Missing Link: Milliardenplan für neuen Teilchenbeschleuniger – nutzt das der Physik?

Am LHC am CERN wurde das Higgs entdeckt, nicht viel mehr. Jetzt soll ein größerer Teilchenbeschleuniger folgen. Sabine Hossenfelder fordert ein Innehalten.

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Missing Link: Milliardenplan für neuen Teilchenbeschleuniger – Muss das sein?

(Bild: CERN)

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  • Sabine Hossenfelder
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Zwischen dem Genfer See und dem Schweizer Jura, 100 Meter unter dem Boden, verläuft ein 27 Kilometer langer Tunnel im Kreis – darin: Heliumgekühlte, supraleitende Magnete. Dort werden Protonen bis nahezu auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und kontrolliert zur Kollision gebracht. Detektoren fangen dann die bei der Kollision entstandenen Teilchen auf und untersuchen sie. So ein Detektor kann schon mal ein paar Tausend Tonnen wiegen.

Sabine Hossenfelder

© Joerg Steinmetz

Sabine Hossenfelder ist theoretische Physikerin und widmet sich in ihrer Arbeit vor allem der Quantengravitation und der Physik jenseits des Standardmodells. Gegenwärtig ist sie Research Fellow am Frankfurt Institute for Advanced Studies. 2018 erschien ihr Buch "Das hässliche Universum".


Wenn die Protonenstrahlen kollidieren, entstehen riesige Datenmengen, die von Supercomputern verarbeitet und ausgewertet werden. Die Computer berechnen, welche Teilchen in welcher Menge in welche Richtung geflogen sind. Davon erhoffen sich Physiker Erkenntnisse über den Aufbau der Materie.

Seit 2009 wird dieser "Große Hadronenbeschleuniger" (LHC) von der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf betrieben. Mit Kosten von etwa 5 Milliarden Euro ist der LHC eines der teuersten Experimente, das je aufgebaut wurde. Und dabei war der Bau noch billig, denn das CERN verwendete dazu den bereits vorhandenen Tunnel eines älteren Beschleunigers. In die 5 Milliarden sind die laufenden Kosten nicht eingerechnet. Das sind nochmal etwa 1 Milliarde Euro pro Jahr.

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Was haben wir nun gelernt vom LHC? Im Jahr 2012 verkündete das CERN, man habe das Higgs-Boson gefunden. Dieses elementare Teilchen wurde in den 60er Jahren vorhergesagt. Es wird gebraucht, um zu erklären, warum andere elementare Teilchen Masse haben. Die Bestätigung der Higgs-Theorie war ein großer Triumph der Wissenschaft.

Neben dem Higgs-Boson haben Physiker am LHC einige neue nicht-elementare Teilchen gesehen, die aus bekannten elementaren Teilchen zusammen gesetzt sind. Diese zusammengesetzten neuen Teilchen sind alle instabil und zerfallen bevor sie überhaupt den Detektor treffen. Man rekonstruiert sie dann aus den Zerfallsspuren. Der LHC hat Physikern auch geholfen, die Struktur des Protons besser zu verstehen und die Eigenschaften von einigen Teilchen, zum Beispiel Massen und Zerfallszeiten, besser zu bestimmen. Die Teilchenphysiker sind glücklich.

Doch was nun? Das Higgs-Boson war das letzte fehlende Teilchen im "Standardmodell der Teilchenphysik." Dieses Standardmodell sieht so ähnlich aus wie das Periodensystem, funktioniert aber komplett anders. Das Standardmodell geht nämlich nicht immer weiter, in immer wieder neuen Reihen; es ist irgendwann einfach komplett. Irgendwann, das war 2012.

Die Teilchenphysiker hoffen dennoch, dass es weitere Teilchen zu entdecken gibt, und dafür möchten sie nun gerne einen größeren Beschleuniger. Daher legte eine Internationale Arbeitsgruppe vergangenen Monat Pläne für den "Future Circular Collider" (FCC) vor. Der am CERN angesiedelte FCC bräuchte einen neuen Kreistunnel, diesmal mit 100 Kilometer Umfang, und außerdem neue Magnete und bessere Detektoren. Geschätzte Kosten: 20 Milliarden Euro.

Pläne für den Future Circular Collider (FCC) (11 Bilder)

Hier soll der FCC verlaufen.
(Bild: CERN)


Es ist inzwischen klar: Der LHC hat die Hoffnungen vieler Forscher nicht erfüllt, zumindest nicht bisher. Die Physiker Lawrence Krauss, Robert Dijkgraaf, Lisa Randall, und auch der Nobelpreisträger Gerard ’t Hooft haben ihre Enttäuschung öffentlich kund getan. Sie geben die allgemeine Stimmung in der Teilchenphysik wieder. Das Higgs zu finden war zwar die Hauptmotivation für den LHC, aber viele Physiker hofften auf mehr. Seit Jahrzehnten hatten sie vom Entdeckungspotenzial des Superbeschleunigers geschwärmt. Der Teilchenphysiker Adam Falkowski drückte es 2017 so aus: "Das Gefühl [in der Teilchenphysik] ist im besten Fall Verwirrung und im schlimmsten Fall Depression."

Am vielversprechendsten fanden Physiker die sogenannte "Supersymmetrie". Laut dieser Hypothese gibt es zu jedem bekannten Teilchen ein Partnerteilchen mit größerer Masse. Weil die Partnerteilchen jedoch große Massen haben, braucht man große Energien, um sie zu produzieren. Man braucht halt einen Riesenbeschleuniger. Der Theorie der Supersymmetrie wird eine herausragende Schönheit zugesagt. Seit den 80er Jahren wurden tausende von Fachartikeln über supersymmetrische Teilchen geschrieben. Gesehen hat man noch keins.

Weitere populäre Ideen für tolle Dinge, die der LHC finden sollte, waren zusätzliche Raumdimensionen und winzige schwarze Löcher und Teilchen, die die sogenannte "Dunkle Materie" ausmachen (aus der laut Astrophysikern 85% der gesamten Materie des Universums besteht). Man erhoffte sich des Weiteren Einsichten zur Dunklen Energie und zu der Frage, warum das Universum mehr Materie als Antimaterie enthält.

Deshalb verschieben die Teilchenphysiker ihre Hoffnungen jetzt auf den nächstgrößeren Beschleuniger. Die Methode ist nicht neu. Schon im Jahre 1996 schrieben die Stringtheoretiker David Gross und Edward Witten im Wall Street Journal: "Es gibt eine große Wahrscheinlichkeit, dass Supersymmetrie, wenn sie die Rolle spielt, die Physiker vermuten, im kommenden Jahrzehnt bestätige wird." Das war wohl zu optimistisch.

Im Jahre 2004 schrieb Fabiola Gianotti – die derzeit amtierende Direktorin des CERN – von Theorien wie der Supersymmetrie und zusätzlichen Raumdimensionen. Diese, so Gianotti, seien eine "starke Motivation für eine Maschine wie den LHC, der in der Lage ist, diesen Energiebereich direkt und im Detail zu untersuchen". 2007 meinte der Teilchenphysiker Michael Dine ganz ähnlich in Physics Today, dass der LHC "entweder eine spektakuläre Entdeckung machen, oder die Supersymmetrie vollständig ausschließen wird." Man erwartete, dass der LHC die neuen Teilchen sofort sieht.

Dann fing der LHC an zu messen, doch die neuen Teilchen tauchten nicht auf. Physiker trösteten sich, dass es vielleicht doch nicht so einfach sei und man eben auf mehr Daten warten müsste. Noch im Jahr 2012 schrieb der Teilchenphysiker Gordon Kane in Nature: "Die Eigenschaften und die Masse des am LHC gefundenen Higgs-Boson legen nahe, dass Physiker bald die supersymmetrischen Partnerteilchen finden werden, und dass wir begonnen haben, Stringtheorie mit der Realität zu verbinden."

Inzwischen ist es 2019 und nichts dergleichen ist passiert. Laut den Theorien der Teilchenphysiker hätte der LHC die neuen Teilchen lange sehen sollen. Wir wissen daher jetzt, dass die zuvor gemachten Vorhersagen alle falsch waren.

Natürlich könnte trotzdem noch etwas zu finden sein, entweder in den Daten, die noch nicht ausgewertet sind, oder in der nächsten Phase der Experimente. Es könnte auch etwas sein, was keiner vorhergesagt hat.

Aber je länger der LHC läuft, und je mehr Messungen gesichtet wurden, ohne etwas Neues zu finden, desto klarer machen uns die Physiker, dass man ihre schönen Theorien nicht ausschließen kann. Die Teilchen könnten ja einfach noch mehr Masse haben, als gedacht. Und um das zu testen, braucht man einen größeren Beschleuniger.

2008 war der Teilchenphysiker Howard Baer noch besorgt, dass das Signal der neuen Teilchen am LHC so dominant sein könnte, dass es die Kalibrierung der Detektoren ruinieren würde. Heute schreibt er, dass man nicht erwarten sollte, dass der LHC schon Teilchen hätte finden sollen. Die könnte man erst bei höheren Energien sehen.

Es gibt gute Gründe davon auszugehen, dass das Standardmodell der Teilchenphysik nicht vollständig ist. Die Supersymmetrie ist keiner davon. Extradimensionen auch nicht. Aber viele Physiker erwarten, dass es von einer Art Teilchen im Standardmodell – den Neutrinos – noch drei weitere gibt. Man braucht die zusätzlichen Neutrinos, um aus der Mathematik des Standardmodells Sinn zu machen.

Im Gegenteil jedoch zu den bereits bekannten Neutrinos, die sehr leicht sind, sind die noch fehlenden Neutrinos sehr schwer. Wie schwer genau, weiß leider keiner. Man weiß nur, bei welchen Energien man sie spätestens finden sollte. Das ist mehr als eine Billion Mal höher, als was man heute am LHC testen kann. Der FCC würde Energien erreichen, die lediglich 6-mal so hoch sind wie die des LHCs. Vielleicht gibt es die Teilchen auch nicht.

Weiter fehlt im Standardmodell die Gravitation, und wenn man die miteinfügt, sollte man bei extrem hohen Energien neue Effekte sehen, zum Beispiel die benannten winzigen Schwarzen Löcher. Aber wenn man abschätzt, bei welchen Energien solche Effekte messbar werden, findet man auch hier, dass diese Energien viele Größenordnungen über denen des FCCs liegen können. Um den Energiesprung abzudecken, müsste ein Beschleuniger mit heutiger Technologie einen Radius ähnlich dem der Milchstraße haben. Dazu sind selbst 20 Milliarden Euro nicht genug.

Ja, und die Dunkle Materie. Eigentlich sind Physiker sich nicht mal einig, dass es ein Teilchen ist. Und selbst wenn es ein Teilchen ist, gibt es keinen besonderen Grund, warum der FCC es sehen sollte. Es könnte natürlich sein. Ausschließen kann man das nicht, bevor man es nicht versucht hat.

Genau so steht es mit der Dunklen Energie und der Frage, wieso es so wenig Antimaterie gibt im Universum: Ein großes Vielleicht. Dass der FCC uns damit weiterhelfen könnte, ist eine vage Hoffnung. Man kann nicht beweisen, dass es unmöglich ist. Aber wissenschaftliche Argumente, dass ein größerer Beschleuniger hier Einsichten bringen würde, haben die Physiker keine.

Für den LHC war das natürlich auch schon so. Aber damals hatte man zudem noch die Vorhersage für das Higgs. Das war eine gute Vorhersage, denn das Higgs musste im Energiebereich des LHCs zu finden sein, sonst funktioniert das Standardmodell nicht. Aber jetzt, da das Standardmodell vollständig ist, gibt es keinen guten Grund, wieso es an einem größeren Beschleuniger noch etwas Neues zu finden geben sollte.

Wozu also eine weitere Riesenmaschine bauen? Naja, man kann damit die Eigenschaften der bekannten Teilchen und deren Wechselwirkungen noch besser vermessen. Insbesondere für das Higgs-Boson interessieren sich die Teilchenphysiker, weil das noch so neu ist. Aber wäre das eine gute Investition?

In der Beschleunigertechnologie hat es seit den 90er Jahren keine nennenswerten Fortschritte gegeben. Magnete werden in Babyschritten etwas stärker, aber die ausschlaggebende Maßnahme, um höhere Energien zu erreichen, ist immer noch, längere Tunnel zu graben. Man muss Beschleuniger in Tunneln vergraben, weil sie im Betrieb gesundheitsschädliche Strahlung abgeben. Diese Strahlung ist zwar sehr kurzlebig und hinterlässt keine dauerhafte radioaktive Belastung, aber man sollte besser nicht daneben stehen, wenn das Ding läuft. Deshalb also die teuren Tunnel; da kommt man nicht drum rum.

Nun ist es aber so, dass es derzeit zwei aktive Forschungsbereiche gibt, die in den nächsten Jahrzehnten zu großen Fortschritten in der Beschleunigertechnologie führen könnten. Der eine ist Hochtemperatursupraleitung. Diese würde es wesentlich einfacher (und hoffentlich billiger) machen, die für Beschleuniger nötigen, starken Magnete herzustellen. Der andere ist die sogenannte "Plasma Wakefield Acceleration", eine komplett neue Methode, um Teilchen zu beschleunigen.

Mit der Plasma Wakefield Acceleration haben Forscher es inzwischen geschafft, auf nur einem Meter Beschleunigungsstrecke Energien zu erreichen, für die man mit den üblichen Magneten 1 Kilometer brauchen würde. Das ist eine wahrlich erstaunliche Leistung. Jedoch sind die Gesamtenergien, die man mit Plasma Wakefield Acceleration derzeit erreichen kann, immer noch etwa um einen Faktor Zehntausend unter den Energien, die der nächstgrößere Beschleuniger erreichen sollte.

Diese beiden neuen Beschleunigertechnologien sind vielversprechend, aber im Moment einfach noch nicht einsatzfähig. Wir können nicht vorausplanen, wann man denn damit rechnen darf; in den nächsten 10 Jahren aber sicherlich nicht.

Natürlich hätte ein wissenschaftliches Großexperiment mit 20 Milliarden Euro in Finanzierungsmitteln positive Einflüsse auf die Ausbildung von Nachwuchsforschern und auf die Wissenschaftskollaboration. Die eingebundenen Industriesektoren würden zweifellos auch profitieren. Aber solche Auswirkungen erwartet man von jedem Experiment dieses Ausmaßes, und daher sind solche Nebenwirkungen zwar begrüßenswert, aber keine guten Gründe, um ausgerechnet in einen Beschleuniger zu investieren.

Genauso schwammig ist das Argument, dass man eben einfach unerforschte Bereiche untersuchen muss, vielleicht hat man Glück und findet was Neues. Es stimmt zwar durchaus, dass man Glück haben könnte, aber natürlich ist das für alle Experimente in der Grundlagenforschung so. Anstatt höhere Kollisionsenergien zu erreichen, kann man auch höhere Präzision bei niedrigen Energien anstreben. Oder höhere Auflösung mit besseren Teleskopen. Oder höhere Zahlen von Teilchen in Quantenkollektiven. "Vielleicht finden wir was Neues", lässt sich in jedem dieser Beispiele anwenden.

Hinzu kommt, dass die Suche nach etwas Neuem in den Grundlagen der Physik schon seit 40 Jahren nicht funktioniert. Seitdem die Mathematik des Standardmodells in den 70er Jahren fertiggestellt wurde, waren alle weiteren Vorhersagen für neue Effekte, die das Standardmodell nicht beinhaltet, falsch. Wenn Physiker von diesen Fehlern nicht lernen, ist das ist nicht nur Pech, sondern schlechte Wissenschaft.

So dachte man nach der Fertigstellung des Standardmodells, es solle eine "Große Vereinheitlichte Kraft" geben, die zu Protonenzerfall führt. Man hat Experimente gebaut und danach gesucht, aber nichts gefunden. Seit Mitte der 80er sucht man außerdem auch nach Teilchen, die die Dunkle Materie ausmachen sollen. Aber trotz dutzenden von Experimenten hat man nicht gefunden. Genauso lief es jetzt mit der Suche nach Supersymmetrie und Extradimensionen. Anstatt sich auf gutes Glück zu verlassen, sollten Physiker daher lieber darüber nachdenken, wieso ihre Vorhersagen so miserabel sind.

Der einzige Aspekt, in dem Teilchenbeschleuniger wirklich hervorstechen, sind die Kosten. In den Grundlagen der Physik sind die nächstteuren Experimente große Teleskope, oder – noch teurer – große Teleskope auf Satelliten. Aber selbst die Kosten für das James-Webb-Weltraumteleskop der NASA werden Schätzungen zufolge "nur" etwa 9 Milliarden Euro betragen.

Die Aufgabe dieses Teleskops ist es unter anderem, junge Galaxien zu studieren. Das wird uns helfen, Dunkle Materie besser zu verstehen. Ein Experiment, was noch mehr Geld kostet, sollte eine noch bessere wissenschaftliche Motivation haben. Diese gibt es für einen nächstgrößeren Beschleuniger aber derzeit nicht.

20 Milliarden Euro sind eine Menge Geld. Wenn sie die in 100-Euro-Scheinen um den Äquator legen, komme ich gerne zum Aufsammeln. Mit solchen Summen bewegt man was. Und mit Einfluss kommt Verantwortung.

Man kann sich natürlich allgemein die Frage stellen, ob es nicht wichtigere Investitionsziele gibt, als die Grundlagenforschung der Physik. Weil in Afrika verhungern Kinder und Klimawandel und Energiekriese und Sie-wissen-schon. Auch ich habe Verwandte, die an Krebs gestorben sind, und wünschte, man könnte diese Krankheit endlich heilen. Dies sind akute, aktuelle Probleme, die unsere Aufmerksamkeit – und auch unsere Finanzmittel – erfordern.

Trotzdem darf man Langzeitinvestitionen in unsere Zukunft nicht vergessen. Die Technologien, die heute unseren Fortschritt antreiben, beruhen allesamt auf Durchbrüchen in den Grundlagen der Physik. Transistoren, Mikrochips, LASER, LEDs, Digitalkameras, und vielleicht auch bald Quantencomputer: Alles Physik. Genauso ist es mit bildgebenden Verfahren in der Medizin: Röntgen, Ultraschall, Spektroskopie, Magnetspinresonanz, Emissionscomputertomographie, Rastertunnelmikroskope. Es gibt keinen Zweifel, ohne Grundlagenforschung in der Physik wären wir heute nicht, wo wir sind.

Und es gibt mehr zu entdecken. Nicht nur die Probleme mit der Dunklen Materie und mit der Quantisierung der Gravitation sind schon seit 80 Jahren ungelöst. Auch gibt es in der Quantentheorie selbst etliche Ungereimtheiten, mit deren Klärung man Durchbrüche erreichen könnte. Es gibt zudem Labormessungen, die man mit den existierenden Theorien nicht in Einklang bringen kann, zum Beispiel bei der Lebenszeit des Neutrons, dem Radius des Protons, und dem magnetischen Moment des Muons. Das Higgs genauer zu vermessen ist nicht das Einzige, was Physiker noch tun können.

Also, ja, Grundlagenforschung in der Physik ist wichtig, und fertig sind die Physiker dort lange nicht. Investitionen in diesen Fachbereich sind daher wohlbegründet. Aber genau in was investieren? Dieser Frage sollten sich die Physiker in der Grundlagenforschung gemeinsam annehmen. Gebraucht wird eine Analyse der Fehlschläge der letzten Jahrzehnte und eine feldübergreifende Diskussion.

Die Pläne für den Future Circular Collider werden dieses Jahr im Mai zusammen mit anderen Plänen auf einem Strategiekongress der Europäischen Teilchenphysiker diskutiert. Das ist gut. Aber dort geht es um die Frage "Teilchenphysik oder Teilchenphysik?" Hingegen werden viele der Motivationen für einen nächstgrößeren Beschleuniger – Dunkle Materie, Dunkle Energie, fehlende Antimaterie – auch in der Astrophysik und Kosmologie verfolgt. Deshalb muss man diese Bereiche mit einbeziehen. Und kleine Forschungsbereiche, die wichtige Beiträge machen können, wie etwa die Quantengravitation oder die Grundlagen der Quantenmechanik, werden bei solchen Planungen häufig komplett übersehen.

Ohne eine gemeinsame Strategie in den Grundlagen der Physik besteht das Risiko, dass letzten Endes die finanziert werden, die am meisten Einfluss haben. Und das sind in der Regel die, die sowieso schon am meisten Geld und am meisten Personal haben. Auf die Art und Weise macht man keinen Fortschritt, man macht mehr von dem, was man vorher auch schon gemacht hat.

Im Dezember 2018 endete die zweite Messphase am LHC. Der Beschleuniger wird jetzt weiter ausgebaut, um dann weitere Kollisionen bei etwas höherer Energie zu machen, voraussichtlich ab Mitte 2020. Danach gibt es einen weiteren Ausbau, der bis 2025 fertiggestellt sein soll. Der Zweck des zweiten Ausbaus ist nicht, die Energie weiter zu erhöhen, sondern die Anzahl der Kollisionen pro Zeit zu erhöhen. Mit mehr Kollisionen kann man besser zwischen wahren Signalen und statistischen Schwankungen unterschieden. Auch dabei gibt es noch Enddeckungspotential.

Wenn es nach Teilchenphysikern ginge, dann sollte der vorgeschlagene Future Circular Collider nach dem zweiten noch anstehenden LHC Ausbaus in Betrieb gehen. Dazu müsste der Bau am 100-Kilometer-Tunnel aber schon bald begonnen werden.

Die Daten von der zweiten LHC Messphase sind bisher nicht komplett ausgewertet, aber vermutlich müssen wir nicht mehr lange warten. In der Teilchenphysik versuchen die meisten experimentellen Kollaborationen für die jährliche Konferenz "Rencontres de Moriond" zumindest vorläufige Ergebnisse vorzulegen. Diese Konferenz wird am 16. März beginnen. Dann wird es spannend.

Sollte es in diesen Daten klare Hinweise auf neue Teilchen geben, wird der neue Beschleuniger zweifelsohne gebaut. Es wäre der größte Durchbruch seit der Erfindung des Steinkeils, zumindest wenn sie einen Teilchenphysiker fragten. Wenn das passiert, können Sie alles vergessen, was Sie gerade gelesen haben; die Diskussion Riesenbeschleuniger-oder-nicht wäre damit hinfällig.

Aber was, wenn es in den LHC Daten nichts Neues zu finden gibt? In dem Falle müssen die Teilchenphysiker wohl auf eine altbewährte Methode zurückgreifen: Denken. (mho)