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Was war. Was wird. Von Hauptberufen und Nebenwidersprüchen.

Auch die digitale Empörungsgesellschaft braucht ihre Pfeifen. Hal Faber fragt sich, ob die Empörungsgesellschaftsmitglieder sie nutzen oder sie schlicht sind.

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Es lebe der Frühling! Sommerzeit hin, Corona her, zu steigenden Temperaturen und hervorbrechender Sonne noch sizilianischen Grapefruit-Bitter mit piemontesischem Weißwein und etwas Sprudel - die Lebensgeister kehren zurück. Es lebe der Eskapismus!

(Bild: Luca Santilli / Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** "ÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ" Dieser Tweet von Bodo Ramelow, abgeschickt um 0:30 am Dienstagmorgen während der Bund-Länder-Verhandlungen, bringt die politischen Entscheidungen zur dritten Coronawelle sprachlich brillant formuliert auf den Punkt. Da hilft auch keine Entschuldigung von Angela Merkel zu den Osterruhetagen mehr, so ein "ÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ" ist einfach um Klassen besser.

Leider kann Ramelow nicht Kanzler, weil er Mitglied einer Partei ist, die sich die Verhunzung der deutschen Sprache zur Aufgabe gemacht hat. Näheres kann man bei Burks lesen. Dennoch wünsche ich mir, dass eine Bundeskanzlerin oder ein Bundeskanzler nach der nächsten Wahl keinen Eid vom Stapel lässt und nach der üblichen Formel den "Schaden vom deutschen Volk abwenden" will, sondern einfach nur "ÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ" sagt. Das ist ehrlicher und kürzer. Noch ehrlicher wäre natürlich: "Ich gelobe, nicht auf Rat der Wissenschaftler zur hören, sondern alle Entscheidungen auszuwürfeln." Weil Politik angeblich komplex ist, kann sie oder er ja mit einem Würfel mit 120 Seiten arbeiten, um die Würfelei etwas spannender zu machen. Und das mit der Entschuldigung, die in dieser Woche landauf, landab diskutiert wurde, lässt sich mit hartem, jahrelangen Training lernen. Auch bei Merkels 'Schulligung hat das gelehrte Feuilleton es wieder einmal trefflich auf den Punkt gebracht: "Der Postfaktizismus gehört zu den bedeutenden Stützpfeilern der digitalen Empörungsgesellschaft; er ist fast so wichtig, wie es Dinge wie Haltung, Gruppenbewusstsein und Rechthaberei sind, die gerne mit dem neuerdings fast nur noch positiv besetzten Begriff 'Wut' umschrieben wird. Merkels verrückte Nacht hat den immerwährenden Austausch der Twitter- Talkshow- und Feuilleton-Milieus eine neue, alte Kategorie hinzugefügt: die Entschuldigung." ÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ, wie meinen?

*** Politik soll bekanntlich fürderhin als Hauptberuf anerkannt werden. Nebenbeschäftigungen, die in der Christlich Sozialen Amigo-Union schon einmal zwölf Millionen Euro einbringen, sind ab sofort verpönt, da sei Söder vor, der einen "Ehrenkodex" erfunden hat, ganz im Stil der Mafia. Erinnert sich noch jemand an den unfähigen CSU-Verkehrsminister, der bei einer Nebentätigkeit 900.000 Euro kassierte? Nein, nicht der noch unfähigere Andreas Scheuer ist gemeint, sondern Peter Ramsauer. Hach, was waren das noch für Zeiten, als der Waffenhändler Karlheinz Schreiber einfach so ein paar Millionen auf das "Maxwell"-Konto einer Schweizer Bank überweisen konnte. Das gehörte dem Sohn von Franz Josef Strauß, doch dieser hatte alle Daten zum Schweizer Konto auf einer Festplatte gespeichert, die von einem "Virus" vernichtet wurde. Der Virus "sprang" von der Festplatte der Strauß-Tochter Monika Hohlmeier auf die Festplatte von Max Strauß, so dessen Aussage anno dazumalo. Diese Festplatte wurde prompt von der Staatsanwaltschaft zur Beweissicherung beschlagnahmt und verschwand auf Nimmerwiedersehen in einer bayerischen Asservatenkammer, ehe sie ein Techniker inspizieren konnte. Tja, damals gab es sie noch nicht, diese digitale Empörungsgesellschaft mit ihren Stützpfeilern und -pfeifen. Was die Sache mit den Nebentätigkeiten anbelangt, so gibt es auch ganz tolle Argumente dafür, sie weiterhin in Ehren zu halten: "Wer vom Mandat lebt, der muss alles daransetzen, wieder gewählt zu werden." Millionäre und Milliardäre in den Bundestag! Regieren statt bestechen!

*** Wie schlecht in dieser unserer Bundesrepublik regiert wird, zeigte sich diese Woche, als wieder einmal ein neues BND-Gesetz verabschiedet wurde, das hart an der verfassungsmäßigen Schleuderkante liegt und die Rechte des Parlaments aushebelt. Ein unabhängiger Kontrollrat soll ergänzend prüfen, ob der Auslandsgeheimdienst mehr als 30 Prozent "aller Netze" ausspioniert. Damit bekommt die Operation Rubikon bald einen würdigen Nachfolger -- bis auch diese Gesetzesnovellierung vor dem Bundesverfassungsgericht landet. Die Hoffnung bleibt, dass es wie die beiden Vorgängerversionen in naher Zukunft vor dem Gericht scheitern wird. Einmal brauchte es fünf, einmal sieben Jahre, doch beide Male waren die gegen das Gesetz klagenden Bürger erfolgreich. Andere folgten dem weißen Kaninchen und landeten nicht im Wunderland, sondern beim Bundesnachrichtendienst, weil dort das Hacken erlaubt ist. Von wegen Feed your Head.

*** Wer kennt sie nicht, die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz? Ich. Denn bis zur abgelaufenen Woche hieß die nigelnagelneue Zentrale schlicht Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Nun wird sie nach Verabschiedung des neuen Jugendschutzgesetzes durch den Bundesrat zu einer großen Einrichtung aufgebaut. Anstelle der alten "Trägermedien" (CD, DVD) ist ab sofort von den "Telemedien" die Rede, weil das Internet nun explizit dabei ist. Zudem müssen auch internationale Anbieter und Plattformen den deutschen Jugendschutz beachten und "verbindliche Alterseinstufungen" ausweisen. Und dann sollen neben der bekannten Alterskennzeichnung auch noch neue Symbole eingeführt werden, mit denen vor "gewalttätigen Inhalten in Computerspielen" oder vor "glücksspielähnlichen Elementen" im Internet oder in Apps gewarnt wird. Natürlich jammert der Bitkom über die neue Hürde und warnt vor einer "Überfrachtung" der Alterskennzeichen, natürlich melden sich die Bundesländer und betonen, dass Jugendmedienschutz Ländersache ist, genau wie Ausgestaltung der Corona-Maßnahmen mit ÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ-Regeln. Wie zum Beispiel kennzeichnet man das, wenn Ewigkeit auf Vergänglichkeit trifft, Antike auf Moderne und die Unsicherheit des Dichters mit einem AR-Filter in den Alltag von Jugendlichen integriert werden soll? "Mit unserem neuen AR-Filter könnt Ihr die zentralen Elemente des Gemäldes in Euren Alltag integrieren. Sind auch heute magisch (un)passende Bühnen dafür zu finden? Die Metaphysik schreitet in die digitalen Sphären des 21. Jahrhunderts!" Digitale Metaphysik, knorke Sache das.

Stagniert die technische Entwicklung oder wirkt das nur langsam, weil wir mittendrin sind im großen Umbau? Stripe war mit der neuen Investitionsrunde in den Nachrichten, doch hinter Stripe steht mit dem Iren Patrick Collison ein großer Metaphysiker, der sich in Amerika mit speziellen Fragen beschäftigt. Für ihn sind viele Sachen überraschend primitiv, von den heutigen Zahlungssystemen über die Cockpits der Flugzeuge bis hin zur praktizierten Medizin: Längst sollten Roboter besser operieren können als Menschen. Viel Respekt zollt er den Pionieren und so dürfte es auch den irischen Zahlungsspezialisten freuen, wenn Großbritannien das lange verfemten Genie Alan Turing im Juni mit einem Geldschein ehren wird.

Noch vor dem Geldschein erscheint ein anderes Kunstwerk: Am kommenden Dienstag wird die offizielle deutsche Übersetzung des Inaugurationsgedichtes von Amanda Gorman erscheinen. Gleich drei Übersetzerinnen haben sich mit dem Gedicht beschäftigt. Bekanntlich führte das Gedicht zu einem Streit darüber, ob Weiße Schwarze übersetzen dürfen. In den Niederlanden musste eine Weiße den Übersetzungsauftrag abgeben, in Spanien entzog der literarische US-Agent von Gorman dem katalanischen weißen Übersetzer den Auftrag. So geht Diversität: auf Krücken. Ob es eine symbolische Geste sein soll oder ob es Zweifel an der Übersetzungskompetenz gibt, der Schaden ist jedenfalls enorm divers. Freuen wir uns deshalb, dass nunmehr die Werke von George Orwell gemeinfrei sind und sich viele Übersetzer:innen daran gemacht haben, 1984 oder die Farm der Tiere neu zu übersetzen. So kann man die Bücher neu lesen und die Unterschiede verstehen: "Während in Orwells Welt materieller Mangel herrscht bzw. bewusst erzeugt wird, gehen wir heute ganz in unserem Konsumentendasein auf. Dass wir dafür unsere Daten (pathetisch gesagt: unsere Selbstbestimmung) freiwillig global operierenden Konzernen überlassen, davon weiß Orwells Dystopie noch nichts."

(jk)