50 Jahre SAP: Ein Start-up seiner Zeit

Am 1. April 1972 gründeten fünf Ex-IBMer in der kurpfälzischen Provinz das derzeit einzige deutsche Softwarehaus von Weltrang: SAP.

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(Bild: nitpicker/Shutterstock.com)

Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Achim Born
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Mit über 120 Milliarden Euro das zweitwertvollste DAX-Unternehmen, ein Umsatz von 27,8 Milliarden Euro 2021 und über 107.000 Menschen auf der Payroll! Die am 1. April 1972 in Weinheim von fünf Ex-IBMern gegründete SAP ist in fünfzig Jahren zu einem veritablen, internationalen Konzern gewachsen, der im Markt für integrierte betriebswirtschaftliche Unternehmenssoftware noch immer als Maß aller Dinge gilt.

Im Mai wird sich mit Hasso Plattner der letzte aktive Gründer noch einmal für eine letzte zweijährige Amtszeit als Aufsichtsratsvorsitzender zur Wahl stellen. Der 78-Jährige sieht sich in der Pflicht, das – oder soll man sagen: sein? – Unternehmen an die nächste Führungsgeneration zu übergeben – auch „vor dem Hintergrund einer schnelleren Neuausrichtung des Unternehmens, eines weiterhin wechselhaften globalen Umfelds und der Veränderungen im Vorstand in den vergangenen zwei Jahren“.

Mit diesen Ausführungen adressiert Plattner die aktuellen Anstrengungen, SAP als Anbieter Cloud-basierter Anwendungssoftware zu platzieren. Darüber soll aber nicht die Kernkompetenz der Integration verloren gehen, die das Unternehmen groß machte.

Diese Aufgabe liegt jetzt bei dem Eigengewächs Christian Klein, der vor vier Jahren gemeinsam mit Jennifer Morgan den US-Amerikaner Bill McDermott an der Unternehmensspitze ablöste und seit zwei Jahren als alleiniger CEO die Geschicke bestimmt. Er hat allem Anschein nach in diesem Punkt ein offenes Ohr für die Bestandskunden und setzt alles daran, die architektonische Grundlage des durch Milliarden-schwere Zuwächse recht bunten Cloud-Anwendungsportfolios wieder glattzuziehen. Zugleich hat Klein aber auch alle Hände voll zu tun, den Wechsel der Bestandskunden auf die neue Softwaregeneration S/4HANA zu beschleunigen.

Technische und organisatorische Veränderungen sind nichts Neues für SAP. Dabei entpuppt sich die Kernkompetenz Integration immer wieder als Faustpfand für den Erfolg, aber auch Hemmschuh bei neuen Softwareabenteuern. Viele der heute im Kontext der Cloud diskutierten Probleme und Aktivitäten weisen daher zum Teil deutliche Parallelen zu den Schwierigkeiten mit früheren Technologieumbrüchen auf. Mitunter wirkt es nur, als ob die Begriffe aktualisiert worden sind.

50 Jahre bieten daher Gelegenheit, noch einmal zurückzuschauen, um die aktuelle Situation transparenter zu machen.

Schuld war – wie so häufig in der frühen Computergeschichte – einmal mehr IBM. Als Dietmar Hopp, Hasso Plattner und Claus Wellenreuther bei ihrem Arbeitgeber mit der Idee auftauchten, eine Finanzsoftware zu entwickeln, gab es eine eindeutige Antwort: Sie sollten Computer verkaufen und bei der Installation derselben helfen. Die Softwareentwicklung sei Angelegenheit der Forschungsabteilung. Das „No“ wurde zum Startschuss für das mit Abstand größte deutsche Softwarehaus. Dem Trio schlossen sich mit Klaus Tschira und Hans-Werner Hector zwei weitere IBMer an, um am 1. April 1972 in Weinheim unter dem Namen „Systemanalyse und Programmentwicklung“ auf eigene Rechnung durchzustarten.

Sie kannten sich alle aus dem Mannheimer IBM-Büro: Klaus Tschira, Hasso Plattner, Dietmar Hopp und Hans-Werner Hector (v.l.). Der fünfte Gründer Claus Wellenreuther ist auf dem Foto von 1988 nicht zu sehen. Der promovierte Kaufmann, der vornehmlich mit der Architektur und dem Konzept des Finanzmoduls befasst war, musste aus gesundheitlichen Gründen das Unternehmen bereits verlassen.

Auch wenn die fünf Gründer als Erstes mit einer kundenspezifischen Softwareentwicklung befasst waren, lautete das erklärte Unternehmensziel von Beginn an: Die Entwicklung einer integrierten betriebswirtschaftlichen Standardsoftware, die dialogorientiert im Echtzeitbetrieb arbeitet – für die frühen 70er-Jahre ein durchaus ehrgeiziges Ziel.

„SAP GmbH – Systeme, Anwendungen, Produkte in der Datenverarbeitung“, wie die Firma vier Jahre später umbenannt wurde, war in vielerlei Hinsicht ein Start-up seiner Zeit. Denn eine unabhängige Softwareindustrie war gerade erst im Entstehen begriffen. Der alte Arbeitgeber IBM hatte 1969 offiziell und auf Druck des US-amerikanischen Justizministeriums nicht ganz freiwillig die getrennte Auflistung (Unbundling) der Preise für Hard- und Software verkünden müssen. Zuvor erhielten Anwender neben dem Rechner ihre Programme beziehungsweise Programmierleistung im Paket zu einem Inklusivpreis hingestellt.

Einen eigenen Rechner konnte sich damals kaum eine der jungen Software-Schmieden leisten. Sie programmierten auf den Systemen ihrer Kunden – und das meist nachts. Wobei „Programmieren“ der falsche Begriff ist. Es wurden in der Regel „nur“ die Programme aufgespielt, getestet und verbessert. Für die Codierung selbst durfte keine kostbare Maschinenzeit „vergeudet“ werden. Sie fand mit Bleistift auf vorgedruckten Formularen statt, die in der Datenerfassung dann auf Lochkarten gestanzt wurden.

Die ersten Programme lieferte SAP in Form von Lockkarten aus – 2000 Karten pro Kasten. Laut einer Anekdote aus den ersten Jahren ließ Hasso Plattner einmal einen Kasten fallen und benötigte zwei Tage, um alles zu rekonstruieren.

SAP machte hier keinen Unterschied: Alle fünf Gründer programmierten und die Programme wurden in den ersten Jahren als Lochkartenstapel zum Kunden gebracht. Die Entwicklung von System R ist eng mit der Deutschland-Tochter des britischen Chemie-Konzerns ICI verbunden. Im Rahmen eines Projektes für John Deere wurde das Programm dann internationalisiert.

Die rechnerlose Zeit für die SAP war erst 1979/1980 mit dem Umzug nach Walldorf, dem heutigen Stammsitz der Firma, vorbei. Es wurde im Rechenzentrum ein Siemens-Großrechner aufgestellt. Ein wenig später gesellte sich ein IBM-Mainframe hinzu.

Zu diesem Zeitpunkt waren die SAPler bereits mit der Neukonzeption ihrer Software beschäftigt, die ihre Ursprungsidee erstmals vollständig umsetzte. Durch Fortschritte in der Speichertechnik war man in der Lage, Informationen zwischenzuspeichern, beispielsweise um häufig genutzte Tabellen und Programmteile für einen schnelleren Zugriff vorzuhalten. Damit wurde unter anderem die Integration betriebswirtschaftlicher Funktionen vorangetrieben. Die betriebswirtschaftlich wichtigen Informationen sollten nur in einem Beleg erfasst und allen Modulen zur Verfügung stehen.

Neue technische Optionen wie Online-Betrieb mit Terminals, Time-sharing-Verfahren der Betriebssysteme etc. wurden konsequent eingesetzt, während die Konkurrenz noch in Batch-orientierten Anwendungen für einzelne Unternehmensabteilungen und -aufgaben dachte. Diese interne Vernetzung der traditionellen Unternehmensaufgaben wirkte sich zwangsläufig auf die Gestaltung der internen Abläufe eines Unternehmens aus. Der Tunnelblick auf einzelne Unternehmensfunktionen wurde mehr und mehr durch die umfassendere Geschäftsprozessbetrachtung abgelöst. Es gab keinen einheitlichen Kontenplan und es musste kein expliziter Rechnungsabschluss implementiert werden, da im Grunde jederzeit eine Bilanzierung möglich war.

Am 4. November 1988 war es soweit: Aus der SAP GmbH wurde die Aktiengesellschaft SAP Systeme, Anwendungen und Produkte in der Datenverarbeitung. Heute ist SAP, nun als Europäische Gesellschaft (SE), nach Marktkapitalisierung zweitgrößter DAX-Konzern.

Den endgültigen Durchbruch schaffte SAP mit dem R/3-System, das als technische Plattform besser skalierte und den Weltruhm des Unternehmens begründete. In der dreistufigen Client-Server-Architektur umringt ein Netz von Applikationsservern den zentralen Datenbankserver, während Präsentationsserver die Daten für die Benutzer aufbereiten. Das Ganze lief unter Unix, auch wenn – wie Plattner einmal zum Besten gab – bei ersten Vorführungen auf der Cebit 1991 behauptet wurde, dass von dem Unix-Terminal auf den Mainframe in Walldorf zugegriffen wurde. Der Grund für das schamhafte Verstecken: SAP kam aus der Mainframe-Welt und Unix-Systeme waren seinerzeit als System für betriebswirtschaftliche Software bei der konservativen Anwenderklientel (noch) nicht wohl gelitten.

Tatsächlich stand ursprünglich IBMs AS/400-Rechner als Trägersystem für R/3 im Zentrum, wobei IBMs neues IT-Konzept System Application Achitecture (SAA) Pate für die Softwareausrichtung stand. Hier war C als Programmiersprache und SQL für das Datenbankmanagementsystem gesetzt, weshalb SAP intern Unix-Workstations für die Entwicklung ihrer neuen Software-Generation einsetzen konnte. Da IBM aber mit SAA nicht wirklich vorankam und das Debuggen von C-Basis-Routinen des neuen Systems auf dem Mainframe zu ernsthaften Problemen führte, folgte mit Blick auf den Cebit-Termin in einer Hauruck-Aktion der Schwenk Richtung Unix. Die in SAPs Haussprache ABAP geschriebenen Anwendungen wurden auf das Unix-System überführt.

Der Notfall entpuppte sich schnell als Glücksfall: Denn selbst wenn R/3-Funktionsumfang noch nicht an R/2 auf Augenhöhe war, traf SAP damit insbesondere in den USA den Nerv der Zeit. R/3 lief unter Unix, war portierbar und passte perfekt in den einsetzenden Downsizing-Hype.

Im Unterschied zu dem betulichen Walldorf arbeitete der Vertrieb in den USA auf Provisionsbasis, was einige der besten Verkäufer der Branche anlockte. Führende Beratungshäuser übernahmen als Implementierungspartner die gleichermaßen aufwändige wie lukrative Arbeit, die Prozesse der Anwendungsfirmen in das komplexe Geflecht der R/3-Funktionen einzupflegen. Begriffe wie Continuous Process Improvement oder der von Michael Hammer und James Champy eingeführte radikalere Ansatz des Business Process Reengineering lieferten hierfür den theoretischen Unterbau für eine neue organisatorische Sichtweise. Die Marktforschungsfirma Gartner schuf mit Enterprise Resource Planning (ERP) eine neue Kategorie für integrierte Anwendungsprogramme à la R/3 und SAP hob als Marktführer umsatztechnisch buchstäblich ab.

In einer verfilmten Heldenerzählung wäre jetzt ein idealer Zeitpunkt für den End-Screen. Im realen Wirtschaftsleben drehte sich indes die Softwarewelt immer schneller weiter. Nicht immer reagierte das Walldorfer Unternehmen auf technischeEntwicklungen mit der gebotenen Geschwindigkeit. Das Aufkommen des Internets hätte SAP sogar beinahe verschlafen. Recht hektisch führte man eine neue Zwischenebene (Internet Transaktion Server) ein und beschloss, Programmfunktionen über eine Schnittstelle namens BAPI (Business Application Programming Interface) für andere Anwendungen zugänglich zu machen.

Hinzu kam und kommt, dass ein ERP-Programm zwar vieles, aber nicht alles kann. Die monolithische, intern vernetzte Grundstruktur be- und verhinderte die schnelle Aufnahme neuer Prozesse und Funktionen. Prozesse enden beispielsweise nicht abrupt an den Firmengrenzen, wie spätestens mit dem Einzug des Internets in die Firmen-IT offensichtlich war.

In den 1970er Jahren wurde Programme zum Produkt und hatten einen Preis. Das heute kaum noch zu durchschauende SAP Preisgefüge war 1975 noch recht übersichtlich.

Neue Konkurrenten mit innovativen Produktideen, etwa im Bereich Business Intelligence, Data Warehouses. Customer Relationship Management (CRM), Supplier Relationship Management (SRM) oder Supply Chain Management (SCM) mischten sich plötzlich in die Geschäfte ein. SAP konterte vor der Jahrtausendwende mit der Entwicklung eigener als New Dimension gepriesene Produkte, um erstens die eigene Stellung als Lieferant für Unternehmenssoftware zu verteidigen und zweitens an den neuen geschäftlichen Optionen zu partizipieren.

Das Dilemma der SAP: Als börsennotiertes Unternehmen musste der Konzern die Wachstumsphantasien der Finanzanalysten füttern, als Softwarefirma auf technische Entwicklungen reagieren und als ERP-Lieferant die Integrationstugend hochhalten. Nicht jede Aktivität führte dabei zum Erfolg. Nur noch wenige werden sich beispielsweise an das 1997 mit großem PR-Tamtam gemeinsam mit Intel gegründete Joint-venture Pandesic erinnern, das einen schnellen Einstieg in den E-Commerce versprach und im Sommer 2000 wieder dicht gemacht wurde.

Vorschnell als Dreamteam gefeiert wurde denn auch die anschließende Allianz der Walldorfer mit Commerce One, in deren Rahmen man sich sogar mit 20 Prozent an dem der US-amerikanischen Spezialisten für Marktplatz-Software beteiligte. Zwei Jahre später musste SAP aufgrund hoher Abschreibungen dann erstmals seit Börsengang einen Quartalsverlust ausweisen. Die zuvor als eigenständige Tochterfirmen geführten SAP Portal und SAP Markets wurden zusammengelegt und innerhalb der Konzernorganisation in dem neuen Geschäftsbereich „Collaborative Applications“ angesiedelt. Die Leitung übernahm Shai Agassi, der ein Jahr zuvor seine Firma Toptier nach Walldorf verkauft hatte und in der Zwischenzeit dort in den Vorstand aufgerückt war.

Deutlich wurde zudem, dass man eine neue technische Ebene brauchte, die Geschäftsprozesse außerhalb des mysap-Portfolios, wie die Unternehmensanwendungen nun hießen, ermöglichen sollte. Sogenannte xApps respektive Cross-Applications sollten in Java programmiert werden, das Enterprise Portal als Nutzerschnittstelle nutzen, auf dem hauseigenen Web Application Server laufen und die Integrationsfeatures von MyTechnology nutzen. Doch bevor sich der geneigte Interessent an die ungewohnten Buzzwords gewöhnt hatte, durfte er sich wieder neu orientieren. Denn mit NetWeaver präsentierte Agassi kurze Zeit später das Konzept einer umfassenden Anwendungs- und Integrationsplattform, der noch heute das Fundament der ERP Business Suite von SAP bildet.

Dieser Stack, so die Idee, sollte zu einer Business Process Platform mutieren und den Umbau der Produktpalette zu einer vollständigen prozess- beziehungsweise serviceorientierten Lösungslandschaft begleiten. Als architektonische Grundlage diente das seinerzeit gehypte SOA (Service Oriented Architecture)-Konzept, im SAP-Jargon als Enterprise Services Architecture (ESA) respektive E-SOA tituliert. Auf diesem Weg sollte die monolithische Struktur der Software aufgebrochen werden, ohne den semantischen Zusammenhalt zu verlieren. Ein zeitaufwändiges, teures und kaum durchführbares Unterfangen.

Parallel dazu startete die SAP mit BusinessByDesign die Entwicklung einer von Grund auf neuen, serviceorientierten ERP-on Demand-Lösung für mittelständische Unternehmen. Über das Prozessdesign sollte diese ihre Services quasi automatisch konfigurieren. Die Zielsetzung war vielleicht ein wenig überambitioniert und passt auch nicht wirklich in das SAP-Portfolio. Jedenfalls fristet das Programm – gemessen an den Investitionen und Erwartungen – ein eher trauriges Dasein. Immerhin blieb ihm das Schicksal des nahezu gleichzeitig gestarteten Kayak-Projektes erspart, das auf eher traditioneller Basis mit vorkonfigurierten Geschäftsprozess-Templates für eine schnellere ERP-Einführung im Mittelstand sorgen sollte.

Anstatt auf Eigenentwicklung zu setzen, kaufte SAP in den 2010er-Jahren unter der Regentschaft von Bill McDermott schnell und teuer diverse Cloud-Anwendungen zusammen, um den Forderungen von Marktanalysten nachzukommen. Im Februar 2012 wurde beispielsweise den Kauf von SuccessFactors für 3,4 Milliarden US-Dollar abgeschlossen. Ende Mai stand der Erwerb der Beschaffungsplattform Ariba an. Acht Milliarden war McDermott die Übernahme der Feedback-Plattform Qualtrics wert, die mittlerweile schon wieder verselbständigt ist.

In feinstem Manager-Sprech erklärte McDermott die kostspieligen Zukäufe mit mangelnden Cloud-Skills in der SAP-eigenen „DNA“. Vor rund sieben Jahren stellt das Unternehmen dann mit S/4HANA die aktuelle, vierte Generation ihrer Unternehmenssoftware vor, die vollständig auf die von Plattner initiierte In-Memory-Datenbank HANA abgestimmt ist.

Die mühsame Arbeit, das zusammengekaufte Cloud-Portfolio auch mit Blick auf S/4HANA hinsichtlich der Begrifflichkeiten wie auch technisch zu vereinheitlichen, liegt seit 2019 in der Verantwortung von Christian Klein – keine einfache Aufgabe, schließlich fremdeln die SAP-Anwender doch immer noch mit der Cloud. Aber allmählich macht S4/HANA Boden gut gegenüber den traditionellen ERP-Paketen der Walldorfer.

(odi)