Pro & Contra: Lässt sich Apple mit neuen Funktionen zu viel Zeit?

Die neuen iPhones sehen ihren Vorgängern zwar zum Verwechseln ähnlich, doch hat Apple ihnen einige Neuerungen verpasst. Die findet nicht jeder innovativ.

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Artikel aus Mac & i Heft 5/2016, Seite 7

Holger Zelder wünscht sich von Apple wieder mehr Mut zu Innovationen.

Bei der letzten Keynote hatte ich mal wieder dieses Gefühl: „Das kenn ich doch schon“. Das stellt sich nicht durch Gerüchte und Fotos ein, die in den Wochen vor jeder Neuvorstellung kursieren. Sondern dadurch, dass ich die vermeintlich neuen Funktionen schon länger von der Konkurrenz kenne:

Smartphone-Kameras mit zwei Objektiven sind großartig, aber keine Erfindung aus Cupertino, sondern von HTC und Huawei. Samsung und Sony schützen ihre Premiummodelle schon seit einigen Jahren vor Spritzwasser - auch ohne den Klinkenstecker zu opfern. Die iPhone-Bildschirme besitzen zwar einen erweiterten Farbraum. Wie kräftig die Farben aber leuchten würden, wenn Apple OLED-Displays verbaut hätte, wie es viele andere Hersteller bereits jetzt tun? Bei anderen Produkten sieht es nicht besser aus: Die ersten Computer mit Thunderbolt 3? Keine Macs. Dabei war Apple treibende Kraft hinter dieser Schnittstelle. Vollständig drahtlose Ohrhörer? Sind schon länger erhältlich. GPS? Hätte bereits der ersten Apple Watch gut zu Gesicht gestanden!

Während Apple mit Retina-Displays oder Multitouch-Trackpads neue Maßstäbe setzte, scheint sich der Konzern hinsichtlich neuer Features momentan vor allem bei den Mitbewerbern zu orientieren. Der einstige Innovationsführer wirkt auf mich stellenweise wie ein müder Mitläufer.

Natürlich kann Apple nicht jedes Mal das Rad neu erfinden. Es passt aber nicht zu Apples Selbstverständnis, nur Features der Konkurrenz aufzugreifen und so auf einen zweiten Platz zu spekulieren. Auf iOS will ich keinesfalls verzichten. Aber wenn ein Neukauf ansteht, mag ich nicht neidisch ins Androidenlager schauen, weil das nächste große Ding dort schon seit ein paar Jahren zum guten Ton gehört. In Apples Schubladen schlummern reichlich ungenutzte Patente. Es wird wieder Zeit, den anderen zu zeigen, wie echte Innovationen aussehen. (hze)

Jeremias Radke schätzt, dass Apple Funktionen nicht irgendwie umsetzt, sondern sinnvoll.

Ich kann nur müde lächeln, wenn mir Kollegen wieder einmal erklären, dass Apple ja schon lange an Innovationskraft eingebüßt habe und andere Hersteller inzwischen schneller seien.

Wenn es darum geht, neue Funktionen nicht nur irgendwie umzusetzen, sondern so, dass man sie auch benutzen will, gibt Apple noch immer den Ton an. Beispiel Doppelkamera: Auf die Idee, das zweite Objektiv für die Simulation von Schärfentiefe zu verwenden, ist vor Apple noch keiner gekommen. Apple Watch und Apple Health rollen die Märkte für Fitness-Tracker und Smartwatches von hinten auf, weil sie besser durchdacht und sinnvoll auf das Wesentliche reduziert sind. Sogar Hersteller von klassischen Uhren bekommen das zu spüren. Klar ist auch die Sprachsteuerung keine Erfindung von Apple. Doch hat es niemand zuvor geschafft, diese Funktion so umzusetzen, dass auch Laien sie gerne benutzen. Inzwischen haben Google, Samsung und Amazon nachgezogen. Dass die jetzt scheinbar an Apple vorbeiziehen, spricht nicht gegen, sondern für Cupertino als Innovator.

Apple führt Neuerungen zudem mit Weitblick ein. Force-Touch zum Beispiel. Noch simuliert die Technik nur einen schnöden Tastendruck, ein Patentantrag zeigt aber, dass Apple Großes damit vorhat. Demnach sollen elektronisch gesteuerte Vibrationen beim Darüberfahren verschiedene Materialoberflächen simulieren, etwa eine Holzmaserung. Das nenne ich Innovation!

Es ist längst bekannt, dass Apple in seiner Hexenküche neue Produkte gerne über Jahre köcheln lässt, diese dann verwirft und stattdessen aus dem Gebrauten etwas Neues zaubert. iPad und iPhone sind Musterbeispiele dafür. Ich benutze die vielen kleinen Innovatiönchen, die Apple noch immer mit hartnäckiger Beständigkeit in neue und alte Produkte integriert, täglich und freue mich auf das nächste große One-More-Thing, das kommt, wenn die Zeit reif dafür ist. (jra)

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