Microsofts Recall läutet das Ende des Personal Computers ein

Persönlich ist an einem PC nichts mehr, wenn Windows alle paar Sekunden Screenshots speichert. Es ist egal, ob das lokal stattfindet, meint Nico Ernst.

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Schriftzug "Microsoft" an Gebäude

(Bild: Denis Linine/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Nico Ernst
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Redakteursalltag: Letzte Woche, also vor Microsofts neuester KI-Initiative, hatte ich doch was über Googles Pläne gelesen. Oder waren's die von OpenAI? Und auf welcher Webseite war das noch gleich? Der Browserverlauf zählt seitdem ein paar hundert andere Einträge, und ein Stichwort fällt mir auch nicht mehr ein. Google? Weiß ja auch nicht, was ich da genau auf meinem Bildschirm hatte, ich will einfach nur genau das wieder dort sehen.

Wie praktisch, könnte man meinen, dass Windows das bald für mich erledigt. Alle fünf Sekunden, so geht aus einem nachgeschobenen Blogbeitrag zur neuen Funktion mit dem Namen Recall hervor, wird ein Screenshot des Bildschirms gespeichert, sofern sich der Inhalt ändert. Das soll dann eine KI lokal verarbeiten, also auf dem PC, nicht in der Cloud, und durchsuchbar machen, unter anderem durch Texterkennung. Der PC wird damit zur totalitären Überwachungsmaschine. Klingt schon weniger praktisch, eher gefährlich.

Und auch belastend für die Hardware: Mindestens 16 GByte RAM sind gefordert, ein Prozessor mit acht Threads, und bei einer 512-GByte-SSD will Recall bis zu 75 GByte haben. Bevor das Ding also Suchen verkürzen kann, macht es vermutlich erst mal alles langsamer. Wer seinen PC ständig per Taskmanager und anderen Tools überwacht, kann jetzt schon zusehen, wie die Indizierung der heutigen Suche oder die Telemetriemessungen von Windows das System regelmäßig ausbremsen. Recall wird deshalb auch zunächst nur auf den Copilot+ PCs verfügbar sein, die extra für KI-Anwendungen ausgelegt sind.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Microsoft allein schon deswegen – vielleicht auch nur als Vorwand – anbietet, die Indizierung und die KI-Erkennung auf Server auszulagern: Alle Screenshots und andere Daten dort speichern, von leistungsstarker Hardware verarbeiten lassen, und nur die Ergebnisse ausliefern. Oder gleich als Service in der Cloud, natürlich per Abo. So eine Art Suchmaschine für das ganze Unternehmen, für die Aktivitäten aller Mitarbeiter. Vielleicht, um im obigen Beispiel zu bleiben, hat mein Kollege ja die gesuchte Webseite neulich auch aufgerufen? Spätestens an diesem Punkt wird es dann mutmaßlich illegal.

Ein Kommentar von Nico Ernst

Nico Ernst schreibt seit über 20 Jahren über IT-Themen und gelegentlich auch über Musik. Hardware, Wirtschaft und Netzpolitik sind seine bevorzugten Themen. Da er mit ZX81, C64 und Atari VCS aufwuchs kann er sich auch einem gelegentlichen Spiel noch immer nicht entziehen.

Die detaillierte Überwachung von Mitarbeitern ist nämlich durch verschiedene Vorgaben verboten, nicht nur durch die DSGVO. Auch das Fernmeldegeheimnis, das Betriebsverfassungsgesetz – all das wird von einem so einschneidenden System wie Microsofts Dauer-Screenrecorder berührt. Wohl auch deshalb gibt es bereits eine Anleitung, wie man per Gruppenrichtlinie Recall deaktiviert. Ohne zumindest eine Betriebsvereinbarung dürfte man nach meinem Dafürhalten so ein System in einem deutschen Unternehmen auch gar nicht einsetzen.

Dazu kommt, bemühen wir mal ein grobes geflügeltes Wort der Security-Szene: Wo ein Trog steht, da kommen die Schweine. Die Begehrlichkeiten nach allen Aktivitäten eines Menschen an seinem Computer sind riesig. Angefangen von Arbeitgebern, Werbetreibenden, bis hin zu Strafverfolgern. Für letztere dürfte Recall geradezu der feuchte Traum sein. Bemüht man sich heute darum, bei Razzien nach schweren Straftaten laufende und entsperrte Systeme zu beschlagnahmen, so ist die Beweissicherung künftig viel einfacher.

Noch schwerer wiegt, dass wir uns schleichend daran gewöhnen, dass der als "persönlicher Computer" gestartete PC nicht mehr uns gehört. Natürlich war mit der Bezeichnung gemeint, nicht mehr statt Terminals und anderen Techniken jedem Mitarbeiter einen Computer auf oder unter den Schreibtisch zu stellen. Mit der Verbreitung in Privathaushalten hat sich der PC aber schon vor Jahrzehnten zum eigenen, eben persönlichen Datenspeicher gewandelt.

Wir haben uns schon daran gewöhnt, auf Webseiten und in Apps ausspioniert zu werden, ständig mit Werbung konfrontiert zu sein, und dass unser Auto uns bei der Versicherung verpetzt. Der PC, mit ein bisschen Handarbeit letzter Ort der digitalen Privatsphäre, darf nicht auch noch vollständig überwacht werden. Wenn wir uns auch noch daran gewöhnen, ist es nicht mehr weit, bis Kamera und Mikrofon ständig eingeschaltet werden, weil wir vielleicht mal etwas Sinnvolles gesagt haben, im Meeting die Stirn runzelten, als der Chef etwas Superwichtiges sagte – die Information kann man ja sicher nochmal irgendwann brauchen.

Nämlicher Chef – ich hoffe, ich guckte da nicht komisch – sagte heute Morgen in einem Meeting der Redaktion übrigens, er wäre bei der Konferenz, als Microsoft auf die Idee mit Recall kam, gerne dabei gewesen. Ich auch. Vor allem an der Stelle, wo jemand sagte: "Hey, lass mal alle 5 Sekunden bei jedem PC den Bildschirminhalt speichern." In einem deutschen Unternehmen hätte mindestens der Datenschutzbeauftragte dann mit Gegenständen geworfen.

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(nie)