Missing Link: Der Schöne und die Influencerin - von KI, virtuellen Models, Schönheitswahn und Mode

Auf der Liste der durch Künstliche Intelligenz am meisten bedrohten Berufe stehen auch Models ganz oben. Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht?

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Missing Link: Der Schöne und die Influencerin - von KI, virtuellen Models, Schönheitswahn und Mode

(Bild: Subbotina Anna / shutterstock.com)

Lesezeit: 27 Min.
Von
  • Valerie Lux
Inhaltsverzeichnis

Es gibt da eine Szene aus einem Werbefilm für einen Gillette-Damenrasierer. Sie stammt aus dem Jahr 2016, der elften Staffel von "Germanys Next Top Model". Fata Hasanovic, ein 21-jähriges, sehr dünnes Mädchen sitzt in einem Kamerastudio vor einem grünen Hintergrund. Sie wirft einen silbernen Ball auf und ab. Mehrere Kamerageräte kreisen um sie herum, Stative und Reflektoren sind aufgestellt, Scheinwerfer sind auf sie gerichtet. Während der Aufnahme stehen mindestens zwanzig andere Menschen um das das Set herum, Beleuchter*innen Tontechniker*innen, Kamerafrauen und Make-Up-Artisten, Regisseure und Digitaltechniker.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Ein, zwei, drei, hunderte Male muss die gebürtige Bosnierin nach Vorgabe der Regisseurin den kleinen Ball in die Luft werfen, der daraufhin über ihre haarlosen Beine rollt. "Ein Fotoshooting ist ein Job, der sehr viel Präzision und Konzentration erfordert", erklärt Marketingleiter Patrick Karcher den unbedarften Zuschauern. "Ein Model muss sehr oft die gleiche Bewegung hintereinander machen, bis wir die perfekte Position finden. Dafür brauchen wir ein Model wie Fata, die sehr geduldig und konzentriert für mehrere Stunden sein kann." Nach der Aufnahme kommt das Video noch zur digitalen Bearbeitung. Im fertigen Werbespot sehen Hasanovics Beine aus wie zwei hautfarbene Eisstiele.

Szene mit Fata Hasanovic aus Germanys Next Topmodel 2016

(Bild: Germanys Next Topmodel )

Ihre Kollegin, das Topmodel Shudu Gram ist eine junge Frau aus Afrika. Sie hat einen Schmollmund, kurze schwarze Haare und hohe Wangenknochen. Man könnte sie, wie Hasanovic, für ein normales Model ihrer Zunft halten. Auf ihrem Instagram-Account präsentiert sie sich mit goldfunkelnden Ohrringen, die einen scharfen Kontrast zu ihrem schwarzen Gesicht mit den dunklen Katzenaugen bilden. Ihre Lippen glänzen feucht, das Licht, dass auf ihre Wangenknochen fällt, zeigt die Poren ihrer Haut.

Shudu Gram auf Instagram

(Bild: Instagram )

Auf einem Foto, auf dem sie ein gelbes T-Shirt trägt, bedankt sie sich für das Geschenk bei anderen Nutzern. Hier wirkt sie gar nicht wie ein Model, sondern verschüchtert, als wisse sie bei dem Schnappschuss nicht wohin mit ihren Armen.

Nur ein Detail unterscheidet Shudu Gram von Fata Hasanovic: Das schwarze Model mit den mandelförmigen Augen wurde vollständig durch einen Computer hergestellt. Vergleicht man die Bewegung des Körpers von Shudu Gram auf ihren Instagram-Videos und den fertigen Werbespot von Hasanovic, so bewegen sich beide wie echte Menschen. Kein Unterschied ist erkennbar. Shudu Gram wurde vom britischen Fotograph Cameron James Wilson entworfen.

Shudu Gram auf Instagram

(Bild: Instagram )

Während für die simple Bewegung von Hasanovics Beinen noch kostspieliges Kameraequipment und dutzende Assistenten notwendig sind, braucht Shudu noch nicht einmal eine Kamera. In dem 3D-Softwareprogramm "Clo 3D" werden die Maße eines Kleidungsstücks von Wilson eingegeben. Während Hasanovics realer Körper vor dem Green Screen Verrenkungen anstellt, damit später per Photoshop "Sandstrand" unter ihre glatten Beine hinzugefügt werden kann, klickt Wilson einfach auf dem Hintergrund "Wüste" in seinem Programm. Und schon läuft Shudu Gram elegant über tausende von Sandkörnern eine Wüstendüne herunter. Ganz ohne Green-Screen-Techniker.

Braucht die Modeindustrie mit ihren irrealen, illusionären Fotos von lächelnden Menschen, deren Gesichter, akribisch retuschiert, einem von Werbeprospekten entgegenleuchten, überhaupt noch das Abbild eines echten Menschen? Seit der Geburt von Shudu Gram im Jahr 2017 lautet die Antwort: Nein. Das digitale Supermodel hat auf Instagram 150.000 Follower, obwohl bislang nur einige wenige Bilder und ein paar Videos von ihr veröffentlicht wurden.

Die Nachbearbeitung von Werbefotos für Zeitschriften oder Werbevideos für das Fernsehen dreht sich nur um ein Ziel: Die körperlichen Unreinheiten des Models wegzuretuschieren. Ein Pickel auf dem Dekolleté, Lachfalten um die Augen, eine graue Strähne im Haar, all diese menschlichen Eigenschaften fallen ausgebildeten Photoshop-Designern zum Opfer. Bei der Rasiererwerbung sehen Hasanovics Eisstiel-Beine makellos aus – keine Poren, keine Venen, keine Gänsehaut, keine Falten. Sie wirken unnatürlich glatt und rein.

Es wird der Zielgruppe Frauen suggeriert, Perfektion sei ein mögliches Ziel. Und ein erstrebenswertes Ziel. "Auf eine Art hat mir Shudu mehr über natürliche Schönheit beigebracht, weil ich sie realistisch kreieren wollte. Und deswegen musste ich die ganzen menschlichen Eigenschaften wieder hinzufügen, wobei ich eigentlich gelehrt wurde, die nach einem Fotoshootings mit einem echten Model durch Photoshop zu eliminieren", sagt Wilson.

"In der 3D-Bildbearbeitung ist es genau andersherum: Ich füge die menschlichen Makel extra hinzu, damit das digitale Model möglichst echt aussieht", erklärt er in seinem Studio in London. Das sind beispielsweise rote Augen, die eine Person müde aussehen lassen und normalerweise aufgehellt werden. Bei Shudu Gram bleiben die roten Äderchen in ihrem Augenweiß bestehen. "Auf eine Art und Weise hat mich Shudu Gram von der obsessiven Perfektion der Modeindustrie befreit", erzählt der Fotograph.