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Missing Link: Kreative Verschwendung in der Rebound-Gesellschaft

Timo Daum
Missing Link: Kreative Verschwendung in der Rebound-Gesellschaft

(Bild: Kowit Lanchu/Shutterstock.com)

Effizienz aus Forschung und Entwicklung wird im Handumdrehen durch steigende Leistung zunichte gemacht. Doch wer trägt die eigentlich die Schuld daran?

Rückblick: Letze Woche ging es um die Frage, ob KI eine Bedrohung für den Klimawandel ist oder ob im Gegenteil neue Chips und Mikro-KI für die Hosentasche Hoffnungen nähren auf drastische Einsparungen in der Zukunft. Die Antwort lautete: Wir haben keine Ahnung [1]!

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Ein Beitrag von Timo Daum

(Bild: 

Timo Daum/Fabian Grimm

)

Timo Daum, geboren 1967, Timo Daum ist Physiker, kennt sich mit dem Digitalen Kapitalismus aus, ist Gastwissenschaftler beim Institut für digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung in Berlin. Zuletzt ist im Frühjahr 2019 sein Buch "Die Künstliche Intelligenz des Kapitals" bei der Edition Nautilus erschienen.

Wenn selbst Expertinnen und Experten bei einer so einfachen, gleichwohl wichtigen Frage wie dem zukünftigen Energiebedarf von KI-Technologien, in ihren Prognosen meilenweit auseinanderliegen, dann dürfte eins klar sein: Die Frage ist keine rein technische, sondern eine gesellschaftliche. Im zweiten Teil geht es um die Frage, woher diese gesellschaftliche verallgemeinerte Verschwendungssucht kommt, die erzielte Effizienzsteigerungen regelmäßig zunichte zur machen vermag.

Als Rebound (Rückstoß) bezeichnet man in der Ökonomie von Energieflüssen, dass Einsparpotenziale von Effizienzsteigerungen teilweise oder ganz von Sekundäreffekten zunichte gemacht werden. Wenn zum Beispiel Autos weniger verbrauchen, dafür aber mehr oder schneller gefahren wird. Oder wenn Fortschritte in der Motoren- und Getriebetechnik, die zu einer Reduzierung des Verbrauchs führen könnten, durch höhere Motorisierung, schwerere Fahrzeuge kompensiert oder sogar überkompensiert werden, dann spricht man von backfire, auf gut Deutsch: der Schuss geht nach hinten los.

Ein Beispiel: In den letzten Jahren wurden zwar Verbrennungsmotoren immer sparsamer, der Schadstoffausstoß sank ebenfalls beträchtlich, diese Verminderungen wurden aber durch einen gegenläufigen Trend mehr als ausgeglichen: Der Trend zu immer größeren, schwereren, stärker motorisierten und üppiger ausgestatteten Fahrzeugen [5] hat die Erfolge in der Weiterentwicklung der Technik zunichte gemacht – Sports Utility Vehicles (SUV) wurden erfunden.

Anfangs ließ kaum jemand ein gutes Haar an den offensichtlich dysfunktionalen Geländewagen für die Stadt, selbst Autozeitschriften ließen die neuen Monster durchfallen, schnitten sie doch im Vergleich zu Kombis durchweg schlechter ab: mehr Verbrauch, weniger Platz, schlechtere Fahreigenschaften, höhere Verletzungsrisiken für Unfallgegner und dergleichen mehr.

Und doch machen sie mittlerweile mehr als 30 Prozent des Marktes aus [6], letztes Jahr wurden erstmals eine Million solcher Fahrzeuge in Deutschland zugelassen. Doch wer ist schuld daran, die Kunden, die nun einmal SUV nachfragen, wie oft zu hören ist? Oder die Hersteller, die mit intensiven Werbekampagnen diese Nachfrage erst befeuert haben? Oder vielleicht der Staat, der solche Fahrzeuge auch noch steuerlich fördert?

Wir fragen einen, der es wissen muss, den ehemaligen Daimler-Chef Dieter Zetsche: "Geländewagen haben höhere Margen als andere Pkw". Damit wäre das also geklärt, wir können das auch gerne Kapitallogik nennen. Mit dem Slogan "Sie jagen gern Abenteuer in der Großstadt?" wollte Daimler übrigens im vergangenen Jahr eigentlich den Mercedes-Benz GLE Coupé bewerben; nach einem Unfall mit vier Toten im Zentrum von Berlin zog Daimler die Kampagne zurück.

Der Geländewagen für Papa ist nur ein relativ junger Höhepunkt einer alten Geschichte. Fast einhundert Jahre ist es her, dass der Automanager Alfred P. Sloan einen Einfall hatte: Wie wäre es, fragte er sich, wir würden Kunden Autos verkaufen, die schon eins haben, das obendrein auch noch vortrefflich funktioniert? Niemand geringeres als der damalige Chef von General Motors, hatte diese für damalige Verhältnisse unerhörte Idee. Um dieses Kunststück zu erreichen regte er, die "Änderungen am neuen Modell sollten so neu und attraktiv sein, dass eine Nachfrage entsteht [...] bis zu einer gewissen Unzufriedenheit mit früheren," schreibt Sloan in seinen Memoiren. So gelang der amerikanischen Automobilindustrie mitten in der Weltwirtschaftskrise eine bahnbrechende Erfindung.

Heute nennen wir das dynamische oder auch psychologische Obsoleszenz, und Chef Sloan gebührt die zweifelhafte Ehre, sie erfunden zu haben. Letztendlich sollte diese Strategie der Einführung von Produkten mit bewusst begrenzter Haltbarkeitsdauer – sei es weil diese schnell kaputt gehen, nicht mehr kompatibel sind, ästhetisch gealtert sind und dergleichen – zu einem Schlüsselelement der amerikanischen (und globalen) Konsumwirtschaft werden.

Sloan leistete Pionierarbeit in der Autobranche, doch schon bald erfreute sich seine Idee breiter Akzeptanz. Die Ökonomin und Autorin von Bestsellern für Haushaltsführung, Christine Frederick, die maßgeblich an der Entwicklung der Frankfurter Küche beteiligt gewesen war, schrieb im Jahr der Weltwirtschaftskrise 1929 in ihrem Bestseller Selling Mrs. Consumer [7] (auf Deutsch etwa: Wie verkaufe ich an Frau Konsumentin?): "Der Weg aus der bösartigen Sackgasse eines niedrigen Lebensstandards führt über großzügiges Ausgeben und sogar über kreative Verschwendung."

Nahm sich Sloan seine überwiegende männliche Kundschaft zur Brust, versucht Frederick in der Domäne weiblich bestimmten Konsums Obsoleszenz salonfähig zu machen: "Das Maschinen- und Energiezeitalter macht es nicht nur möglich, sondern auch unerlässlich, in den Haushalten die Doktrin der kreativen Verschwendung anzuwenden."

Von einer "Doktrin der Verschwendung" mag heute niemand mehr sprechen, das Vokabular hat sich geändert, die Kernidee ist dieselbe geblieben, die Wirtschaft muss angekurbelt werden, Wachstum sein Gradmesse – bis heute volkswirtschaftlicher Mainstream. SUV-Papa und Mrs. Consumer werden, daran hat sich nicht viel geändert, dazu angehalten, aus freien Stücken zu verschwenden, "kreativen Müll" (creative waste) anzuschaffen.

Bemerkenswert ist Fredericks Begründung für das Prinzip, nicht die Befriedigung von Bedürfnissen ist das Ziel, wir haben es ihr zufolge mit einem systemischen Imperativ zu tun: Die Industrie ermöglicht nicht nur die Verschwendung, sie fordert sie gleichzeitig ein, zieht sie zwangsläufig nach sich, macht sie zwingend erforderlich! Sie stellt auch die Verbindung zu Energie und Maschinen, erst mit der Industrialisierung ist so eine Ideologie überhaupt erst möglich, das Wachstum, wie wir es heute kennen, ist untrennbar verbunden mit der Entfesselung der fossilen Energieträger.

Im Jahr 1825 war England, die Wiege der Industrialisierung, für 80 Prozent der weltweiten menschengemachten CO2-Ausstoss verantwortlich, 1850 immer noch 60 Prozent. Mit der industriellen Revolution ging auch die Ausbeutung fossiler Energiequellen im Weltmaßstab einher, Kohle wurde nicht mehr zum Heizen verfeuert, sondern wurde zum Treibstoff der gesamten Industrie. Der Zusammenhang von Industrie und fossilen Energieträgern, die Fabriken des Industrialismus wurden nicht mehr wie die Mühle am rauschenden Bach entsprechend natürlicher Gegebenheiten positioniert, sondern ganz und gar von diesen unabhängig gemacht, Rohstoffe, Energie und Arbeitskräfte wurden mobil, diese mussten fortan zur Fabrik bewegt werden, zu den Arbeitsplätzen, anstatt umgekehrt.

Das Wachstum der Wirtschaft ist seit den Zeiten der Industrialisierung untrennbar verbunden mit einer Zunahme der Konsumption fossiler Energie. Der preisgekrönte schwedische Autor Andreas Malm definiert den fossilen Kapitalismus als "eine Wirtschaft des selbsttragenden, eigenständigen Wachstums, die auf der wachsenden Konsumtion fossiler Brennstoffe beruht und daher ein anhaltendes Wachstum der Kohlendioxidemissionen nach sich zieht." Auch in Malms Definition des fossilen Kapitalismus sind Wachstum und Konsumption zentral, es muss immer aufwärts gehen!

Auch im Digitalen hat sich diese Logik breitgemacht: Jedes Jahr ein neues Smartphone muss es sein. Zusätzlich zur ästhetischen kommt auch noch die Obsoleszenz durch Software: Alte Geräte werden nicht mehr unterstützt, der Zwang, nachzuziehen ist allgegenwärtig. Doch das Hauptaugenmerk der Verschwendung im Digitalen hat sich von der Hardware auf die Nutzung von Software und digitaler Dienste verschoben.

Für die Digitalkonzerne aus dem Silicon Valley und deren Pendants aus China stehen immer neue Rekorde in punkto Nutzerzahlen, Traffic, Content im Vordergrund. Die Wachstumslogik des digitalen Kapitalismus lässt sich mit der aus der Spieleindustrie bekannte Formel "time on device" ausdrücken, der Maximierung der Zeit, die wir mit Geräten verbringen, Content produzieren oder konsumieren, verwertbare Aktivität an den Tag legen.

Wir kennen das von YouTubes Empfehlungs-Engine [8], die uns – so ein weitverbreitete Bezeichnung dafür – zum Dauerkonsum anregen soll. Das dahinterstehende Paradigma heißt – in gewohnt amerikanisch-unverblümter Weise – "Addictive Design". Hier wird nicht verhehlt, was das Konzept von seiner Zielgruppe und deren freiem Willen hält: nicht viel. Sie werden eher als Drogenabhängige gesehen, denn als mit freiem Willen begabte Kundinnen und Kunden. Appelle an die User, die Autoplay-Funktion bei Videos zu deaktivieren, weniger Cloud-Services zu nutzen, öfter mal offline zu gehen, bleiben angesichts solch brachialer Methoden seltsam zahnlos.

Datensparsamkeit? Fehlanzeige! Eigentlich lautet ja das erste Gebot und Grundregel des Datenschutzes, je weniger Daten erhoben werden, desto geringer die Missbrauchsmöglichkeiten, woraus sich das Prinzip ableitet, so viele Daten wie nötig, aber gleichzeitig so wenig wie möglich zu erfassen. Demgegenüber ist das Prinzip von Big Data [9] (der Name lässt ja schon nichts Gutes ahnen, erinnert er doch an Big Oil oder Big Car): erstmal so viel wie möglich Daten sammeln und hinterher schauen, was damit gemacht werden kann.

Im angelsächsischen Marketing-Jargon heißt es, wer Big Data verstehen möchte, brauche sich nur die drei Vs zu merken, sie stehen für: Velocity, Variety, Volume, also Geschwindigkeit, Vielfalt, Volumen. "Diese drei Vektoren beschreiben, wie sehr sich Big Data vom Datenmanagement der alten Schule unterscheidet" proklamiert ein entsprechender Artikel auf zdnet [10]. Kein Wunder, sprießen die Datencenter wie die Pilze aus dem Boden.

kentoh/Shutterstock.com

(Bild: kentoh/Shutterstock.com)

Dabei stellt sich die Frage, warum eigentlich? Was ist eigentlich so schlimm an Weniger als letztes Jahr oder auch nur gleich viel? Wer das Weniger fürchtet wie der Teufel das Weihwasser ist die sogenannte Wirtschaft, um die sich derzeit mal wieder alle Sorgen machen. Es nützt gar nichts, wenn Äcker mehr Ernte abwerfen, Maschinen mehr leisten, Rechner höher getaktet sind, die Bandbreite von Netzwerken zunimmt. Es ist nicht genug, wenn alle zu essen haben, ein Dach über dem Kopf.

Es reicht noch nicht einmal, wenn die Leistung von Computern exponentiell steigt, was in Moores Gesetz zum Ausdruck kommt, oder der Energieaufwand pro Rechenoperation exponentiell abfällt, was die beeindruckende empirische Aussage von Koomeys Gesetz erläutert – wir als Nutzerinnen und Nutzer würden uns damit vollauf zufrieden geben. Die Kapitallogik spricht aber eine andere Sprache bzw. misst in anderen Einheiten, es muss mehr verdient werden, und zwar in Euro oder Dollar. Denn wenn Dr. Zetsche von "Margen" spricht ist deren Maßeinheit bekanntlich nicht Kilogramm, MegaWatt, GigaHertz oder MegaBit/s, sondern Dollar oder Euro.

Keine Wunder also, dass alle Exponentielle stoffliche Verbesserungen, dass alle Energieeinsparungseffekte, selbst so beeindruckenden, wie die in Koomeys Gesetz [11] zum Ausdruck kommende, nicht reichen, um zufrieden zu sein. Alle teilweise atemberaubenden Effizienz-Effekte werden überkompensiert durch das Wachstums-Paradigma, oder anders ausgedrückt: durch den gesellschaftlichen Zwang zu "kreativer Verschwendung", die ausgabefreudige kleine Schwester der "kreativen Zerstörung", so ein anderes Konzept, das auf den Ökonomen Schumpeter zurückgeht, und mit dem dieser den Drang des Kapitalismus bezeichnete, seine eigenen Grundlagen zu zerstören und immer wieder neu aufzubauen; und das sich in der digitalen Welt als Feier der "disruptiven Innovation" erstaunlicher Beliebtheit und Aktualität erfreut.

Derzeit ist es aufgrund der Corona-Krise still geworden um die Marktschreier, niemand äußert derzeit, der Markt soll es richten, Wettbewerb sei gut, Konkurrenz belebe das Geschäft, zu viel staatliche Intervention sei schlecht. Und auch die notorischen Innovatoren aus dem Silicon Valley, aus den Reihen "der Wirtschaft" sind nicht zu vernehmen, der bisher größte Hackathon wird von der Bundesregierung organisiert, nicht von Google oder SAP.

Aber es wird sicher eine Zeit kommen, in der sie wieder lauter werden, das befürchtet auch der Soziologe Hartmut Rosa [12], der die derzeitige Entschleunigung mit Verblüffung zur Kenntnis nimmt, aber befürchtet: "Vermutlich wollen wir danach das Wachstum wieder ankurbeln. Leute sollen konsumieren, Geld ausgeben, produzieren – zurück in die Beschleunigung."

Solange sich daran nichts ändert, solange Verschwendung intrinsisch ist, werden wir den Rebound-Effekt niemals los. Oder anders ausgedrückt: Wachstum – it’s a bug, not a feature. (bme [13])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4692296

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/meinung/Missing-Link-Kuenstiche-Intelligenz-und-Nachhaltigkeit-und-ewig-gruesst-der-Rebound-Effekt-4687039.html
[2] https://www.heise.de/thema/Missing-Link
[3] https://edition-nautilus.de/programm/die-kuenstliche-intelligenz-des-kapitals/
[4] https://edition-nautilus.de/programm/das-kapital-sind-wir/
[5] https://www.heise.de/news/Deutsche-stehen-auf-SUV-und-Gelaendewagen-4139090.html
[6] https://www.heise.de/news/2019-erstmals-mehr-als-eine-Million-SUV-und-Gelaendeautos-zugelassen-4611165.html
[7] https://archive.org/details/sellingmrsconsum00fredrich/mode/2up
[8] https://www.heise.de/hintergrund/Forscher-YouTube-wird-seinen-Empfehlungsalgorithmus-noch-zielgenauer-machen-4543717.html
[9] https://www.heise.de/thema/Big-Data
[10] https://www.zdnet.com/article/volume-velocity-and-variety-understanding-the-three-vs-of-big-data/
[11] https://en.wikipedia.org/wiki/Koomey%27s_law
[12] https://www.tagesspiegel.de/politik/soziologe-hartmut-rosa-ueber-covid-19-das-virus-ist-der-radikalste-entschleuniger-unserer-zeit/25672128.html
[13] mailto:bme@heise.de