Die Million-Euro-Medikamente kommen

Von den Spar-Anstrengungen im deutschen Gesundheitswesen bleibt eine Branche seltsam unbehelligt: die Pharmafirmen.

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Die Million-Euro-Medikamente kommen

(Bild: Sébastien Thibault)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Nike Heinen
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Knapp eine Million Euro, genau 916.791,72 Euro. So viel verlangt die Kyowa Kirin GmbH, deutsche Tochter eines japanischen Konzerns, laut den Zulassungsunterlagen für die Behandlung mit dem neuen Medikament Crysvita pro Patient und Behandlungsjahr. Der Stoff ist seit dem 4. Oktober für deutsche Kassenpatienten zugelassen.

Das Unternehmen hat bis zu 437 Kinder und Jugendliche als potenzielle Kunden unter den gesetzlich versicherten Deutschen ausgemacht. Sie leiden unter einer Krankheit namens Hypophosphatämie, Medizinergriechisch für „zu wenig Phosphat im Blut“. Die Knochen härten nicht richtig aus, betroffene Säuglinge kommen schon mit deformierten Köpfen auf die Welt. Unbehandelt können sie in wenigen Jahren sterben.

Ihre Eltern würden jeden Preis bezahlen, um sie zu retten. Aber darf ein Pharmakonzern auch jeden Preis verlangen? Die Therapie für jene 437 Patienten würde das Gesundheitssystem dieses Jahr 400 Millionen Euro kosten. Auf die Frage, wie dieser Preis zustande kommt, reagiert die Kyowa Kirin GmbH nicht.

Im deutschen Gesundheitssystem existiert zwar ein Mechanismus, um eine derartige Preisgestaltung zu überprüfen. Wie eine Recherche von Technology Review ergab, wird er jedoch seit Jahren nicht angewendet. Und es besteht augenscheinlich auch kein Interesse, daran etwas zu ändern.

Das eigentlich zuständige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) jedenfalls hat im Fall von Crysvita „keine Kosten-Nutzen-Bewertung gemacht“, sagt Sarah Mostardt, Bereichsleiterin für den Bereich Gesundheitsökonomie, gegenüber Technology Review. Mehr noch: Im Moment mache das Institut nach ihrer Aussage „gar keine“ Kosten-Nutzen-Analysen. Damit schaut niemand den Pharmafirmen bei der Preisgestaltung für neue Medikamente über die Schulter.

TR 1/2019

Technology Review Januar 2019

Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 1/2019 der Technology Review. Das Heft ist ab 20.12.2018 im Handel sowie direkt im heise shop erhältlich. Highlights aus dem Heft:

Und das trotz der stetigen Klage über steigende Gesundheitskosten. Patentgeschützte Wirkstoffe der letzten drei Jahre sind im Schnitt doppelt so teuer wie ältere Medikamente mit Patentschutz. Davon sind ganz besonders Medikamente betroffen, die wie Crysvita gegen seltene Erkrankungen helfen sollen. Von diesen sogenannten Orphan Drugs gibt es etwa 35 neue pro Jahr. Über ein Dutzend machten bei ihrem Markteintritt schon mit fünf- oder sogar sechsstelligen Beträgen pro Patient und Jahr von sich reden. Sie machen bereits acht Prozent des Gesamtumsatzes aus. Der Anteil dürfte künftig deutlich wachsen.

Für eine Kosten-Nutzen-Bewertung braucht das IQWIG einen Auftrag, entweder von den Pharmaunternehmen – die das noch nie in Anspruch genommen haben – oder von den Vertretern der Versicherten. Die haben zweimal zu dieser Waffe gegriffen, beide Male im Jahr 2009. Eine Studie wurde auf halbem Wege gestoppt. Warum, ist unklar. Die andere verglich Preise und Effekte von vier neueren Antidepressiva mit einem Placebo und vorhandenen Therapien. Die Gesundheitsökonomen hatten ermittelt, dass die Medikamente von den Kassen viel zu teuer bezahlt wurden – der an der belegbaren Wirkung gemessene „faire“ Preis lag um bis zu 80 Prozent niedriger als die tatsächlich erstatteten Beträge.

Doch seitdem ist nichts mehr passiert. „Wir kamen zu dem Schluss, dass das in den konkreten Fällen nicht zielführend war“, sagt GKV-Spitzenverband-Sprecherin Ann Marini. Ein wichtiger Grund dürften die langen Fristen zu Stellungnahmen für der Pharmafirmen sein: Vor allem sie führten dazu, dass bis zur Veröffentlichung der IQWIG-Studie zu Antidepressiva vier Jahre vergingen.

„Wenn wir endlich den errechneten Preis kennen, könnten die Unternehmen längst den Hauptteil ihrer Gewinne gemacht haben“, sagt Marini. IQWIG-Sprecherin Andrea Kamphuis nennt die Kosten-Nutzen-Berechnung nur noch „eine theoretische Möglichkeit“. So dürften Medikamentenpreise von einer Million Euro pro Jahr künftig häufiger werden.

Mehr zur Zukunft der Medizin lesen Sie in der neuen Januar-Ausgabe von Technology Review (im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im heise shop erhältlich). (anwe)