Missing Link: Die UN und das Internet – vage Visionen und mangelnde Teilhabe

Eine Expertengruppe der Vereinten Nationen soll der Informationsgesellschaft neue Impulse geben. Doch ihr Bericht stößt teils auf harsche Kritik.

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Missing Link: Die UN und das Internet – Neu erfundene Fahrräder und die Gefahr von Lippenbekenntnissen

Neptuul / CC BY-SA-3.0

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Von
  • Monika Ermert
Inhaltsverzeichnis

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, hat es gut gemeint. Eine hochrangige Expertengruppe hat für ihn einen Bericht dazu verfasst, wie drängende technische Entwicklungen und das Zusammenleben einer informationstechnisch aufgerüsteten Gesellschaft gemeinschaftlich gelöst – oder doch zumindest koordiniert – werden können. Wenn der Bericht Bedeutung bekommen soll, ist noch ein gewaltiges Umdenken notwendig, bei der UN und bei ihren Mitgliedern.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Melinda Gates, Vorsitzende der Bill & Melinda Gates-Stiftung, die als große Wohltäterin etwa der Weltgesundheitsorganisation von sich reden gemacht hat, und Jack Ma, der mit Sendungsbewusstsein ausgestattete Chef des chinesischen Internetriesen Alibaba, wurden von Antonio Guterres vor gut einem Jahr in sein High Level Panel zum Thema digitale Kooperation berufen. Mit von der Partie waren auch einer der „Väter“ von TCP/IP, Vint Cerf, der heute als „Chef-Internet Evangelist“ auf Googles Gehaltsliste steht, einige Start-up-Köpfe aus Asien und Afrika und einzelne Staatsmänner und -frauen. Viele Experten auf dem Gebiet internationaler Internet-Governance schüttelten überrascht die Köpfe über Guterres' Internet-Truppe, von der nur einzelne aus Foren der Internet-Standardisierung, der Koordination zentraler Internet-Ressourcen oder aus vorangegangenen diplomatischen Verhandlungen zur Internetpolitik bekannt waren.

Guterres' Interesse am Digitalthema richtet sich naturgemäß nicht auf den Hickhack rund um den Betrieb der Root-Zone des Domain-Systems, über den sich vor mehr als einem Jahrzehnt der erste UN-Gipfel zur Informationsgesellschaft zerstritt, oder auf Grabenkämpfe wie den um mehr Verschlüsselung versus mehr Überwachung. Vielmehr wollte der UN-Generalsekretär wissen, wie die UN dafür sorgen kann, digitale Technologien besser in den Dienst der Ziele für nachhaltige Entwicklung zu stellen und wie die UN als Mittler für entsprechende digitale Politik wirken kann. Seit den schwierigen Verhandlungen über die Tunis-Erklärung vor 14 Jahren, in der sich die Mitgliedsstaaten immerhin auf Grundsätze zur Informationsgesellschaft geeinigt haben, tat man sich in Genf und New York schwer mit Vereinbarungen für den Raum des Cyberspace.

„Multilateralismus allein reicht nicht aus“, erklärt das High Level Panel in seinem Bericht. Effektive Zusammenarbeit in der Digitalpolitik erfordert „die Ergänzung von Multilateralismus durch Multistakeholderism“, schreiben Gates, Ma und ihre Kollegen. Zur Sicherheit erklären sie auch noch einmal, was man unter „Multistakeholderism“ zu verstehen hat: eine Zusammenarbeit zwischen Regierungen mit Vertretern aus Zivilgesellschaft, Technik, Forschung und Wirtschaft.

„Zwar können nur Regierungen Gesetze erlassen, doch alle diese Interessenvertreter werden gebraucht für eine wirksame Governance, indem sie sich an der Bewertung der komplexen und dynamischen Effekte digitaler Technologien und an der Entwicklung gemeinsamer Normen und Standards beteiligen,“ heißt es im Bericht – und dass viel mehr Stimmen gehört werden müssen. Denn „häufig werden wichtige Fragen digitaler Politik hinter verschlossenen Türen entschieden, ohne die Beteiligung derjenigen (auch der Minderheiten und marginalisierten Gruppen), die von der Politik betroffen sind.“

Das ist keine echte Neuigkeit. Aber immerhin gehören zur Kernbotschaft des Berichts drei Vorschläge, wie kooperative Politikentwicklung für Digitalthemen unter Beteiligung der verschiedenen Gruppen künftig organisiert werden könnte.

Die einfachste Lösung wäre eine Aufwertung des Internet Governance Forum (IGF). Das IGF war Ergebnis des UN-Weltgipfels der Informationsgesellschaft und letztlich ein Befreiungsschlag der westlichen Welt gegen die damaligen Forderungen einiger Länder nach Multilateralismus für die zu US-lastige Verwaltung zentraler Internet-Ressourcen. Zugleich mit der Einrichtung des IGF wurde auch seine praktische Folgenlosigkeit festgeschrieben – es sollte keine abgestimmten Ergebnisse, ja noch nicht einmal Botschaften mit Empfehlungscharakter beschließen. Als „Quatschbude“ ist das IGF daher verschrien.

Der Bericht des High Level Panels schlägt jetzt ein IGF Plus mit mehreren schick betitelten neuen Gremien vor. Vor allem das als „Policy Inkubator“ betitelte Gremium soll mit der Tradition der „Quatschbude“ brechen und bei der Entwicklung gesetzlicher und regulatorischer Normen helfen. Die beiden anderen Modelle sind noch avantgardistischer, aber auch weniger konkret gefasst. Entweder, so die Autorinnen und Autoren, könnte eine Co-Governance-Architektur (CoGOV) aufgebaut werden. Zu bestehenden Selbstverwaltungs- und Selbstregierungsorganisationen wie der Internet Engineering Task Force (IETF), dem World Wide Web oder der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) könnten zusätzliche Netzwerke entstehen, die dann über ein „Netzwerk der Netzwerke“ lose koordiniert und von zentralen Support Plattformen administrativ unterstützt werden.

Den dritten Vorschlag bezeichneten die Panel-Mitglieder als Digital Commons Architecture. Sie ist noch loser als das CoGOV-Konstrukt, funktioniert aber im Wesentlichen auch so, dass für bestimmte Teilbereiche „Tracks“ entstehen, in denen – von den „Stakeholdern“ organisiert – Regeln und Normen erarbeitet werden, die grundsätzlich für die ganze Gemeinschaft der Staaten gedacht ist. Für jeden der Tracks könnte eine der UN-Organisationen – Welthandelsorganisation, Weltorganisation für Geistiges Eigentum, Internationale Fernmeldeunion oder andere – die Federführung übernehmen. Solche Ideen werden UN-Kritiker zum bekannten „Ceterum Censeo“ bezüglich eines drohenden Griffs nach der Macht durch Genf und New York veranlassen, auch wenn der Bericht und Antonio Guterres selbst die Rolle der UN als Plattform für die Organisation der Selbstverwaltungsprozesse und für die Weitergabe von Wissen unterstreichen.

Abgesehen von den drei organisatorischen Vorschlägen, zu denen weitere Maßnahmen wie die Einsetzung eines UN-„Cyber-Gesandten“ oder die Einrichtung eines „Help Desk“ für Digitalfragen für die Mitgliedsstaaten gehört, betreffen die Empfehlungen des High Level Panel Vorgaben darüber, wie die digitale Entwicklung die Ziele für nachhaltige Entwicklung befördern sollen. Ganz oben steht der Zugang zu Infrastruktur und Bildung für alle, die Umsetzung von Menschenrechten online – auch die UN solle ihre eigenen Teilorganisation einer diesbezüglichen Überprüfung unterziehen – und natürlich Dinge wie besserer Kinderschutz, KI-Monitoring und Fortschritte bei der Bewältigung der Konversion der Arbeitswelt durch die Digitalisierung. Eine lobende Erwähnung fällt zum Thema Arbeit dabei für den “Crowdworking-Leitfaden“ des Crowdsourcing Verband e.V. in Deutschland ab.

Wer könnte solchen Zielen widersprechen, fragen nun viele, die die Arbeit des Panels des UN-Generalsekretärs von Anfang kritisch beobachtet haben. Zu ihnen gehört etwa Farzaneh Badii, Forscherin am Georgia Institute of Technology und Autorin beim Blog des seit vielen Jahren das Thema beackernden Internet Governance Project. Vor allem mit der vom UN Panel vorgeschlagenen blumigen „Erklärung zur digitalen Interdependenz“ geht sie harsch ins Gericht.

„Die vorgeschlagene UNHLP-Erklärung lädt uns ein, uns einer Vision zu verschreiben, gegen die niemand etwas sagen kann, die aber zugleich vage und voller Widersprüche ist.“ Badii vergleicht die Interdependenz-Erklärung kurzerhand mit Barlows Unabhängigkeitserklärung, die freilich einen anderen Anspruch hat. Barlows Erklärung deklariert den Anspruch der Bewohner des Cyberspace auf Selbstverfassung. Tatsächlich wird aber heute entgegen seiner Ideen von der nicht-existierenden physischen Identität um die Vorzüge der ID für alle Netznutzer gestritten. Auch im High Level Panel war man sich nicht einig, ob solcher Fortschritt ein Segen oder ein Fluch wäre.

Badiis Rant trifft ein paar wunde Punkte. Eine handverlesene UN-Beratergruppe empfiehlt von oben, wie Politik von unten gemacht werden soll. „Das High Level Panel scheint zu glauben, dass die vorgeschlagenen Architekturen nur von der UN nach Multi-Stakeholder-Art zusammengebracht werden müssen und dann magischerweise kollektive Aktionen entstehen“, ätzt sie. Die vom Panel empfohlene Adoption des IGF, das bislang freischwebend – und viele Jahre geizig finanziert – war, ist aus Sicht der Wissenschaftlerin und Aktivistin alles andere als ein Vorteil. Das IGF werde dadurch nur ins multilaterale Geschacher verwickelt, die Teilhabe von Nicht-Mitgliedern und nicht-staatlichen Akteuren werde erschwert. „Denn letzten Endes bedient die UN ihre Mitglieder und ist alles andere als eine Bastion von Diversität und Inklusivität“, so Badii, und übrigens fehlt es den Mitgliedsstaaten – nicht nur in autokratischen Systemen – am Willen oder Vermögen zu Teilhabeverfahren im Politikprozess.

Für die mangelnde Bereitschaft vieler Regierungen, die seit vielen Jahren vollmundige Bekenntnisse zum Konzept von Multi-Stakeholder abgeben, auf Bürger und externen Sachverstand zu hören – abgesehen von teuer eingekauften Beratern –, gibt es viele Beispiele.

Auf UN-Ebene schlug vergangene Woche ein Bündnis von Nicht-Regierungsorganisationen Alarm. Das Bündnis moniert, dass Regierungen UN-Prozesse rund um die Nachhaltigkeitsziele (SDGs) offensichtlich nur noch als Imageshows sehen. Marie-Luise Abshagen, Referentin für nachhaltige Entwicklung beim Berliner Forum Umwelt und Entwicklung kritisierte laut einer Presseerklärung überdies einen „deutlichen Rückgang in der Offenheit von Regierungen, gesellschaftliche Akteure in die Überprüfung der SDGs einzubeziehen. Von 47 berichtenden Staaten haben 31 zivilgesellschaftliche Vertreter und Vertreterinnen kaum bis gar nicht einbezogen.“ Das High Level Policy-Forum der UN zu den SDG verkomme so langsam zur Farce, so die Kritik der NGOs, die für 27. September zu einem weltweiten Generalstreik aufrufen.

Unterhalb der weltpolitischen Bühne sieht es auch nicht anders aus. Aktivisten hierzulande verzweifeln an Überwachungsgesetzen, die in Nachtsitzungen und vor der Sommerpause durchgedrückt werden. EU-weite Urheberrechtsregeln, bei denen die Politik den massiven Aufstand von Volk und Wissenschaft ignoriert oder gar verunglimpft, sind keine Werbung für politische Teilhabe, sondern eher für Politikverdrossenheit. Selbst mit der Organisation nationaler Teilhabe bei genuinen, aus nationaler Sicht eigentlich unkritischen Multi-Stakeholder-Experimenten wie ICANN, tut sich die Regierung in Berlin sehr schwer.

Deutschland sei ein Paradebeispiel für das Arbeiten in Silos, meint Wolfgang Kleinwächter, emeritierter Völkerrechtler und so etwas wie der deutsche „Mister Internet Governance“. Der jährliche deutsche IT-Gipfel etwa könnte eigentlich als eine Plattform für einen Dialog zwischen den verschiedenen Gruppen genutzt werden. „Das passiert aber leider nicht,“ sagt Kleinwächter gegenüber heise online. Vielmehr fehlten Entwickler und technische Fachleute bei solchen Gelegenheiten ebenso wie die Zivilgesellschaft. „Die haben ihre CCC-Konferenz,“ so Kleinwächter, fügt aber nicht ohne Selbstkritik hinzu, dass auch das deutsche IGF, das er selbst vor Jahren als eines von 114 nationalen Foren mit ins Leben gerufen hat, mit grade mal 150 Teilnehmern ein Witz sei verglichen etwa mit der großen re:publica. „Der Diskurs um die Digitalisierung ist kaputt“, kommentierte gerade eben c‘t Redakteur Jan Mahn und forderte ein „Ende der stillen Empörung im Serverraum“.

Vint Cerf, der die Technikerseite im High Level Panel vertrat, bestätigte die Kluft zwischen Multi-Stakeholder-Schwüren und einer Gesetzgebung, die aus Sicht der Praktiker viele Bugs hat. „Ich glaube, die Administrationen haben die Geduld verloren mit Multi-Stakeholder-Prozessen“, schrieb Cerf an heise online. „Ich hoffe, dass wir eine Lösung finden, die es erlaubt, dass künftig die relevanten Stimmen gehört werden, bevor Regulierung entworfen, angenommen und durchgesetzt werden.“ Cerf ist nicht Barlow, er anerkennt die Notwendigkeit zu regulieren.

„Es gibt eine wachsende Notwendigkeit kooperativer Strafverfolgung zum Schutz der Bürger vor verschiedenen Arten von Schaden in der Onlinewelt“, so Cerf. Gut wären seiner Meinung nach Normen für Software Updates, gemeinsam verabredete Praktiken für starke ID Authentifizierungsmöglichkeiten, und die Annahme entsprechender internationaler Standards. Beim Thema Desinformation, das die Regulierer gerne mit Gesetzen erschlagen würden, rät er dagegen: „Diesen Kampf nehmen wir wohl am besten dadurch auf, dass wir als Nutzer unser kritisches Denken anschalten.“

Folgenlos werde der Bericht der High Level Gruppe Digitale Kooperation für die Arbeit im Bereich Internet Governance bleiben, prognostiziert Badii. Allenfalls werde es ein paar mehr Gremien geben, die „um die Welt touren, um über Dinge zu diskutieren, die sie nicht beeinflussen können.“ Einen UN-Cyber-Gesandten könnte es geben. Dafür werden schon mehrere Namen kolportiert, vom Ex-ICANN-Chef Fadi Chehade bis zur ehemaligen Schweizer Bundespräsidentin Doris Leuthard, beide waren Mitglied des Panels. Echte Veränderung Fehlanzeige?

Optimist Kleinwächter sieht und beschreibt das anders. Als Kenner der Diskussion seit über zwei Jahrzehnten kann er sehr wohl bestätigen, dass der Bericht wenig neue Erkenntnisse bringt. „Ich nenne es die Wiedererfindung des Fahrrads“, sagt Kleinwächter, „aber das Fahrrad hat einen besonderen Touch.“ Anders als Badii hat ein solcher Bericht und Aufruf an die UN, frischen Wind und neue Politikverfahren in die verstaubten Hallen von Genf und New York hereinzulassen, mehr Gewicht, wenn er von einem UN-Generalsekretär kommt. „Dinge, die lange gefordert sein mögen, erhalten dadurch mehr Legitimität,“ so Kleinwächter.

Überdies kommt der Fortschritt eben nur in Nuancen, die den aktuellen Bericht von den vielen vorangegangenen anderer Gremien unterschieden. Hervor sticht für den alten Hasen die Versöhnung von Multilateralismus und Multistakeholderism. Nachdem eine kleine Internet-Community in Genf und Tunis angeklopft hatte, seien 15 Jahre verschwendet worden auf den Konflikt, ob das Internet durch Stakeholder oder rein zwischenstaatlich, also multilateral, regiert werden soll. Der aktuelle Bericht weiche diesen Gegensatz endlich auf. „Wir brauchen innovativen Multilateralismus,“ sagt Kleinwächter und berichtet, dass bei der laufenden European Summer School on Internet Governance bereits eine Kombination der drei vom High Level Panel vorgeschlagenen Modelle für die Zukunft einer globalen Digitalpolitikplattform entworfen worden sei.

Letztlich sei es jetzt einfach an den interessierten Organisationen und Aktivisten, aus dem Bericht etwas zu machen, widerspricht Kleinwächter Badii. Übrigens hat er auch eine Idee für die deutsche Regierung, die es als Gastgeber des IGF 2019 in der Hand hat, eine erste Runde von Diskussionen zum Aufschlag aus Genf und New York zu moderieren. Die Bundesregierung könnte, schlägt Kleinwächter vor, den innovativen Multilateralismus wirken lassen im Bereich Sicherheit. Die Vorarbeit hat eine kleine, unscheinbare Gruppe – der Kleinwächter natürlich auch angehört – schon geleistet. Die Global Commission on the Stability of Cyberspace hat Cyber-Sicherheitsnormen entwickelt, die von verbindlichen Offenlegungsprozessen für Softwareschwachstellen bis hin zu einer Grundsatzerklärung über den gemeinschaftlichen Schutz der Kern-Infrastruktur des Internet reicht. Könnte die Berliner IGF nicht von der Quatschbude zur Gestalterin von Politik avancieren, indem sie eine Empfehlung für die zentrale Netzinfrastruktur ausspricht?, fragt Kleinwächter.

(tiw)