AOL Time Warner: Vorreiter des neuen Web
Hintergrundbericht: Die Fusion von AOL und Time Warner beflügelt die Phantasie der Aktionäre und ruft Skeptiker auf den Plan.
Die Medienbranche feiert die Fusion von AOL und Time Warner als Mega-Deal, bei dem sich die jeweils größten Konzerne aus der Verlags- und Internetwelt zusammengeschlossen haben. Analysten malen sich bereits eine gewaltige Fusionswelle aus, die in den nächsten Monaten über die Verlagsbranche hinwegschwappen soll. Der Gedanke beflügelt auch bereits die Phantasie der Anleger. Zwischen New York und Sidney notierten heute die Wertpapiere börsennotierter Verlagshäuser auf Höchstständen. Auf dem Parkett wird eifrig spekuliert, welche Partner sich demnächst zusammenfinden. Disney wäre ein solcher Kandidat; Viacom verdaut gerade die Fusion mit dem amerikanischen Sender CBS, steht aber bereits für neue Taten zur Verfügung und unter den Internet-Firmen gilt Yahoo als bevorzugtes Fusionsziel.
Für die großen Verlage steht fest, dass der AOL-Deal mit Time Warner nicht unbeantwortet bleiben kann. Denn der Zusammenschluss hat die alte Ordnung in der Verlagsbranche aus den Fugen gehoben. Bis vor kurzem waren Internet-Firmen für Verlage begehrte Opfer, die man ohne viel Federlesens dem eigenen Portfolio einverleibte. Doch dass es einem Unternehmen gelingen könnte, das ausschließlich im Internet und mit Online-Diensten sein Geld verdient, einen dicken Fisch aus der Verlagswelt an Land zu ziehen, daran wollte bisher niemand so recht glauben.
Aber die Macht der im Vergleich zu Internetfirmen umsatzstärkeren Verlagskonzerne beginnt unter dem Einfluss der Börsen zu bröckeln. Dort richten die Anleger ihr Augenmerk auf erhoffte Gewinne mit dem Zukunftsgeschäft Internet; Umsatzzahlen sind nur noch am Rande interessant. Von ihrer finanziellen Struktur her könnten AOL und Time Warner unterschiedlicher kaum sein: Obwohl AOL derzeit jährlich nur 4,8 Milliarden US-Dollar umsetzt, ist das Unternehmen an der Börse 164 Milliarden Dollar wert. Time Warner dagegen bilanzierte im vergangenen Geschäftsjahr einen Umsatz von 26,8 Milliarden US-Dollar, ist aber nur mit 83 Milliarden US-Dollar an der Börse ein vergleichsweise kleines Licht. Unter diesen Vorzeichen ist dem deutlich umsatzschwächeren Internet-Multi AOL die Fusion mit dem Mediengiganten leichtgefallen.
Auf der anderen Seite bringt AOL zusammen mit seiner Tochter CompuServe rund 23 Millionen Online-Kunden in die Ehe ein. Dem Vernehmen nach wartet dieser gewaltige Kundenstamm nur darauf, mit Inhalten des Time-Warner-Verlags versorgt zu werden. Neben Content hat der Mediengigant aber auch ein rares Gut zu vergeben: AOL leckt sich bereits seit geraumer Zeit die Finger nach dem ausgedehnten US-Breitband-Kabelnetz von Time Warner.
Die Dominanz des neuen Riesen ruft auch bereits Skeptiker auf den Plan, die das Ende des klassischen Internet vorhersagen. AOL Time Warner könnte die Internet-Gemeinde spalten und zum Vorreiter des multimedialen Bezahl-Web werden - einem Kanal für Vergnügungssuchende und einer Art Premiere World im Netzwerk (siehe auch eine Analyse bei Telepolis). Voraussetzung für ein solches Web, das Inhalte nur noch gegen Gebühr ausliefert, sind neben dem Content schnelle Zugänge, wie sie AOL nun mit Time Warners Breitband-Kabelnetz ebenfalls eingekauft hat.
Zudem kann das Gemeinschaftsunternehmen künftig aus gemeinsamen Ressourcen schöpfen und intensives Cross-Marketing zu betreiben. Auch in Deutschland darf sich das Publikum schon mal auf die neue Liaison einstellen. So wird wohl auch in den Dudelsendern VIVA I und VIVA II sowie im Infokanal n-tv künftig noch öfter als bisher das bekannte "drin?" vernehmen zu sein – an den drei Stationen ist Time Warner beteiligt. Durch derartige Synergie-Effekte soll der neue Konzern beiden Partnern etwa eine Milliarde US-Dollar pro Jahr an Kosten einsparen.
AOLs langjährigen Internet-Partner Bertelsmann zumindest ließ die Aussicht auf mögliche Synergie-Effekte offensichtlich kalt. Bis vor kurzem standen die Gütersloher auf der Wunschliste von AOL-Boss Steve Case. Die Verhandlungen zerschlugen sich jedoch, als Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff klar wurde, dass einer möglichen Fusion unüberwindliche Hürden entgegenstanden. Unter anderem hatten die Bertelsmann-Stiftung und der Buchclubgründer Reinhard Mohn frühzeitig signalisiert, dass sie ihre Zustimmung verweigern würden. Zudem wäre der viertgrößte Medienkonzern der Welt erst mit einem gewaltigen finanziellen Klimmzug zum 20-Prozent-Gesellschafter avanciert. Für eine Übernahme per Aktientausch standen die Gütersloher ohnehin nicht zur Verfügung, da der Konzern keine Aktien am freien Markt ausgibt.
Auf die Frage, ob denn nun langfristig das Joint Venture mit AOL in Europa in Gefahr sei, wiegelt Konzernsprecher Oliver Herrgesell gegenüber c't ab: "Weder der Film- noch der Kabelnetzbereich tangiert uns. Im Kampf um die Inhalte und E-Commerce-Angebote müssen wir uns nicht verstecken". An der Zusammensetzung von AOL Europe werde sich in absehbarer Zeit nichts ändern. Auch Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff betonte, er wolle die Zusammenarbeit mit dem Online-Konzern in Europa und Australien fortsetzen. AOL Europa könnte künftig ein heißer Börsenkandidat werden und biete jede Menge Potenzial. Trotzdem gilt als fraglich, ob Middelhoff im Aufsichtsrat von AOL verbleibt.
Middelhoff hatte schon bei seinem Amtsantritt im November 1998 die Entwicklung vorgezeichnet und dem eigenen Unternehmen eine tief greifende strategische Neuausrichtung verschrieben. Im Kern geht es darum, alle vorhandenen Ressourcen von Bertelsmann auf das Internet auszurichten. Das Ziel lautet, mit aller Kraft beim elektronischen Handel (E-Commerce) ganz vorne zu sein. Nach der Fusion von AOL und Time Warner ist Bertelsmann von diesem Wegpunkt weiter entfernt, als jemals zuvor. (em)