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Was war. Was wird.

Es gibt in Deutschland kein Tal der Gefallenen, glücklicherweise, meint Hal Faber. Seltsame Rituale gibt es aber trotzdem. Bleiben wir lieber am erkalteten Puls der Zeit: Summertime, and the living is easy, tralala.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** "Tschüss!" Zu Anfang sagt auch der Kolumnist, der wöchentlich seinen Sermon im Ticker des hannöverschen Heise-Verlags verbreitet und meist wenig freundlich gesonnen all die Aktivitäten eines rot-grünen Kabinetts betrachtete, "Tschüss!" zu Gerhard Schröder, der mit einem Großen Zapfenstreich in Hannover verabschiedet wurde. Die Bundeswehrkapelle spielte auf Wunsch des Kanzlers Gattin "Die Moritat von Mackie Messer", "Summertime" und "My Way". Nun, abgesehen davon, dass dies wohl die angenehm unmilitärischste Serenade innerhalb eines Großen Zapfenstreichs in der Geschichte dieses seltsamen militärischen Zeremoniells war, ist My Way das richtige Abschiedslied für Schröder, trotz allem, was man ihm nachtragen kann. Weder war das so genannte rot-grüne Projekt ein durchschlagender Erfolg, noch feierten wir zur Zeit von Schröders Kanzlerschaft nur Feste in dann doch noch blühenden Landschaften. Trotzdem dürften die Erinnerungen an die Zeit unter Schröder kaum so frustrierend ausfallen wie etwa die Erinnerung an die Zeit unter Ford. Erinnerungen an die Zeit unter Schröder stehen zwischen den Alpträumen aus 16 Jahren Kohl und den Schreckensmeldungen über die Vorhaben der Merkelschen Zeit. Erinnerungen an die Zeit unter Schröder werden uns wohl noch lange eher wehmütig begleiten: Die Erinnerung bleibt auch an heiße ebenso wie verregnete Sommer mit einer locker gefügten, recht friedlichen und (relativ) friedfertigen sowie toleranten Gesellschaft, die trotz allgegenwärtiger Terrorhysterie, ersten militärischen Auslandseinsätzen und immer mal wieder auftrumpfenden rechtsradikalen Hirnis die Vorteile multikultureller Lebensführung zu schätzen wusste. Summertime, and the living is easy, ja genau: So hush, little baby, don't you cry. Bang aber blicken viele in die Zukunft und fragen sich, welcher Haifisch ihnen nun auflauert. Möglicherweise sollten wir uns alle vorsehen: Denn ein Haifisch ist kein Haifisch, wenn man's nicht beweisen kann.

*** Muss ich jetzt aber auch gleich noch zu mir selbst "Tschüss!" sagen? Ich soll ein scheues Reh sein, nur weil ich mein Namensschildchen nicht abgeholt habe? Aber wie hätte ich das auch machen sollen, auf einem Blogger-Journalistentag, der prompt Journalismus 2.0 ausrief. Wo ich doch schon mit einem richtig guten Journalismus 1.0 zufrieden wäre. Nehmen wir nur den EDV-Journalismus, der sich an minderwertigen Gadgets aufgeilt, die in einem Jahr niemanden mehr interessieren, der bereitwillig darüber berichtet, wie mit sinnlosem Handy-Geknipse MMS bei der Computertomografie töten können.

*** Und überhaupt: Hat nicht 2.0 eigentlich nur negative Bedeutungen, ist nicht die Definition von 2.0 ein arg verquarkter Brei? Erinnern wir uns nur an das Verbrechen, das Microsoft mit DOS 2.0 beging, als man sich mit \ von dem vermeintlich geschützten / distanzierte. Interessant ist schon, wie jeder, der seine Zweifel 2.0 hat, bis zum Kommentarstau niedergesilkt wird. Soziale Software kann richtig eklig sein, bis zum Pink-Floyd-Verriss. Doch wer nicht über halblinks fliegende Schweine lachen kann, muss sich halt an 2.0 halten. Denn 2.0 ist ja sooo 2005 und jeder ein Depp oder mindestens ein kleiner dicker Troll, wenn er nicht daran glaubt. Dabei bin ich eine große vornehm-bleiche Leichen-Erscheinung, wie die toten Radler in Gates' Stadt Seattle. Aber Jeb Bush merkte es gar nicht, als er mir den heftig klopfenden Puls fühlte.

*** Wer seine Förmchen und Schäufelchen noch beisammen hat, ist wahrscheinlich eher an dieser Schauergeschichte interessiert, die man beim Kollegen Cringeley lesen kann. Irgendwo in einer hoch geheimen Gegend stehen hunderte von Googletainern herum. Ein jeder wird bis obenhin mit Load-Balancern, 5000+ Opterons und mindestens 3,5 Petabyte Speicher ausgerüstet, kompakt verbaut, auf dass ein Sattelschlepper das Data Center über Nacht bei jedem Peering Point in der Welt abladen kann. Über Nacht übernimmt dann Google das Internet as we now it. Ob es dazu kommen wird, dass Google das Internet walmartisiert, weiß ich nicht. Aber warum soll nicht das Netz die Spielwiese einer einzigen Firma sein, wenn die Verwaltung des Internet das Spielchen eines einzigen Landes ist? Wer die ernüchternden Berichte vom Weltgipfel gelesen hat, sich nicht am Schwachsinn vom Internet der Dinge besäuft und vielleicht mal die Interviews mit Menschen anhört, die Ideen ins Internet speisen, tja, für den ist Google noch der kleinste Schrecken. Der einzige Verein, in dem ich Mitglied bin, der meine Honorare kassiert, wenn wieder eine Firmenzeitschrift Texte nachgekauft hat, ist ausgesperrt worden.

*** Der ebenfalls in Tunis prominent vorgestellte 100-Dollar Laptop gibt zu denken, nicht nur deshalb, weil der Dynabook/Laptoperfinder Alan Kay vor Ort war und offenbar einen ordentlichen Beifall bekam. Ein Hersteller des Displays ist nicht in Sicht, die Kurbel für den Stromantrieb ist noch ein Fake und wird eigens für die Journalisten aufgeklappt, weil schwer fotogen. Und die 100 Dollar: Wie heißt es so schön im einzigen Ticker, der die Welt 2.0 mit aller Grandezza präsentiert: "Negroponte spekuliert darauf, dass die erzielten Einsparungen bei der Herstellung des Laptop nicht dem Shareholder Value zugute kommt, sondern allein den Kindern." Spekulieren ist in der Tat eine noble Haltung. In der Zwischenzeit spekulieren wir ein bisschen über die Auflösung der Bildschirme. Den großen Rest der Spekulation überlassen wir den Philosophen des Digital Divide. Wer hat die Macht, die digitale Kluft zu überbrücken? Wer an der Kurbel dreht oder wer rummsbumms einen Container in 48 Stunden an jeden beliebigen Ort der Welt liefern kann?

*** Heute vor 200 Jahren wurde Beethovens Fidelio uraufgeführt. Der Singsang der großen deutschen Befreiungsoper ist hartgesottenen Gamern vielleicht noch in Erinnerung, weil im Nintendo-Spiel "Conker's Bad Fur Day" das Passwort Fedelio mit Fellatio verwechselt werden kann. Als typischer Bill Gates/Steve Jobs-Jahrgang, als altlinker halbverotteter Nach-68er – nicht mal Jeb Bush hat meinen Puls richtig gefühlt – gefällt mir die völlig unstrittige Version der Wikipedia, wenn es zur Proletkult-Inszenierung der großen Oper heißt: "Der weiteren Handlung des Stücks nach befreit der König die Gefangenen. Das widerspricht unserem Klassenbewußtsein und wir reißen die Masken ab." Wer eine der größten Musikstücke so nach dev/null entsorgen kann, hat Selbstbewußstein, anders als der Generalsekretär einer Partei, die den größten Sieg ihrer Geschichte holte. Ceterum Censeo?

*** Wer jetztemang kopfschüttelnd bereit ist, diese völlig unmaßgebliche Wochenschau zu verlassen, dem gebe ich einen Witz auf den Weg. Göring und Ribbentrop werden zusammen aufgehängt. Sagt der Göring zum Ribbentrop mit letzter Kraft: "Ich hab's Dir doch immer gesagt: Deutschlands Schicksal wird in der Luft entschieden." Wir sind also bei den Nürnberger Prozessen, die alles andere als ein Tea for Two waren. Ja, heute vor 60 Jahren begannen die Nürnberger Prozesse mit der Verlesung der Anklageschrift. In ganzer, umfassender Jämmerlichkeit wurde die Banalität des Bösen vorgeführt, die fortklingt, wenn ein journalistisches Zentralorgan einen Dolmetscher zum Beobachter herabstuft. Alle Angeklagten, ob Ribbentrop, ob Göring, Keitel oder Seyß-Inquart, bekannten sich als "nicht schuldig". Für heute bleiben wir bei John dos Passos: "Die Nazi-Führer starren mit verzerrten Mündern in das Grelle des Gerichtssaals. Vielleicht zum ersten Mal haben sie sich mit den Augen gesehen, mit denen die Welt sie sieht."

*** Wo wir gerade von Faschisten reden: Vor 30 Jahren starb der Generalissimo Franco. Seltsamerweise hält sich auch die Regierung unter dem Sozialisten Zapatero bedeckt, was die Aufarbeitung der Vergangenheit von Bürgerkriegsgreueln und francistischer Diktatur angeht. Hätte es in Deutschland keine Nürnberger Prozesse gegeben und ein wie mühsam auch immer sich gestaltendes Aufarbeiten der Nazi-Diktatur, sondern eine Partei, die die Diktatur nicht so recht verurteilen will, und eine, die sich nicht recht traut, die Reste der Diktaturfeierlichkeiten zu beseitigen, würden wir vielleicht auch ein Tal der Gefallenen, nur mit Hitler-Denkmal, besuchen. Oder das Nürnberger Reichtsparteitagsgelände wäre zum Wallfahrtsort mit Hitler-Mausoleum geworden. Die Nürnberger Prozesse aber begründeten das moderne Völkerrecht; mit dem Übergang zum Königreich will die spanische Gesellschaft dagegen anscheinend beweisen, dass Freiheit ohne Geschichtsbewusstsein möglich ist. Ein riskantes Projekt. Aber wenigstens können linke deutsche Touristen wieder ohne schlechtes Gewissen an die Costa del Sol.

Was wird.

Am Tag, an dem diese kleine Wochenschau entsteht, wurde Joe Hill hingerichtet. Leider wurde sein Anliegen durch eine Folk-Sängein verunstaltet, die ich persönlich nicht leiden kann, darum keine Links. Aber weil wieder einmal die Musik das große Thema ist, darf heute Gill Scott-Heron nicht fehlen, gerade weil eine Kabbala-Besessene das Feuilleton mit einer angeblichen Revolution zutütet. Nach dem Schwulst glauben wir auch, dass Sony BMGs Kopierschutz ein ausgefuchster Schachzug eines zum Guten bekehrten Medienkonzerns war, der in Wirklichkeit Digital Rights Management endgültig und ein für alle mal diskreditieren wollte. Gut, das haben sie geschafft, Glückwunsch, dafür verzeihen wir auch ein paar   Rechtsverletzungen. Ansonsten wird es kälter. (Hal Faber) / (jk)