4W

Was war. Was wird. Von Zukünften, Zitis und Zyklonopathen, in einer mittlerweile wieder lauen Sommernacht

Wenn's dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis. Oder setzt auf Nationalismus. Haben wir noch eine Zukunft? Fragt sich, was man darunter versteht, merkt Hal Faber an, und bekräftigt: Vive l'Europe. Es lebe die europäische Union und der Bundesstaat Europa.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 33 Kommentare lesen
Was war. Was wird. Von Zukünften, Zitis und Zyklonopathen, in einer mittlerweile wieder lauen Sommernacht
Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

Zukunft according to Bundesregierung

*** "Zukunft ist live. Aber nur eine ist die richtige", wirbt SAP gerade an allen möglichen Stellen für S4/HANA, wenn der Adblocker mal nicht in Betrieb ist. Ein schöner Satz in diesen Tagen, wo über die Zukunft der Jungen gejammert wird, die von den Alten ausgeknipst wird. Was nicht einmal für Großbritannien so richtig stimmt, wo die Wahlbeteiligung der Jungen unzureichend war. Also, wer hat eigentlich die Zukunft abgeschafft und durch die ewige Gegenwart ersetzt, mit endlosen Geschichten von Rosamunde Pilcher an britischen Küsten? Nein, SAP ist nicht dran schuld, da optimiert man nur den Customer Lifetime Value mit Hilfe von Big Data. Das soll Zukunft haben, den Menschen präzise auf seine Lebenswertigkeit hin auszurechnen. Vielleicht ist Zukunft aber auch etwas ganz anderes. Das schreibt Georg Seeßlen über die Zukunft als ein Menschenrecht, dass Asyl ausnahmslos allen Menschen ohne Zukunft gewähren sollte.
"Zukunft haben, die Möglichkeit, aus eigener Kraft und mit der Hilfe von anderen Lebensumstände, Machtverhältnisse und Entscheidungsräume zu verändern, die Hoffnung darauf, von der Fremd- zur Selbstbestimmung zu gelangen, aber eben auch Ideen, Fantasien, Träume zu entfalten ohne Furcht und ohne Zwang, kann zweierlei bedeuten: Das Privileg weniger oder das Recht aller."

*** Als Privileg weniger haben Peter Thiel und Mark Zuckerberg Zukunft, haben Firmen wie Facebook ein Monopol für die Vernichtung anderer Möglichkeiten, als Recht aller sind alle Menschen gefragt, eine Zukunft zu definieren. Wenn gleich nach dem Brexit bange gefragt wird, was denn die Märkte machen, als ob die Marktfreiheit und die Wettbewerbsfähigkeit die höchsten Werte unserer Kultur sind, kommt heraus, wie systematisch die Zukunft im Namen Europas abgeschafft wurde. Auch die Leichtigkeit, mit der Politiker das CETA-Abkommen als mögliches Vorbild einer britisch-europäischen Vereinbarung zitieren, zeigt ein Denken, das ohne Zukunft auskommt und sich mit dem Bestehenden abfindet.

*** Apropos CETA: Die Brexit-Bejubler, die jetzt ihre ganze Britishness ausleben wollen, vergessen Kleinigkeiten wie die Tatsache, dass die britische Wasserversorgung privatisiert und an einen kanadischen Fonds verkauft wurde, während sie in Schottland bei der öffentlichen Hand blieb. Es sind die Resonanzspuren des Thatcherismus, die diese Wahl auszeichneten. Oder da wäre die Tatsache, dass das Gros der britischen Agrarindustrie Farmen mit 100 Hektar Land sind, die reichen Familien und Investoren gehören und kein Umweltschutzgesetz ihre Windradbaumanie kanalisierte.

*** Aber wir sind ja in der IT und damit in der Zukunftsbranche schlechthin, da gibt es ein bisschen Bedauern und gut ist's, die Londoner Start-Ups können ja zwecks Freizügigkeit des Arbeitsplatzes nach Berlin kommen. Schließlich wird der gerade erst festgezimmerte Datenschutz beachtet, was will man mehr. Was die seltsamen Steuerpraktiken von Firmen wie Vodafone anbelangt, schildern Heise-Foristen in einfacher deutscher Sprache.

*** Zu den bekanntesten Brexit-Befürwortern zählt Sir James Dyson, dem die britische Presse zu Füßen liegt, wie sie selbst berichtet. "Ernsthaft, wenn Dyson ein Land [nach seinen politischen Ideen] designen würde, würden Sie in ihm leben wollen, weil es schön ist und Spaß macht und vor allem, weil es funktionieren würde." So sieht es aus, wenn man Zukunft und Gesellschaft mit einem Produkt verwechselt, das man verkaufen möchte. Wobei, wenn schon ein neues Britannien designet werden soll, wäre auch ein neues Königshaus ganz fesch, so voll auf der jakobitischen Linie mit Franz, dem Zweiten. Den Papst würd's freuen. Oder vielleicht sollten gleich die Welfen aus dem Haus Hannover wieder übernehmen. Muss ja nicht gleich zu einem zweiten victoriansichen Zeitalter werden.

*** Doch es wird anders kommen. Nüchtern betrachtet, hat nicht Boris Johnson, sondern Theresa May die besten Chancen, Klein-Britannien in die nicht vorhandene Zukunft zu führen. Ihr Meisterinnenstück hatte die härtere Ausgabe von Margaret Tatcher mit einem Überwachungsgesetz abgeliefert, das alle feuchten Schnüfflerträume berücksichtigt. Jetzt wird es zur Beschwichtigung der Kritiker überprüft, doch wesentliche Passagen sind als unverzichtbar davon ausgenommen worden. Unverzichtbar geht es auch in anderen Ländern zu, wo Bürger überwacht und nicht verunsichert werden sollen. Deutsche und russische Politiker lassen sich da nicht beirren: Beide Länder haben zeitgleich neue Anti-Terror-Gesetze verabschiedet, die die Überwachung der Bürger verbessern. Das deutsche Eilgesetz hat es so eilig, dass nicht einmal die Kosten für den "Erfüllungsaufwand" richtig berechnet wurden. Dafür hat die Bundespolizei enorm an Kompetenzen hinzugewonnen. Das russische Gesetz geht einen Schritt weiter und verpflichtet alle Provider die Inhalte von SMS oder e-Mails der letzten sechs Monate so zu speichern, dass sie für die Dienste lesbar sind, auch wenn sie verschlüsselt sein sollten.

*** Und so bleibt bei all dem Durcheinander, in dem die Brexit-Protagonisten schon anfangen, zurück zu rudern und zu betonen, dass das alles doch gar nicht so ernst gemeint war, in dem Boris Johnson ausgebuht wird und Nicola Sturgeon, erste Ministerin Schottlands, ein erneutes Referendum über die schottische Unabhängigkeit ankündigt, in dem die Sinn Fein ein Referendum über die Wiedervereinigung Nordirlands mit Éire fordert, in dem die EU-Granden durcheinanderreden und nicht so recht wissen, ob mehr oder weniger Eurpa die richtige Antwort auf den Brexit ist, in dem Pablo Turrión von Podemos eine sozialere und demokratischere EU fordert und einen Austritt Spaniens aus der EU ausschließt, in diesem Durcheinander also bleibt festzuhalten: Vive l'Europe! Es lebe die Europäische Union und der Bundesstaat Europa – auch als Hort der Demokratie und der Menschenrechte im 21. Jahrhhundert.

Was wird.

Dafür bekommen wir was viel Schickeres, die Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich, ZITIS. Da Verschlüsselungen nicht einfach knackbar sind, sollen sich bis zu 400 IT-Mitarbeiter an die Programmierung von Trojanersoftware oder auf die Suche nach Sicherheitslücken machen, und Sachen benutzen wie etwa ein Ausleitungsmodul für Whatsapp. Womöglich arbeitet man auch als Zentralstelle für den Einkauf von Zero Days auf dem grauen Markt, auch das geben die geleakten Papiere her. Per Einrichtungserlass bekommt Deutschland eine Mini-NSA, weit umfangreicher als das einstmals geplante Kompetenzzentrums Informationstechnische Überwachung mit seinen 30 Mitarbeitern. ZITIS soll für das Bundeskriminalamt, die Bundespolizei und den Verfassungsschutz da sein, nur der Bundesnachrichtendienst ist nominell aus dem Spiel, bis der theoriemäßig zuständige Satellit im Weltraum gefunden ist.

Beim ZITIS-Spielchen der geheimen Dienste und Ermittlungsbehörden sollte der neue Bürger-Geheimdienst DISCREET nicht vergessen werden. DISCREET hat in Berlin mit der dreiwöchigen Ausbildung neuer Bürger-Agenten begonnen. Die Frage ist nicht uninteressant, wie ein moderner Geheimdienst aussehen kann, der bei der Totalausbeutung des Menschen durch "Facebook & Co" einschreiten kann. Auch wenn der erste Ausbildungskurs in Kryptologie etwas abgedroschen erscheint, so gibt es doch Spielraum nach oben. Erster Bürger-Agent ist übrigens nach eigener Einschätzung Edward Snowden, der von der Regierungsseite zur Bürgerseite wechselte – und in Russland das russische Überwachungsgesetz kritisiert. Als er noch mit dem Wechseln der Seiten beschäftigt war, besaß er eine Mail-Adresse beim Provider Lavabit. Dieser hat nach einigem Hin und Her über drei Jahre alle bis dato geheimen Dokumente jener Knebelorder freigeklagt, aus denen hervorgeht, dass eine "Grand Jury" den privaten SSL/TLS-Schlüssel von Lavabit haben wollte, um an Edward Snowdens Mailbox gelangen zu können. Die (zensierten) Details zu diesem pikanten Briefwechsel finden sich bei Cryptome als ZIP-Archiv, eine Rede ist für die kommende DefCon angekündigt

Aus dem Durchsuchungsbeschluss gegen Lavabit

Kann ich es verantworten, meine Leser mit düsteren Gedanken über das kommende Europa in die gewitterhaltige Sommernacht entlassen, in der Zyklonopathen ängstlich das Haus hüten oder Buchen suchen? Nein, etwas Positives braucht der Mensch, wie es bereits dem großen Kant schwante, als er seinem Diener Lampe beim Dienen zuschaute. Und es gibt ja auch Erfolgsgeschichten weitab vom Hyperkapitalismus und dem Hä-Hä-Hä über die Briten. Im Kleinen und Feinen feiert Europa am Vorabend des 1. Juli mit einem High Level Event, dass eIDAS an den Start geht, jenes wunderbare System, mit dem man Niederlassungen im Ausland anmelden kann oder eben die Immatrikulation an einer ausländischen Universität durchführt. Ok, für britische Firmen wie OIX ist es ein Schlag ins Kontor. Dafür aber ist in einer Keynote die Deutsche Post mit ihrem e-Postbrief dabei, der gelben Lösung für ganz Europa. (jk)