Was war. Was wird.
"Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war." Hal Faber gedenkt und ärgert sich, bleibt aber lieber erst einmal bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Seit einer Woche sind sie da, die Experten des nationalsozialistisch-vaterländischen Untergrunds, die Pleiten und Pannen auflisten und von einer großen Portion Pech sprechen. Auch oben drüber wird gestöbert und wieder diskutiert, wie man die NPD verbieten kann. Neue Verbunddateien sollen her, ein weiteres Terror-Abwehrzentrum wie das GTAZ eingerichtet und auch die Vorratsdatenspeicherung soll wieder einmal ausgebaut werden. Betont skeptisch wird über die 39 Ersuchen zur Übermittlung von Verbindungsdaten aufgefundener Handys berichtet, garniert mit der Skepsis von BKA-Chef Ziercke, der die begrenzte Speicherpflicht für solche Daten beklagt. Ja, 10 Jahre speichern, wie dies die USA mit unseren Passagierdaten künftig machen dürfen, und schwupps, wäre das Rätsel um die Terrorzelle gelöst. Wer diesen Blödsinn wirklich glaubt, wird auch den Unsinn zur Vorratsdatenspeicherung auslöffeln, den Zierckes SPD-Genossen und -Genossinen zusammenrühren. Bis zu 24 Monate Speicherfrist verlangt die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Christine Lambrecht im Behördenspiegel, und auch die Beschlussvorlage für den kommenden Parteitag ist ganz unversehens so verändert worden, dass man im Kampf gegen den braunen Terror Härte zeigen kann.
*** Horch, sie singen Lieder.
Gläser klingen. Siehst du was?
Öffnet man die Kragen?
Ballt man schon die Hand ums Glas?
Nein, dies Lachen kenn ich –
alles ist noch halber Spaß.
Ich entsichre erst,
wenn man im Chor und Marschtakt lacht.
Wann beginnt die Nacht?
Nein, es ist niemals Feierabend, denn der braune Sumpf in den Köpfen ist immer da, das wusste der deutsche Barde Franz-Josef Degenhardt. Seine Lieder schwebten so frei über der freiheitlichen Grundordnung, dass sie in öffentlich-rechtlichen Kanälen nach den 70ern nicht mehr gespielt wurden. Wo es einen Untergrund gibt, gibt es einen Obergrund, wo das jahrelange Schlechtreden der Arbeitsmigranten und die Aushöhlung des Asylrechtes Humusboden sind für die da unten und ihre ganzen kleinen Adolfe, die den Marschtakt kennen. Um es mit der taz gereimt zu sagen - die Liedermacher von heute sind aushäusig und singen bei Occupy Burg Waldeck:
Zig Jahre kriegten die Ermittler
trotz Spurenlage nichts heraus.
Ein Hakenkreuz, ein Gruß von Hitler.
Das sah für sie nach Unfall aus.
*** An dieser Stelle auf einen vierzehn Jahre alten Text zum Verfassungsschutz zu verlinken, mag seltsam anmuten, denn die Zeiten haben sich ja soooo geändert. Nicht geändert hat sich jedoch die zweifelhafte Rolle des Verfassungsschutzes, darum ist dieser Text aktuell und sei, bei aller verquerer Hegelei, den ach so überraschten Politikern zur Lektüre empfohlen. In einer Demokratie ist ein Geheimdienst, der die transparente Demokratie kontrollieren soll, ein schlechter Witz. Über 100 V-Leute arbeiten heute in der rechten Szene und dokumentieren mit ihrer Arbeit die Nutzlosigkeit des Systems, das entstand, als alle die Ärmel aufkrempelten und sich ins Vergessen stürzten. An dieser Stelle müssten alle mutigen Journalisten stehen, die beharrlich mitverfolgen, was sich im braunen Dreck abspielt, doch greife ich neben dem verlinkten Burks einen Göttinger heraus, der seit eben diesen vierzehn Jahren unter Beobachtung steht, angeblich wegen linksextremistischer Handlungen. Doch siehe da: Kai Budlers Spezialgebiet ist die Berichterstattung über den Rechtsextremismus. Seine Beobachtung flog auf, als Budler über den Dresdener Handygate-Skandal ermitteln konnte, dass er auf der Liste der Verfassungsabschaffer stand.
*** Wie sang dereinst Franz-Josef Degenhardt in seiner großen Schimpflitanei über deutsche Fanpost in einer Zeit, als es noch nicht dieses Web 2.0 mit seinen Feed-Back-Tritten gab:
Meinem alten Schutzpatron,
Dieb und Dichter, Franz Villon,
sing‘ ich oft auf seinem Grab,
lacht der sich die Eier ab
über diese Litanei,
und dann singen wir zu zwei:
Wenn ich an dem Galgen häng
und mir wird der Hals zu eng,
weiß nur ich, wer da so log
und wie schwer der Arsch mir wog.
*** Die Zeiten, sie haben sich geändert. Degenhardt sang in den miefigen und piefigen Sechzigerjahre, als Polizisten noch Schutzmänner hießen, die Kirche mitten im Dorf stand und der Kommunismus noch ein Ausweg schien. Heute ist das Wort Schutzmann verschwunden. Ganz im Gegenteil wird besorgt darüber berichtet, wie Polizisten sich an ihren Namensschildchen schneiden, was prompt zur Forderung nach der Abschaffung der Kennzeichnungspflicht führt, weil die armen Polizisten ja geschützt werden müssen. Und der Chronist der miefigen Zeit singt von ganz, ganz unten:
Hier ist mein Testament zu Ende,
feiert ein schönes Leichenfest.
Gleich ob ihr mich nun zur Legende macht
oder ob ihr mich vergesst.
Ich bin dann längst im Land der Toten,
wo ich nun wirklich nichts mehr brauch.
Wo längst die meisten von uns ruhen,
irgendwann kommt ihr dann ja auch.
Was wird.
Große Pech-Portionen? Auch früher hatten Journalisten keine Probleme, einen angeblich objektiven Bericht mit dem größtmöglichen Unsinn von einem höheren Wesen zu vermischen "Die traurige Begebenheit, welche sich vor ungefähr vier Wochen in der Nähe von Berlin ereignete, beschäftigt seit einiger Zeit die Aufmerksamkeit des Publikums. Dem Grundsatze treu, unseren Lesern mit der strengsten Gewissenhaftigkeit und Wahrheitsliebe, alle Thatsachen zur Geschichte der Zeit zu liefern, schwiegen wir bisher über diesen Vorfall, wartend, bis wir aus ächten Quellen eine durchaus wahre, unverfälschte Darstellung eines Ereignisses mitzutheilen im Stande wären, welches neuerdings beweist, auf welche Verirrungen und Abwege der Mensch durch Vergessenheit und Hintansetzung alles höheren Glaubens gerathen könne!" Die Rede ist, wieder einmal, von Mord und Selbstmord vor 200 Jahren, begangen durch den ersten Vertreter der Generation Praktikum, der wahlweise auch der Dichter des Kontrollverlustes ist. Ohne Lebensperspektive erschießt Heinrich von Kleist die krebskranke Henriette Vogel und will sich dann adelstandgemäß erschießen, erstickt aber an dem Pulverdampf. Zuvor schrieb er an seine Lieblingsschwester Ulrike den sattsam bekannten Brief: "...die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war."
Der durch Europa trampende Kleist war ein Sucher nach der unbedingten Wahrheit, bis zur Erkenntnis, dass diese nicht zu haben ist: "Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – u[nd] alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich." Statt der Augen grüne Gläser? Welchen Science Fiction hat Kleist da im Sinn? Ist es der grüne Phosphor der Monitore, auf denen erstes Leben im Internet entdeckt wurde, das Grün des ursprünglichen Auftritts des bebrillten Big Brothers? Das Gegenstück zu Hal 9000? "Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr –"
***Morgen wird Bundestagspräsident Norbert Lammert feierlich die Kleist-Promenade eröffnen und den Audioguide auf dem Smartphone starten, zum verzückten Wandeln in der stillen Bucht am See auf der Suche nach eben jener Vertiefung, die durch das Ausrotten eines Baumes entstanden war, in hehren Sphären schwebend deutsche Verzweiflungskultur genießend Wen stört es da, dass die neue Kleist-Promenade unvollendet ist, weil der von der Berliner Stadtregierung finanzierte Schülerruderverband Wannsee e.V. auf Kleist scheißt? (jk)