Was war. Was wird.
Es ist doch schön, wenn man noch europäische Illusionen hat - und mit Habermas eindeutig begründen mag, warum dies in Wirklichkeit keine Illusionen sind. Ja, die Zeiten, als das kommunikative Handeln noch geholfen hat, erinnert auch Hal Faber gerne.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Wie war das noch? Wählen gehen für Europa, gegen die nationalistischen Schwachköpfe vom Schlage einer "Alternative für Deutschland"? Das haben mehr Menschen gemacht als früher. Wären es noch viel mehr gewesen, wäre der rechte Rand ein Schmutzrändchen. Immerhin kann man jetzt Entpuppungen studieren, die früher nicht denkbar waren, etwa Beppe Grillos Verhandlungen mit dem Gentleman Nigel Farage – der sich zur Freude von Julian Assange für die Abschaffung des europäischen Haftbefehls ausgesprochen hat. In Deutschland hat sich der Übervater Jürgen Habermas zu Worte gemeldet und von einem "KLEINEN SPALT AN HISTORISCHER ÖFFNUNG" gesprochen, der sich am Sonntag geöffnet hat. Ja, da muss man doch laut werden, wenn es stimmt, dass jetzt die Politiker zeigen müssen, dass sie die Demokratie ernst nehmen und die gewählten Europa-Kandidaten akzeptieren. Sollten sie kungeln, verletzten sie nicht nur "ihre politische Pflicht als Amtsinhaber einer verfassungsrechtlichen Demokratiegeboten unterworfenen Europäischen Union", wie Habermas das formuliert, sondern veralbern den europäischen Gedanken mehr als dies "Die Partei" je machen kann. Habermas glaubt übrigens nicht an die schäbige Kungelei um einen genehmen Kandidaten: "Ich halte einen solchen Akt mutwilliger Zerstörung aus rechtlichen und verfassungspolitischen Gründen einstweilen für ausgeschlossen." Der Mann hat als echter 68er noch Illusionen. Cohn-Bendit übrigens auch.
*** Wie war das noch, 1968? Nö, da gibt es kein Recht auf Vergessen, sondern eine Pflicht zum Erinnern. Am 15. Juni 1968 schrieb Habermas an den Publizisten Claus Grossner: "Eine revolutionäre Situation, die von der Masse der Bevölkerung als unerträglich empfunden wird, erzeugt Gewalt und reaktiv auch Gegengewalt. In einem solchen Zusammenhang, in dem Hegel die Kausalität der Sittlichkeit am Werke sah, kann eine Strategie, auch wenn sie Gewalt impliziert, Anspruch darauf erheben, politisch beurteilt zu werden. In einer Lage hingegen, die nicht revolutionär ist und deren Unerträglichkeit keineswegs allgemein ins Bewusstsein getreten ist, kann die gleiche Strategie nicht nach denselben Maßstäben beurteilt werden. In diesem Falle müssen sich die handelnden Subjekte, gleichviel, ob sie politisch zu handeln glauben, inhumane Folgen ihres Handelns moralisch zurechnen lassen.
*** Heute wissen wir, dass 1968 die allgemeine Unerträglichkeit des Seins keineswegs im allgemeinen Bewusstsein der Westdeutschen angekommen war. Ja, die Studenten rebellierten und wir wissen heute, dass Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, ein Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) war. Vor wenigen Tagen ist das Buch Feindwärts der Mauer erschienen, in dem die Arbeit von Kurras einmal näher beleuchtet wird. Kurz zusammengefasst: Kurras war nicht irgendein Stasi-Spitzel, sondern einer der wichtigsten Informanten, der Hunderte von Berichten lieferte und im Gegenzug präpariertes "Informationsmaterial" für die Studenten nach Berlin brachte. Die Wissenschaftler stellen nüchtern fest: "Die Rolle von Kurras im Rahmen der Desinformationskampagnen des MfS gegen die West-Berliner Polizei ist indes noch nicht in das öffentliche Bewußtsein gedrungen. Zum Teil sind damals mit Hilfe der Kurras-Informationen in die Welt gesetzte Vorurteile noch heute wirksam."
*** Das, was die Studenten bewegte, kam zu einem Teil aus den Informationstöpfen eines Geheimdienstes, der "Counterinsurgency" betrieb. Damit sind wir wieder direkt im Hier und Heute. Den auch bei uns gibt es VVV, das Verdrehen, Verzerren und Vertuschen durch Verfassungsschutz und die Auslandsaufklärer vom BND. Dieser Tage wurde bekannt, dass der Bundesnachrichtendienst schlappe 300 Millionen Euro haben will, um die Echtzeit-Überwachung sozialer Netzwerke durchführen zu können, zusätzlich weitere 4,5 Millionen, um gefälschte Biometrie-Dateien für seine Agenten erstellen zu können. Unklar ist, ob die 300 Millionen zu den 300 Millionen addiert werden müssen, die der BND für ein Cyber-Frühwarnsystem haben will oder ob 300 Million eine BND-Standardfloskel ist nach dem Schema "300 Millionen, oder es kracht". 300 Millionen her oder sonst "drohe der BND noch hinter den italienischen und den spanischen Geheimdienst zurückzufallen", so das Papier, mit dem der Bundestag desinformiert werden soll, um die Gelder zu bewilligen. Unser Dienst schlechter als die spanische NSA-Filiale CNI oder die italienische AISE, die mithalf, Hassan Mustafa Omar Nasr zu entführen, das geht ja gar nicht. Wie war das noch mit der Erkenntnis, damals, vor einem Jahr, dass Telefon-Metadaten Spion & Spion enttarnten?
*** In bemerkenswerter Einigkeit haben drei anerkannte Juristen vor dem NSA-Untersuchungsausschuss festgestellt, dass die "300 Millionen!"-Anstalt sich in der Praxis verfassungswidrig verhalten hat. Ich erwähnte das in der letzten Wochenschau, nur fehlte, dass über diese gute Zusammenfassung die Gutachten der Juristen abgerufen werden können, ehe sie in Vergessenheit geraten. Schließlich erscheint diese Wochenschau im Internetz und nicht im Interbeutel, in dem bekanntlich nichts verloren geht. In dieser Woche musste die "300 Millionen!"-Anstalt in Leipzig erklären, wie die "strategische Fernmeldekontrolle" derzeit noch ohne die paar Milliönchen funktioniert. Die Klage gegen die anlasslose Kontrolle per Dreckswortliste scheiterte. Das Gericht wies die Klage als unzulässig ab und produzierte eine denkenswerte Begründung, die wir mal das 300-Millionen-Missverständnis nennen wollen: Aufgrund der hohen Datenmengen, die der BND erfasst, könnte dann aber im Prinzip jedermann klagen, und genau das habe der Gesetzgeber nicht gewollt. Da könnte ja jeder kommen! Jetzt liegt es am Deutschen Bundestag, diese ausgeuferter Speicherung zu stoppen. Doch der soll ja 300 Millionen bewilligen, damit noch umfassender geschnüffelt werden kann.
*** Und die Gerichte? In dieser Woche verkündete ein deutscher Generalbundesanwalt, dass er keine Möglichkeit sieht, belastbares Material zu erhalten, das die Überwachung deutscher Bürger durch die NSA dokumentiert. Man stelle sich diese Argumentation bei einem Bankraub vor. Getoppt wird der höchstanwaltliche Blödsinn durch die Behauptung, man habe wegen des Quellenschutzes keine Unterlagen aus dem Spiegel-Archiv einsehen können. So besitzt der höchste deutsche Ermittler nur "Zeitungswissen". Es geht noch besser, mit dem Vorsitzenden Patrick Sensburg im NSA-Untersuchungsausschusses, der den wichtigsten Zeugen einfach mal angeht: "Sollte Snowden nicht bald Beweise in Form von Originaldokumenten vorlegen, verliert er jedwede Glaubwürdigkeit für den Untersuchungsausschuss." Irgendwo im Hintergrund konnte sich sein Parteikollege Clemens Binninger auf dem Flur rollen, lachend. Dass diese unsere Bundesrepublik sich die USA zum Vorbild nimmt, wo man Probleme hat, die Original-Mails von Snowden zu finden, macht das Sauerkraut auch nicht edler. Deutsche Politiker, die gerne über Google und seine urbösen Algorithmen schwafeln, handeln nach Programmroutinen a.k.a. Algorithmen, als wären diese von einem Dienst ins Kleinhirn eingebrannt worden.
*** Da sind wir wieder bei Habermas und seinem umgedrehten Hegel: Inmitten dieser allgemeinen Unerträglichkeit des Seins sollten Subjekte wie Sensberg oder Range, die glauben, mit ihren Argumenten politisch zu handeln, sich die inhumanen Folgen ihres Handelns moralisch zurechnen lassen. Snowden ist in Deutschland nicht zur Fahndung ausgeschrieben und könnte als klar politisch Verfolgter so Asyl bekommen, dass die USA legal nichts ausrichten kann. Wer die Ereignisse bis hierhin verfolgt hat, wird vielleicht dem wunderbaren Eben Moglen zustimmen können, der die Überwachung mit der Unerträglichkeit der Sklaverei vergleicht. Sklaverei ist einfach falsch. Sie kann nicht damit begründet werden, dass der Sklavenhalter ein Sicherheitsbedürfnis hat. "Wir sollten gegen die Methoden des Totalitarismus kämpfen, weil Sklaverei falsch ist. Weil die Überwachung der gesamten Menschheit durch Sklavenhalter falsch ist. Weil das Bereitstellen von Energie, Geld, Technologie und eines Systems, das die Privatsphäre aller Menschen auf der Welt kontrolliert, falsch ist."
Was wird.
Reset the Net! Zugegeben, es klingt etwas doof in einer Zeit, wo nur noch die wenigsten Computer diesen praktischen roten Knopf zum Warmstart haben, aber der 5. Juni sollte schon genutzt werden. Wie die Studenten sind die politischen Netizen zwar eine kleine Minderheit, haben aber ihre Protestmöglichkeiten zum Tag, an dem die via Glenn Greenwald verteilten ersten Meldungen über das Treiben der NSA erschienen. Wer dazu noch spenden möchte, sei auf Cryptome verwiesen, das gegen die Kommerzialisierung der NSA-Enthüllungen durch Greenwald & Co protestiert.
Ach, diese gräßliche Kommerzialisierung aber auch. Manchmal hilft sie beim Erkennen der Kausalität der Sittlichkeit, die von Hegel und Habermas ins Spiel gekickt wird. In ihrem Trainingslager hat sich die deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer um den letzten Rest ihrer Sportlichkeit gebracht, als man nach einem vergeigten Werbeeinsatz von Benz.me den Unfall mit dem Restrisiko relativierte, das es auch beim Radfahren gibt. Statt #bereitWieNie könnte man besser über das #Restrisiko twittern. Aber den richtigen Schmäh können wir ja noch von unseren Nachbarn lernen, wenn es live ans gemeinsame Ablachen auf dem "Second Screen" geht, nur echt mit Goal und Pausenreim. (jk)