an den ich mich gut erinnere: Weil am Tag davor der Tempelhofer Hafen in Berlin seinen Geburtstag feierte, war der dortige MediaMarkt geöffnet und ich erstand eine Fritzbox 6490 für meinen Kabelanschluss zu Hause. Wochenlang hatte ich mich fast schon akribisch vorbereitet. So war ich zum Beispiel im Besitz des Freischaltcodes, den Vodafone bereits damals vorschrieb, um ein eigenes Modem am heimischen Anschluss dann auch tatsächlich in Betrieb nehmen zu können.
Und ich hatte ein Ziel: Wer das providereigene Kabelmodem nutzte, hatte die Wahl zwischen DS-Lite ohne echte IPv4-Adresse oder einem IPv4-only-Zugang. Dual-Stack mit echter IPv4 und echter IPv6 sei leider, so ließ der Anbieter verlautbaren, technisch nicht machbar – es sei denn, man setze nicht auf das Providermodem, sondern nutze ein eigenes Kabelmodem. Trotzdem wurde es mit dem Dual-Stack-Setup zu Hause am nächsten Tag nichts. Denn die Fritzbox bot in ihrer Firmware seinerzeit keine Möglichkeit, den Bezug einer IPv6-Adresse zu aktivieren. Nach einer kurzen Phase gegenseitiger Schuldzuweisungen zwischen Vodafone und AVM lieferte der Hersteller das Feature ein paar Wochen später nach und das Dual-Stack-Setup funktionierte endlich wie gewünscht.
Knapp acht Jahre später hat sich die Situation im Hinblick auf IPv6 vielerorts noch immer nicht deutlich verbessert. Die so oft geschmähte Telekom liefert mittlerweile zwar zuverlässig echtes Dual-Stack an vielen DSL- und Glasfaseranschlüssen. Bei anderen Anbietern hingegen schlägt man sich als genervter Kunde weiterhin mit Problemchen und Widrigkeiten wie dem eingangs beschriebenen herum. Vielen Anbietern ist IPv6 bis heute egal, wie ich beim Einzug in eine Wohnung in Berlin-Schöneberg 2021 feststellen musste: Hier bekam man trotz eines Kabelanschlusses gar keine öffentliche IP-Adresse mehr, weder v6 noch v4.
Stattdessen schlug man sich mit CGNAT der übelsten Sorte herum, und selbst das Hinzubuchen einer fixen IPv4 half nicht: Dann war man zwar per IPv4 zu erreichen, allerdings nur durch ein wirres DNAT-Konstrukt auf Providerseite. Wer seinen Internetanschluss – in diesem Falle sogar einen Geschäftskundenanschluss – für mehr als Netflix und gelegentliches Surfen nutzt, dem hilft derartiger Anschlussschrott schlicht nicht weiter. Clemens Schrimpe lässt grüßen: Anschlüsse dieser Art sind funktional kaputt.
Told you so!
Passend dazu ließ vergangene Woche der Hauptverantwortliche der APNIC in Sachen Wissenschaft mit der These aufhorchen, er halte das Ziel, IPv4 vollständig durch IPv6 zu ersetzen, für obsolet und nicht durchsetzbar. Der Text machte innerhalb der Internet-Community schnell die Runde. Nicht zuletzt, weil er an dem rüttelt, was insbesondere die Netzwerker in dieser unserer Branche seit Jahren predigen: Dass die vollständige Umstellung auf IPv6 nämlich eine schiere Notwendigkeit sei.
Im Trubel um die Meldung ging freilich unter, dass Geoff Huston keinesfalls die Abkehr von IPv6 insgesamt fordert. Selbst von Hustons Vorschlag für ein neues Ziel, dass IPv6-only-ISPs existieren können und sinnvoll nutzbar sein müssten, ist man aber auch noch immer meilenweit entfernt. Es wird kaum etwas helfen, die Ziele zu verkleinern, die weite Teile der Branche ohnehin seit Jahren beharrlich ignorieren. Wohl aber werden Aussagen wie jene von Geoff Huston absehbar den IPv6-Verweigerern als neue Grundlage für ihre Argumentation dienen. Man habe es ja immer gewusst: IPv6 werde sich nicht durchsetzen. Denen, die IPv6 konsequent umsetzen und nutzen, erweist Huston damit einen Bärendienst.
Zumal Hustons Argumentation an vielen Stellen Fakten unzulässig verkürzt und er über Probleme, die sich als Folge aus dem vorgeschlagenen Handeln ergäben, großzügig hinwegsieht. Natürlich ist es aus Sicht eines ARIN- oder RIPE-NCC-Mitglieds ein Leichtes, sich auf den faulen Allerwertesten zu setzen und das IPv4-Problem schlicht zu ignorieren. Denn beide Registrare sind großzügig mit IPv4-Blöcken ausgestattet, in denen noch immer einige Reserven schlummern.
Andernorts auf der Welt ist die IPv4-Situation deutlich weniger entspannt. Gerade die APNIC, die für den asiatisch-pazifischen Raum zuständig ist, hat sich in der Vergangenheit wiederholt darüber beschwert, dass die dort theoretisch verfügbare Zahl von IPv4-Adressen pro Einwohner sehr niedrig ist. Denn die APNIC ist a priori nur mit wenigen, relativ kleinen Adressblöcken ausgestattet. Man weiß also um die Problematik, was Geoff Hustons Aussagen umso unverständlicher erscheinen lassen. Nicht zuletzt deshalb ist IPv6 im APNIC-Raum heute übrigens proportional viel stärker verbreitet als im ARIN- oder RIPE-Einzugsgebiet: aus schierer Notwendigkeit.
Und selbst hier in RIPE-Land ist die IPv4-Situation nicht mehr so entspannt wie einst. Längst hat sich ein reger Handel mit IP-Netzwerken etabliert – und die Preise sind gesalzen: Selbst ASN-Nummern, die einen überhaupt erst zur Teilnahme am Netz als "Autonomes System" berechtigen, gehen mittlerweile für Tausende US-Dollar über die Theke. Ein IPv4-Netz der RIPE schlägt mit 32 Euro pro IP zu Buche, wobei in der Regel nur größere Netze wie solche mit 1024 IP-Adressen (/22) in den Handel gelangen. Knappe 33.000 Euro muss einem der Spaß also wert sein, während IPv6-Netze preislich vernachlässigbar sind, dabei aber dieselbe Funktionalität bieten. Die horrenden Kosten für IPv4-Netze können insbesondere kleinere Marktteilnehmer kaum sinnvoll stemmen. Letztlich gefährdet der Mangel an IPv4 mithin gar die Netzneutralität, weil unter diesen Umständen eben nicht mehr jeder denselben Zugang zum Netz hat oder haben kann.
Internet, nicht CDN-Net
Geoff Hustons Aussage, wonach die Relevanz der Konnektivität im Internet insgesamt zurückgehe und man stattdessen künftig lieber von einem "Verbund von Diensten" sprechen möge, ist aus denselben Gründen brandgefährlich. Findet man sich mit der Tatsache ab, dass das Gros der Inhalte im Netz bloß noch über die Hyperscaler oder große CDNs zum Nutzer gelangt, werden jene Anbieter sich irgendwann berufen fühlen, die Regeln des Spiels selbst festzulegen. Zumal eben jene Institutionen freilich auch die Kriegskasse haben, um sich frei werdende IPv4-Kapazitäten einzuverleiben und alternativen oder neuen Anbietern so den Weg zu möglicher Kundschaft schlicht abzuschneiden. Praktisch geht es hier mithin um nicht weniger als die Einführung eines IT-Oligopols durch die Hintertür. Und sorry, aber: Geht’s noch?
Längst hätten (nicht nur) bei europäischen Institutionen und Behörden alle Alarmglocken schrillen müssen, nähme man die selbst so vollmundig versprochene digitale Souveränität ernst und trachtete man tatsächlich nach ihr. Ganz grundsätzlich kann schließlich keiner wollen, dass Manager in den Hinterzimmern in San Francisco, Mountain View, Redmond, Seattle oder sonst wo darüber entscheiden, welche Inhalte an wen irgendwo auf der Welt wie ausgeliefert werden. Genau das wird aber passieren, sobald die jeweiligen Anbieter die technische Möglichkeit dazu haben. Zumindest in den USA gab es das übrigens schonmal, AOL lief in den Pionierjahren des Internets nämlich im Wesentlichen genau darauf hinaus – mit bekanntem Ergebnis. Nach Lage der Dinge bietet IPv4 für den radikaleren Versuch einer Neuauflage nicht nur einen relativ einfachen Weg, sondern auch einen Weg ohne Alternative für die Endverbraucher.
Statt nach Gründen zu suchen, IPv6 doch nicht einführen zu müssen, sollten Anbieter und nicht zuletzt auch der Gesetzgeber aus dem Quark kommen und IPv6 vorantreiben. Es ist ohne Alternative, möchte man das Internet in seiner gegenwärtigen Form erhalten und weiterentwickeln, statt daraus eine Kloake nach dem Vorbild Twitters zu machen. Fehlende IPv6-Konnektivität muss als Mangel eines Internet-Anschlusses gelten und für ISPs muss es endlich teurer sein, IPv6 zu ignorieren, als sich um eine sinnvolle Integration zu bemühen. Nur so wird es möglich sein, den nachfolgenden Generationen ein globales Netzwerk zu hinterlassen, dessen Vielseitigkeit und praktischer Nutzen an jenen der Gegenwart heranreichen.
Name korrigiert: Der Chefwissenschaftler der APNIC heißt Geoff Huston.
(fo)