Wir! Müssen! Sparen! – Jetzt! Ein Kommentar zur Energiekrise
Atomkraftwerke sollen länger laufen, Kohlekraftwerke werden aus der Reserve geholt. Wir gehen einem Abgrund aus dem Weg und steuern auf einen anderen zu.
Durch meine Wohnstraße ziehen wieder die Laubbläser, an der Fassade des Nachbarhauses brennt dauerhaft die Laterne, sobald es dunkel wird, nebenan wartet ein Taxi mit laufendem Motor, am Himmel zieht ein Flugzeug Kondensstreifen, aus den Kaminen qualmt es, von der Ferne rauscht die Autobahn. Alles ist so, wie es bisher in jedem Oktober in dieser Straße war, nur sehe und höre ich die Dinge nun mit anderen Augen und Ohren. Früher dachte ich: "Muss das sein?", weil mich manches gestört hat, heute denke ich, "muss das sein?", weil diese Dinge mich irritieren, denn sie verbrauchen allesamt Energie, und die ist jetzt knapp.
An der Hand, deren Zeigefinger auf diese Dinge zeigt, zeigen drei Finger auf mich selbst, meinen Haushalt und mein Verhalten, auf meine elektrischen und elektronischen Geräte, meine Heizung, meine Fortbewegung. Ein Auto habe ich nicht, in den Lampenschirmen stecken schon längst LED-Lampen, an den Heizkörpern smarte Thermostate, die ich nun an kalten Tagen nach und nach niedriger einstelle, um meine persönliche Kältetoleranz auszureizen; wenn die Finger am Schreibtisch klamm werden, mache ich mir eine Wärmflasche. Den Kühlschrank regele ich hingegen hoch und unter der Dusche putze ich mir nicht die Zähne, damit das Warmwasser nicht so lange läuft. Es ist also alles gut. Wirklich?
Fernsehen und Radio konsumiere ich im Streaming, acht Stunden am Tag läuft im Homeoffice der Desktop-Rechner mit drei angeschlossenen Monitoren, in der Jackentasche steckt ein Smartphone und am Handgelenk umgeschnallt eine Smartwatch. Die Zeitung lese ich morgens nicht auf Papier, sondern auf dem Tablet und manches Mal bringt mir Amazon etwas ins Haus. Das alles und noch viel mehr frisst Energie.
Heizlüfter statt Klopapier
Und die müssen wir auf Teufel komm raus sparen, beteuert täglich die Bundesnetzagentur, denn sonst würde mit der Notfall- die nächste und höchste Stufe des Notfallplans Gas gezündet. Dann würde die Bundesnetzagentur zum "Bundeslastverteiler" und könnte dann verfügen, dass manche weniger Gas beziehen. Uns als private Haushalte würde das nicht betreffen, denn wir sind "geschützte Verbraucher". Jedenfalls nicht direkt, aber auf jeden Fall die Wirtschaft, von der wir abhängen.
Aber alle noch so dringlichen Sparappelle schienen konsequenzlos verpufft zu sein. Ende September wurden die Tage kälter als in den Septembern der Vorjahre, der Gasverbrauch zog sogleich an und der Chef der Bundesnetzagentur schlug Alarm. Das Heizverhalten der Menschen scheint sich wie eh und je nur an der Temperatur auszurichten und nicht an den Erfordernissen, die sich durch Putins Energiekrieg gegen Europa ergeben, wie die FPD ihn nennt. So ging in der vergleichsweise warmen 40. Kalenderwoche Anfang Oktober der Gasverbrauch wieder zurück.
Vorsorgend wie Menschen nun einmal sind, haben sie sich natürlich schon längst auf die neue Situation eingestellt und greifen zum Beispiel zu Teelichtöfen. Das alarmiert den Deutschen Feuerwehrverband und den Bundesverband des Schornsteinfegerhandwerks wegen erhöhter Brandgefahr. Statt mit Nudeln und Klopapier wie zu Coronazeiten wurde es nun mit Heizlüftern und anderen Wärmegeräten eng. Die verbrauchen größtenteils kein Gas, aber Strom, weshalb die Sorge um die Netzstabilität wuchs, sich die Ampelkoalition um die noch laufenden Atomkraftwerke verzankte und der Bundeskanzler mit seiner Richtlinienfaust auf den Tisch haute.
Viele Dilemmata
Eines der vielen Dilemmata dieser Tage wurde am vergangenen Wochenende auf dem Bundesparteitag der Grünen in Bonn deutlich. Ausgerechnet die Partei, zu deren 40 Jahre alten Grundsäulen der Kampf gegen die Atomkraft gehört, stimmte mehrheitlich dafür, zwei AKW über ihr eigentlich vorgesehenes Abschaltdatum hinaus in Reserve zu halten. Auf demselben Parteitag mahnte Klimaschützerin Luisa Neubauer in einer Rede vor den Delegierten, den Schutz der Erde nicht aus dem Blick zu verlieren.
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Der zunehmend durch Menschen verschuldete erbärmliche Zustand der Erde zeichnete sich schon vor vielen Jahrzehnten ab. In der Zeit ist nicht viel passiert, um das zu bessern, viel mehr ist passiert, um ihn zu verschlimmern. Wenn dann zum Beispiel eine Umweltbehörde in den USA Grenzwerte für Schadstoffe in Abgasen senkt, tricksen die Autohersteller, um diese zu umgehen, und werden dabei erwischt.
Hier ließe sich mit einem Zeigefinger auf Volkswagen zeigen, einem der Hauptschuldigen des Abgasskandals. Die anderen drei Finger dieser Hand würden aber auf uns zurück und auf unsere Tricksereien weisen, mit denen wir tagtäglich unsere Verhalten rechtfertigen. Wenn ich kein Auto habe, darf ich wohlgemut nach Übersee fliegen oder all inclusive auf Kreuzfahrt. Immerhin hat Volkswagen anscheinend den Skandal zur Katharsis genutzt und ist voll auf Elektromobilität umgeschwenkt.
Wir Menschen finden immer wieder Wege, in den Abgrund zu wandern, und sei es sehenden Auges über Umwege. Die Bundesregierung versucht alles zu tun, um dem einen Abgrund, dem Energienotfall, auszuweichen, und baut kohlendioxidträchtig beispielsweise die LNG-Infrastruktur aus, lässt Steinkohle- und Braunkohlekraftwerke aus der Reserve holen. Das ist sehr wichtig, damit die Wirtschaft nicht zusammen- und eine ernsthafte soziale Krise ausbricht. Es ist sehr fraglich, ob das ausreicht, wenn wir nicht unser persönliches Verhalten ändern – sofort und langfristig.
(anw)