Kommentar zu US-Entlassungen: Wenn Menschenverachtung zur Normalität wird

US-Konzerne entledigen sich menschenverachtend ihrer Mitarbeiter – und zum Überdruss wünschen sich manche deutsche Chefs und Politiker glatt dasselbe.

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(Bild: Charles-Edouard Cote/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Martin Gerhard Loschwitz
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Big Tech schafft es im Augenblick bekanntlich kaum durch den Tag, ohne dass ein großes Unternehmen der Branche Massenentlassungen verkündet. Viel zu oft geht dabei im medialen Trubel unter, dass hinter einer Schlagzeile wie "Google streicht 12000 Stellen" eben 12.000 einzelne Schicksale stecken – und mithin mindestens 12.000 Menschen, deren Leben von einer auf die andere Sekunde auf den Kopf gestellt wird. Warum sich die großen Konzerne insbesondere aus den USA aktuell massenhaft von ihrem Personal trennen, darüber ist in den vergangenen Wochen praktisch alles gesagt worden, und vermutlich auch von jedem.

Ein Aspekt fällt dabei allerdings fast immer unter den Tisch: die völlig unerträgliche Art und Weise nämlich, wie Firmen diese Entlassungen vollziehen. Es lohnt sich allerdings, genauer hinzuschauen, denn die genutzten Methoden zeichnen ein verheerendes Sittenbild des Prinzips "US Corporate" im Jahre 2023. Und sie sind eine deutliche Warnung, hierzulande all jene in die Schranken zu weisen, die ähnliche Zustände auch für die hiesige Wirtschaft fordern.

Ein Kommentar von Martin Gerhard Loschwitz

Martin Gerhard Loschwitz ist freier Journalist und beackert regelmäßig Themen wie OpenStack, Kubernetes und Ceph.

Anders als früher sind Massenentlassungen heute keine rein firmeninternen Vorgänge mehr, die den Augen der Öffentlichkeit weitgehend verborgen bleiben. Auf sozialen Netzwerken wie TikTok häuften sich in den letzten Wochen stattdessen die Beiträge von Menschen, die gerade ihren Job verloren hatten und besonders über das "wie" bis in tiefe Details hinein Auskunft gaben. Der Name eines Unternehmens fiel dabei besonders häufig – und besonders häufig negativ auf: Google. So berichteten Menschen, die beim Konzern seit 15 Jahren tätig waren, dass sie von den Massenentlassungen betroffen seien – und das zuerst dadurch erfahren hätten, dass ihre Anmeldung bei Firmendiensten nicht mehr funktionierte. Andere Mitarbeitende seien gerade dabei gewesen, im Meeting-Raum neue Google-Kollegen durch deren Onboarding zu schleusen, als sie plötzlich von der Security aus dem Raum geleitet wurden und bloß noch ihre persönlichen Gegenstände einsammeln durften. Was man hierzulande bloß aus schlechten Hollywood-Filmen kennt, vollzog sich in den vergangenen Wochen mithin für hunderttausende Menschen in Amerika im echten Leben.

Nicht fehlen dürfen freilich die treudoof dreinschauenden CEOs, die in zeitgleich veröffentlichten, rührseligen Filmchen betont betroffen Standardsprüche vom Teleprompter ablesen. Etwa darüber, wie sehr sie ihr Handeln bedauern und wie sehr sie für die Ereignisse natürlich die Verantwortung übernehmen, ohne dass es im Nachgang zu echten Konsequenzen überhaupt erst käme. Für jene, die gerade ihren Job verloren haben, wirken derartige Machwerke wie blanker Hohn.

Bei allem Verständnis für die hinlänglich erforschten Unterschiede zwischen dem Hire and Fire der US-Arbeitswelt und hiesigen Gepflogenheiten: Die Missachtung einfachster zwischenmenschlicher Regeln, die Google, Amazon & Co. in den vergangenen Wochen beinahe demonstrativ zur Schau gestellt haben, weist auf ein größeres und tiefer liegendes Problem hin. Denn selbstverständlich verfügen all diese Unternehmen über die nötigen Mittel und Ressourcen, um Entlassungen mit dem gebührenden Maß an Respekt und geordnet über die Bühne zu bringen. Dass sie das nicht (mehr) tun, lässt nur einen Rückschluss zu: Es ist ihnen egal. US-Corporate entlarvt sich hier gnadenlos selbst, längst ist die oder der einzelne Mitarbeitende im System des Shareholder-Value als Individuum irrelevant geworden – und nun lässt man die Menschen das auch spüren.

Dabei geht es an dieser Stelle um viel mehr als gute Manieren oder den guten Ton. In seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten, einem zentralen Werk der Aufklärung, postuliert Immanuel Kant den kategorischen Imperativ in einer dessen drei Formeln so: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. Genau das ist aber offensichtlich nicht mehr der Fall, wenn Firmen Personal als bloße Verschubmasse betrachten, das nach Belieben eingestellt oder auf schäbigste Art und Weise gefeuert wird.

Praktisch postuliert das US-Business hier für alle offensichtlich, dass es weit hinter die sittlich-moralischen Standards der Aufklärung zurückgefallen ist. Da helfen auch die gern und oft zitierten Abfindungspakete nichts, die man den Menschen gnadenhalber zukommen lässt und die in vielen Fällen nur vertraglich regeln, was anderswo eine Selbstverständlichkeit wäre – beispielsweise die Krankenversicherung, die nicht von heute auf morgen einfach wegfällt.

Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den USA muss das ein Weckruf sein, sich gegen derartige Umtriebe entschlossen zur Wehr zu setzen. Effektiv geht das nur durch organisiertes Arbeitnehmertun. Die im Kontext von New Work oft als überflüssig geschmähten und von vielen Unternehmen wohlweislich bis aufs Blut bekämpften Betriebsräte und Gewerkschaften etwa können effiziente Werkzeuge sein, um freidrehende Unternehmen zum Einhalten zu bewegen.

Auch hierzulande sollten die Umtriebe von US-Corporate die Menschen nicht kaltlassen. Längst ist es ein offenes Geheimnis, dass manche Chefs ebenso wie manche Verantwortliche aus der Politik in ihren feuchten Träumen von ähnlichen Zuständen in der hiesigen Arbeitswelt fantasieren. Einzelne Unternehmen versuchen bisweilen sogar, in Europa mit ihrer Belegschaft wie in den USA zu verfahren. Bisher gebieten Arbeitsgerichte, Gewerkschaften und Betriebsräte ihnen dabei sehr zu ihrem Verdruss regelmäßig Einhalt. Elon Musk soll etlichen Berichten zufolge etwa zwischen Erstaunen und Entsetzen geschwankt haben, als man ihm erklärte, dass er das Personal von Twitter in Frankreich kaum so einfach loswerden wird wie jenes in den USA. Eben diese Standards stünden indes zur Disposition, hätten die armen Irren Erfolg, die sich die völlig defizitären Standards des US-Arbeitsrechts auch hierzulande wünschen.

Ein schrilles Alarmsignal sollte obendrein sein, dass die Angriffe auf die hiesigen Standards zum Schutz der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf vielen Ebenen und oft im Verborgenen längst laufen. Seit einiger Zeit ist in der hippen Start-up-Szene Berlins etwa eine Kategorie von Mitarbeitenden heiß begehrt: Jene nämlich, die Erfahrung in US-Großkonzernen sammeln konnten und eingestellt werden, um die dort erlernte Unternehmenskultur in die hiesigen Firmen zu importieren. Dass dabei keine Situation entstehen kann, in der Unternehmen und ihr Personal respektvoll und auf Augenhöhe miteinander umgehen, ist nach den Vorkommnissen der letzten Wochen selbstevident.

Freilich: Ob man Teil eines solchen Konstruktes sein möchte, das muss am Ende jede und jeder für sich selbst entscheiden. Dabei muss aber klar sein: Wer den Gegnern von Arbeitnehmerrechten das Wort redet, schafft letztlich ein System, in dem eine kleine Clique den gesamten gesellschaftlichen Rest ohne Konsequenzen verachten darf. Und irgendwann wird.

(fo)