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Was war. Was wird. Nach der Wahl ist vor Every

Bullerbü ist überall. Leider wird es von den Hunden immer so zugeschissen, dass man sich um wichtige Fragen einfach nicht kümmern kann, bedauert Hal Faber.

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Cyberspace-Dystopien haben Konjunktur, und das nicht nur in langweiligen Romanen. Kein Wunder, wenn niemand mehr fragt, zu was all diese Digitalisierung gut sein soll. Aber etwas mehr Spaß am Gerät, das wär doch auch mal wieder was.

(Bild: Who is Danny / Shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Ganz Deutschland hat gewählt.

Ganze Deutschland? Nein, ein kleines, seltsames Dorf namens Berlin hat geschätztwählgewürfelt und irgendetwas zusammengezählt und gleichzeitig die ganze IT reorganisiert. Einfach clever, wie die Regierung dieser Ansammlung von Dörfern nun einmal ist, hat man den Berlin Marathon mit 25.000 Läuferinnen und Läufern auf den Wahltag gelegt und die Laufstrecke quer durch Charlottenburg-Wilmersdorf gezogen. Ist ja klar, dass in diesem Dorfteil Wahlzettel fehlten und die Stimmen nur geschätzt werden konnten. Prompt gewann eine SPD-Kandidatin, während bei der ordentlichen Nachzählung der Grüne Kaas Elias siegte. Da hatte es der angesagte Kiez Friedrichshain-Kreuzberg besser. Hier konnte man abseits der Laufstrecke ruhig auszählen, weil nur 50 Prozent der Einwohner wahlberechtigt sind. All diese Ausländer haben das sehr vereinfacht. Danke oder da nicht für? Auf das doppelt Positive der Berliner Wahl sei gleich verwiesen: eine AfD, die sich fast halbierte, eine Tierschutzpartei, die es in vier Bezirksparlamente schaffte. Berlin-Dogopolis, die heutige Welthaupstadt der Hundebesitzer, weiß das zu schätzen. Annähernd gehalten hat sich in Berlin übrigens die Linke, vor allem auf Bezirksebene, da ist eine Spalterin wie Sahra Wagenknecht eben weit entfernt. Bemerkenswert auch die Zustimmung von 56,4 Prozent für einen Appell an der Berliner Senat, doch bitteschön ein Gesetz zu verfassen, das es gestattet, die Wohnungsbestände großer Unternehmen zu enteignen. Wo sich doch immer weniger Berliner das Wohnen in Berlin leisten können, was man auch daran sehen kann, dass die tageszeitung ihren dicken Berlin-Teil am Wochenende einstellt. Der startete übrigens vor 9 Jahren mit dem Aufmacher "Bullerbü ist überall" – und stellte die Frage, ob Berlin nicht eher eine Ansammlung von Dörfern ist. Das wenigstens ist jetzt geklärt. Es ist so.

*** Jeder und sein Hund kennt das Gedicht von Heinz Erhardt über die süßen Zitronen, die lieber blau sein wollten und groß wie Melonen. Nun sind sie also auf der Suche nach einem trinkbaren grünen Limonaden-Rezept, die Grünen und die Gelben, während sich Olaf Scholz bereit macht, den Joe Biden der deutschen Politik zu geben. Ein Fünkchen Hoffnung ist dabei, dass es mit diesem neu zusammengeschüttelten Bundestag etwas besser wird mit der Digitalkompetenz der in ihm vertretenen Politiker und ihrer vielen Helferleins. Es muss ja nicht diese Maximalforderung von einem guten digitalen Leben sein: "Wer e-mailt bitteschön über das Tor-Netzwerk, verschlüsselt im privaten Raum jegliche Korrespondenz, wendet im Browser konsequent NoScript oder zumindest uBlock Origin an, entgoogelt das Smartphone, entzieht sich komplett der Microsoft-Monokultur im Büroumfeld oder privat? Etwas mehr als die erschütternde Unbedarftheit, mit der im Bundeskanzleramt der digitale Führerschein gestartet, gestoppt und mit kaputter Blockchain wieder angefahren werden soll, darf es schon sein. Für den virtuellen Lappen warben zuletzt die Digitalisierungs-Spezialisten Dorothee Bär und Andreas Scheuer, die mit Armin Laschet vorerst von der Digi-Bühne abtreten (sowie dieser die komische VR-Brille absetzt, die er dieser Tage zu tragen scheint). Für die Grünen, die Gelben und die Roten gibt es unterdessen elf Vorschläge von Digitalcourage, was man alles so anpacken könnte. Doch auch abseits der Digitalthemen tut sich was. So nimmt die Diskussion über ein Tempo-Limit an Fahrt auf, auch die Produktion von Kohlendioxid-neutralem Flugbenzin für Grünes Fliegen wird gestartet. Mit einer der letzten Videobotschaften von Angela Merkel. Ob sie noch die Neujahresansprache halten wird?

*** Der unsichere September und seine Chaos-Nächte sind vorüber. Der Oktober ist da, dieser Aktionsmonat der Cybersicherheit, wo alle mit mutigen Aktionen den düsteren Cyberraum in ein sicheres Digi-Bullerbü verwandeln. Alle mit mutigen Aktionen? Aber nicht doch, denn einer ist mutiger als alle anderen, kämpft er doch gegen biologische Massenvernichtungswaffen in Form von tückischen Nanobots. Natürlich ist die Rede vom neuen Bond, der zwei Stunden und 43 Minuten lang die Geschichte von einem Nanobot-Project erzählt, von kleinen DNA-Killern, die sich wie ein Virus durch Kontakt übertragen und so programmiert werden können, dass sie nur für James Bond, seine Geliebte oder halt für alle Menschen tödlich sind. Ist eine solche biochemische Massenvernichtungswaffe möglich oder haben wir sie nicht schon längst in Form der verchiedenen Corona-Varianten? Das ist selbst den Wissenschaftsblättern egal, die dieser Instanz von 007 ein friedliches Ende wünschen. Bekanntlich soll dieser letzte James Bond mit Daniel Craig das derangierte Kino-Jahr retten. Die Vorstellung, dass der Fußballtrainer Jürgen Klopp der nächste Bond sein könnte, ist amüsant, aber wie die Nanobots eher der Science-Fiction zuzurechnen. Das wäre ja so unwahrscheinlich wie ein 007 als Frau und dann noch als eine Schwarze.

Science Fiction? Aber hallo: "Ethische Fragen zur Nutzung von Bio- und Gentechnologien stehen hier genauso im Mittelpunkt wie klimafreundliches Geoengineering, gefährliche Hyperoptimierung oder – der Klassiker – Begegnungen mit außerirdischen Zivilisationen. Das Nachsinnen über diese spekulativen Zukünfte gibt neue Impulse für den Foresight-Prozess. Außerdem sollen kritische Reflexionsprozesse über bislang im Zukunftsdiskurs unberücksichtigte Zukunftsbilder angestoßen werden..." fabuliert unser Bildungs- und Forschungsministerium zur Online-Veranstaltung Alles nur Science-Fiction! Oder doch nicht?, die nach dem verschlafenen Tag der Deutschen Einheit stattfindet. Dann mal los mit dem Foresight-Prozess. Bei dem im Ministerium ersonnenen Hochschulpakt und dem Digitalpakt mit den Schulen hat es nicht so ganz geklappt mit der Voraussicht und den Visionen vom digitalen Klassenzimmer.

"Es dauert keine fünf Minuten, das eigene Hirn mit dem Laptop zu verbinden. Ein Stirnband klemmt eine keksgroße Plastikscheibe an den Hinterkopf. In ihr stecken Sensoren. Nichts trennt nun Mensch und Maschine. Keine Taste wird gedrückt, kein Wort in ein Mikro gesprochen, lediglich der Blick schweift über den Bildschirm. Das Gerät tut, was das Hirn befiehlt. Die Hirnströme zappen durch Videokanäle." Der Autor ist begeistert von Nextmind. Endlich weiß er, was nach dem Handy kommt. Die Erleuchtung teilt er den Lesern der Süddeutschen Zeitung mit, denn Erleuchtung ist nicht alles. Schließlich geht es auch darum, Werbung für Every zu machen, dem nächsten Buch von Dave Eggers. Im Buch verschmelzen Facebook und Amazon zu einem Konzern, der nichts weiteres im Sinn hat als die absolute Weltherrschaft. Glaubt man dem Lob, ist Eggers der Star-Wahrsager unseres Jahrhunderts, denn schon sein Circle soll inzwischen "weitgehend wahr" geworden sein. So ist Every noch allumfassender, besetzt der Gigant doch "jeden nur erdenklichen Aspekt des Lebens". Und so feiert der Andrian Kreye die wunderbare Zukunft mit Verweis auf den "Intellektuellen" Kevin Kelly, für den der technische Fortschritt einen ihm innewohnenden eigenen Willen hat, den wir Menschen einfach (noch) nicht erkennen können. Auch die Wayforward-Maschine ist da noch unvollkommen. Selbst die Hacker vom Chaos Computer Club, die jedwede Technik voll durchblicken können – wenn der Source-Code vorliegt – können da nicht mithalten. Resigniert haben sie ihren Congress in Leipzig abgesagt. Dafür müssen alle Besucher jetzt Every lesen und die absolute Düsteropie erfahren Die Klotür geht erst wieder auf, wenn du dir die Hände gewaschen hast. Wird es wirklich so schlimm?

Ich für meinen Teil halte es lieber mit Philip K. Dick, der in seinem Roman "Ubik" (auf Deutsch mit einem Nachwort von Stanislaw Lem) uns diesen wunderbaren Dialog mit einer Wohnungstür hinterlassen hat.

Die Tür ließ sich nicht öffnen. Stattdessen ertönte eine Stimme: "Fünf Cent, bitte." Chip durchwühlte abermals seine Taschen. Keine einzige Münze mehr, nichts. "Ich zahle morgen", sagte er zu der Tür. Erneut drehte er am Griff, doch das Schloss blieb zu. "Was ich dir zahle, ist eigentlich ein Trinkgeld. Ich muss dich nicht bezahlen." "Das sehe ich anders", erwiderte die Stimme. "Bitte werfen Sie einen Blick in die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, denen Sie zugestimmt haben, als Sie die Wohnung erwarben."
In einer Schreibtischschublade fand er die AGB. Ganz klar: Für Öffnen und Schließen der Tür war eine Gebühr obligatorisch. Kein Trinkgeld. "Sie sehen, dass ich recht habe", ließ die Stimme selbstgefällig verlauten. Chip nahm ein rostfreies Messer aus der Ablage neben dem Waschbecken und begann das Schloss aus der geldverschlingenden Wohnungstür herauszuschrauben. "Ich werde Sie verklagen", sagte die Stimme, als sich die erste Schraube löste. "Ich bin noch nie von einer Wohnungstür verklagt worden", antwortete Chip.
(jk)