100. Todestag von Georg Cantor: Der Meister der Mengen

Er ist der Kinderschreck der Rechenkunst: seine Mengenlehre ließ in den Siebzigern Schüler, Eltern und Lehrer verzweifeln. Zugleich gilt sein Werk als Fundament der modernen Mathematik. Am 6. Januar 1918 starb Georg Cantor in Halle.

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Meister der Mengen: zum 100. Todestag von Georg Cantor
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Ralf Bülow
Inhaltsverzeichnis

Eine Frage zum Start: Nehmen Sie eine Menge, egal wovon, bilden Sie das Komplement und dann den Durchschnitt von diesem mit der Ausgangsmenge. Was erhalten Sie? Wenn Sie "leere Menge" sagten oder dachten: Glückwunsch! Denn Sie haben die Anfangsgründe der Mengenlehre verstanden, und auf dieser ruhen die heutige Mathematik und alles, was mit ihr zusammenhängt.

Georg Cantor um 1870

Der Erfinder jener Lehre, Georg Cantor, wurde am 3. März 1845 in St. Petersburg geboren. Großvater Jacob kam aus Dänemark, Vater Woldemar war Kaufmann und Börsenmakler; Mutter Marie entstammte einer österreichischen Musikerfamilie. 1856 zogen die Cantors von Russland nach Wiesbaden, später lebten sie in Frankfurt am Main.

Georg Cantor absolvierte die Höhere Gewerbeschule in Darmstadt und studierte ab 1862 Mathematik in Zürich, Göttingen und Berlin. Hier promovierte er 1867. Zwei Jahre später habilitierte er sich in Halle mit einer Arbeit über Zahlentheorie. An dieser Universität lehrte er dann bis 1913, seit 1877 als Professor.

Sein erstes Arbeitsgebiet waren trigonometrische Reihen, doch ab 1873 befasste er sich mit der Theorie, die ihn berühmt machte. Mengen definierte er formal erst 1895, zunächst sprach er von einer Lehre der Mannigfaltigkeiten. Faktisch zähmte Cantor die Unendlichkeit, vor allem durch die Einführung der Mächtigkeiten, die er mit dem hebräischen Buchstaben Aleph bezeichnete.

Aleph-0 ist die Mächtigkeit der natürlichen Zahlen 1, 2, 3,.. wie auch die der rationalen Zahlen, Aleph-1 charakterisiert die reellen Zahlen und ebenso die Punkte auf Linien, Flächen und so weiter. Die unterschiedlichen Ausmaße der natürlichen und der reelle Zahlen wies Cantor mit dem Diagonalverfahren nach; es zählt zu den klassischen Beweisen der Mathematik.

Die Mengenlehre setzte sich zunächst nur langsam durch; 1897 wurde sie aber auf dem Internationalen Mathematikkongress in Zürich von der Community anerkannt. Im gleichen Jahr tauchte die erste Antinomie der Mengenlehre auf, 1903 entdeckte der Logiker und Philosoph Bertrand Russell die widersprüchliche Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten.

Georg Cantor in den 1890er Jahren

Nach der Überwindung ihrer Geburtsfehler wurde die Cantorsche Mengenlehre aber zur Basis der gesamten Mathematik und Logik. Ein Meilenstein bedeutete das Axiomensystem von Ernst Zermelo und Abraham Adolf Fraenkel aus den frühen 1920er Jahren. Eine wichtige Ergänzung stellte Zermelos Auswahlaxiom für unendliche Mengen dar.

Neben seiner Haupttheorie entdeckte Georg Cantor in den 1880er Jahren mit der später nach ihm benannten Cantor-Menge das erste Fraktal. Eine ähnliche Idee hatte allerdings schon einige Jahre früher der irische Mathematiker Henry Stephen Smith. 1890 war Georg Cantor Mitbegründer und erster Vorsitzender der Deutschen Mathematiker Vereinigung DMV.

In seiner Freizeit befasste sich Cantor mit Forschungen zum wahren Autor der Shakespearschen Dramen – er war Anhänger der Francis-Bacon-Theorie. Seit den 1884 litt der Mathematiker wiederholt an Depressionen. Im 1. Weltkrieg wurde seine Gesundheit immer schlechter; das letzte Jahr seines Lebens verbrachte er im Sanatorium. Am 6. Januar 1918 starb Georg Cantor in Halle an einer Herzschwäche.

Seine Mengenlehre geriet ab 1968 in die Schlagzeilen. Am 3. Oktober 1968 beschloss die westdeutsche Kultusministerkonferenz, den Rechenunterricht zu reformieren: Spätestens im Schuljahr 1972/73 sollten ABC-Schützen und Sextaner eine verdünnte Form von Cantors Theorie erlernen. In der Folgezeit brachten Verlage ungezählte Bücher und Spiele zur neuen Mathematik heraus.

Spielerische Mengenlehre zur neuen Mathematik

(Bild: Ralf Bülow))

Doch schon im Frühjahr 1974 fragte ein SPIEGEL-Cover: "Macht Mengenlehre krank?" Bis 1984 wurde die Reform Stück für Stück demontiert, und heute erinnern nur noch einige Uni-Sammlungen an die Mathe-Reform. Geblieben ist außerdem die Mengenlehre-Uhr in Berlin, die ein kryptologisches Geheimnis bergen soll. Francis-Bacon-Fan Cantor hätte sich sicher gefreut. (mho)