Was war. Was wird. Von aufrechten Kölnern und anderen Menschen.
Wenn die Felle schwimmen, werden sie nass - ganz ohne den Pelz zu waschen, kalauert Hal Faber, der darauf besteht, dass Putin - nicht nur historisch - lügt.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Unser Volk (und sonstige, die mit uns zusammenleben müssen) wird gezählt, gleich doppelt oder dreifach und da geht es sehr deutsch zu. Da ist in einem kleinen deutschen Dorf zum Entsetzen alle Dörfler die "Dorfquatschtante" als Erhebungsbeauftragte tätig und streut Gerüchte in die Dorfrunde. Auf der anderen Seite gibt es Erhebungsbeauftragte mit Tablet, die ruckzuck fertig wurden und nun damit beschäftigt sind, das Altpapier aller Fragebögen zu entsorgen, die ihnen "vorsichtshalber" mitgegeben wurden. So wird der gern als Messgröße genutzte Mount Everest zwar nicht bestiegen, aber auch nicht vermieden, wie vorab angekündigt. Ein erstes Ergebnis der Volkszählung 2022 steht bereits fest: Es gibt keine 6000 Erhebungsstellen, die mit dem Zensus 2022 beschäftigt sind, sondern nur 549, in denen rund 6000 Mitarbeiter damit beschäftigt sind, Papierdaten in die Computer einzutüten. Die Pressemeldung von Zensus 2022 enthielt einen schlichten Dreher.
*** "Aber ihre Statistik stimmt nicht. Es tut mir leid, aber sie stimmt nicht. Ich bin ein unzuverlässiger Mensch, obwohl ich es verstehe, den Eindruck von Biederkeit zu erwecken. Insgeheim macht es mir Freude, manchmal einen zu unterschlagen und dann wieder, wenn ich Mitleid empfinde, ihnen ein paar zu schenken. Ihr Glück liegt in meiner Hand. Wenn ich wütend bin, wenn ich nichts zu rauchen habe, gebe ich nur den Durchschnitt an, manchmal unter dem Durchschnitt, und wenn mein Herz aufschlägt, wenn ich froh bin, lasse ich meine Großzügigkeit in einer fünfstelligen Zahl verströmen. Sie sind ja so glücklich! Sie reißen mir förmlich das Ergebnis jedes Mal aus der Hand, und ihre Augen leuchten auf, und sie klopfen mir auf die Schulter. Sie ahnen ja nichts! Und dann fangen sie an zu multiplizieren, zu dividieren, zu prozentualisieren, ich weiß nicht was."
Das hat der wohl berühmteste deutsche Erhebungsbeauftragte aufgeschrieben, der in Köln das Volk zählte. Neben der Volkszählung verdiente Heinrich Böll vor dem großen Ruhm sein Geld als Brückenzähler, denn nichts in Köln ist so wichtig wie die Frage nach der Brückennutzung und die Frage nach möglicherweise gesperrten Brücken. Dabei verzählte er sich, weil er sich verguckt hatte:
"Wenn meine kleine Geliebte über die Brücke kommt – und sie kommt zweimal am Tage –, dann bleibt mein Herz einfach stehen. Das unermüdliche Ticken meines Herzens setzt einfach aus, bis sie in die Allee eingebogen und verschwunden ist. Und alle, die in dieser Zeit passieren, verschweige ich ihnen. Diese zwei Minuten gehören mir, mir ganz allein, und ich lasse sie mir nicht nehmen. Und auch wenn sie abends wieder zurückkommt aus ihrer Eisdiele, wenn sie auf der anderen Seite des Gehsteiges meinen stummen Mund passiert, der zählen, zählen muss, dann setzt mein Herz wieder aus, und ich fange erst wieder an zu zählen, wenn sie nicht mehr zu sehen ist."
*** Natürlich kommen jetzt die Statistiker aus ihren Hütten und Palästen und erzählen, dass derartige Ausfälle in einer guten Statistik eingepreist sind und vom Computer ruckzuck weggerechnet werden. So gesehen ist es unerheblich, dass Böll in eine Eisverkäuferin verliebt war, als er auf der Brücke zählte. So gesehen ist es genauso unwichtig, wenn ein Erhebungsbeauftragter einfach ein paar Haushaltsbögen mit erfundenen Daten füllt, weil die Wege elend lang sind und es deshalb Gebiete gibt, in denen niemand unterwegs ist. Das soll keine Kritik an Statistiken sein, die, wie die Statistik der Woche zeigt, sich einiger Beliebtheit erfreuen. Regelmäßig kann man etwas lernen, wie bei dieser Sonderausertung zu Sexualdelikten gegen Kinder auf der Basis der polizeilichen Kriminal-Statistik.
*** Sicher wird der alles aufzeichnende Schriftsteller Böll über seine Erlebnisse als Volkszähler Notizen gemacht haben, doch sein Archiv ist beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs schwer beschädigt worden. Das bringt einen anderen bekannten Kölner ins Spiel. Wolfgang Niedecken, der Frontmann von BAP, wurde in einem bezahlgeschütztem Interview zu den Liedern zehnter Juni und Wellenreiter befragt und ob er jetzt die Sache mit dem Wettrüsten und der Friedensbewegung anders sieht. Sieht er. Bemerkenswert ist indes eine andere Passage. "Was gar nicht geht, finde ich, ist, Songtexte anzupassen. Man soll nicht an ihnen rumfummeln und sie damit verschlimmbessern. Böll hätte auch nicht 'Gruppenbild mit Dame' umgeschrieben, wenn es irgendwo neue Erkenntnisse gegeben hätte. Aber wenn ich so drüber nachdenke: Warum das Lied nicht spielen? Mit der Stelle von den Lügen, mit denen man nichts am Hut hat, könnten ja auch die Lügen Putins gemeint sein." Nicht nur in dieser Hinsicht unterscheidet sich BAP von den Scorpions, die ihr Gesäusel vom Wind of Change umgeschrieben haben.
*** Ja, Putin lügt. Seine Sicht auf die Geschichte ist eine einzige Klitterung, mal mit, mal gegen Lenin. Auf seiner offiziellen Website zitiert er Peter den Großen. Die offiziell korrigierte Fassung: "Peter the Great waged the Great Northern War for 21 years. On the face of it, he was at war with Sweden taking something away from it… He was not taking away anything, he was returning. This is how it was. The areas around Lake Ladoga, where St Petersburg was founded. When he founded the new capital, none of the European countries recognised this territory as part of Russia; everyone recognised it as part of Sweden. However, from time immemorial, the Slavs lived there along with the Finno-Ugric peoples, and this territory was under Russia’s control. The same is true of the western direction, Narva and his first campaigns. Why would he go there? He was returning and reinforcing, that is what he was doing." Kein Europäisches Land protestierte? Nun, die Osmanen kesselten ihn ein, verboten den Zugang zum Gebiet der Kosaken und nahmen ihm die Schwarzmeerflotte ab. Was an der Ostsee passierte, interessierte sie nicht.
Was wird.
Es mag verfrüht sein, auf den Herbst zu starren wie Männer, die das mit ihrer Fernwahrnehmung auf Ziegen tun. Aber zu den vielen verdienstvollen Momenten, für die re:publica 2022 in Berlin gesorgt hat, gehört der Blick auf die Corona-Pandemie, auf Flops wie die Luca-App und Tops wie die Corona-Warn-App. Letztere wurde von den Veranstaltern zwar komplett ignoriert, aber es ist ja auch Sommer, wie in sorglos. Check-in mit dem QR-Code? Fehlanzeige. Zumindest am ersten Tag wurden Masken nur selten getragen, auch dort nicht, wo von den Veranstaltern Maskenpflicht ausgewiesen war. Dennoch gab es gleich mehrere Vorträge, die davor warnten, dass uns in der nächsten Welle im Herbst die Felle davonschwimmen werden. Dafür gibt es strukturelle Gründe, weil niemand daran rütteln will, wie Daten bei den Gesundheitsämtern auflaufen. Dazu gehört aber auch, dass Digitalisierung ein Lippenbekenntnis ist. Bestens zu sehen bei Bundeskanzler Olaf Scholz, der nach einer Beobachtung Probleme mit dem Splinternet hatte.
Gleich neben der Kalkscheune, in der die ersten re:publicas stattfanden, liegt das Gesundheitsministerium. Dort wurde parallel zum ersten Tag der Veranstaltung ein Papier vorgestellt, in dem ExpertInnen Maßnahmen für die Pandemievorbereitung im Herbst vorschlugen. Unter ihnen ein echter Knaller für das deutsche Gesundheitssystem, ein Echzeitlagebild, gewissermaßen ein Wildeboer-Traum: "Die derzeit noch sehr präsenten täglichen Meldungen reiner Inzidenzzahlen sollten schrittweise durch ein digitales Echtzeitlagebild ergänzt werden, das die Infektions- und Krankheitslast nach Altersgruppen sowie die Kapazitäten der Krankenhäuser auf Stadt- und Kreisebene differenzierter abbildet. Eine stichprobenartige Integration sozioökonomischer Faktoren ist anzustreben. Ein solches Lagebild sollte über COVID-19 hinaus für andere Infektionskrankheiten zur Darstellung der Belastung des Gesundheitssystems verstetigt werden." Her mit der tollen Echtzeitüberwachung, so etwas sollte doch in Nullkommanichts zu programmieren sein, am besten in ständigem Austausch mit der digitalen Zivilgesellschaft. Einige ihre Mitglieder hatten dieser Tage nichts zu Lachen, so abseits der re:publica.
(jk)