Ärzte fordern Umdenken bei der Digitalisierung der Medizin
Das Tempo der Digitalisierung der Medizin führte zu hohen Ausfallraten. Nach dem Führungswechsel im Gesundheitsministerium drängen Ärzte auf eine Kursänderung.
- Detlef Borchers
Das Barometer wurde erfunden, um vor Schlechtwetterperioden zu warnen. Auch das "Praxisbarometer Digitalisierung 2021" der kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) warnt vor schlechten Zeiten. Der Mitte Januar veröffentlichte Report fragt, wie es weitergehen soll mit der telematischen Infrastruktur (TI), über die Ärzte, Apotheker, Kassen und Patienten ihre Gesundheitsdaten austauschen.
Für das KBV-Barometer kontaktierte das IGES-Institut für Gesundheitsforschung 2800 niedergelassene Kassenärzte, von denen 89 Prozent an die TI angeschlossen waren. Die Befragung ergab, dass die Fehleranfälligkeit der digitalen Anbindung der Praxen 2021 gegenüber dem Vorjahreszeitraum drastisch zugenommen hat. Zur Präsentation des Praxisbarometers nannte der KBV-Vorsitzende Thomas Kriedel die Zahl von 3850 Stunden (über 160 Tage), in denen Ärzte innerhalb der vergangenen 13 Monate Ausfälle der TI beklagten. Demnach habe jede der befragten Praxen durchschnittlich nur an drei von fünf Tagen mit der TI problemlos Daten austauschen können – eine Größenordnung, die auch eine Stichprobe von c’t bestätigt.
Unzureichende Vorab-Tests
In jedem Fall habe die überhastete Einführung unausgereifter Anwendungen und der hohe Zeitdruck unter dem ehemaligen Gesundheitsminister Spahn zu den vermehrten Ausfällen geführt, erklärte KBV-Vize Stephan Hofmeister bei der Präsentation der Ergebnisse: "Man wollte Ärzte und Versicherte in ein neues Auto einsteigen lassen, das bislang noch nicht einmal auf der Teststrecke zuverlässig funktioniert, und hätte dieses sehenden Auges vor die Wand fahren lassen!" Sollte sich dies nicht ändern, überlege die KBV sogar, die Projektgesellschaft Gematik zu verlassen.
Die Gematik ist für den Ausbau der TI verantwortlich. Das Bundesgesundheitsministerium hält 51 Prozent der Stimmrechte, die KBV nur 7,4 Prozent. Laut Hofmeister könne sie somit zu wenig Einfluss auf die Gematik nehmen.
Die Vertreter der Kassenärzte nutzten die Vorstellung des Digitalisierungsbarometers, um für eine langsamere und sorgfältigere Einführung des elektronischen Rezeptes und der e-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) zu werben. Zwar sei aktuell noch nicht bekannt, wer für die Digitalisierung im Gesundheitsministerium künftig verantwortlich sein werde, doch setze er auf eine konstruktivere Zusammenarbeit, sagte Kriedel.
Kriedel stützt seine Hoffnung auf eine neue inhaltliche Ausrichtung bei der Digitalisierung womöglich auf den Fakt, dass neben Jens Spahn auch der Health Innovation Hub (hih) seine Arbeit am 31. Dezember beendete. Die Denkfabrik beriet bislang das Gesundheitsministerium bei der Digitalisierung. Ihr Leiter Jörg Debatin war Co-Autor von Spahns Buch "App vom Arzt" und rühmte sich in einem Interview mit der Deutschen Apotheker Zeitung Mitte Dezember, dass es erstaunlich viele Konzepte seines Beraterteams bis in die Referentenentwürfe der Gesetze geschafft hätten. Mit Auflösung des hih ist damit nun Schluss.
Mindestens 30.000 e-Rezepte
Als erstes Indiz, dass eine Trendwende stattfinden könnte, mag der einstimmige Beschluss in der Gesellschafterversammlung der Gematik vom 26. Januar gelten. Demnach soll das e-Rezept erst nach erfolgreichem Abschluss einer umfangreichen Testphase bundesweit eingeführt werden. Dazu müssen Apotheker mit den Kassen mindestens 30.000 e-Rezepte erfolgreich abgerechnet haben, bis Anfang Februar waren es nur 686.
Alle gesetzlichen Krankenkassen und die Apotheken-Rechenzentren sollen beim Test mit von der Partie sein und Fehler an die Gematik melden. Bislang hatte es unverständlicherweise keine solche "Evaluierung der Nutzererlebnisse" gegeben.
Klappt die Übertragung nicht, sollen die Rezepte zudem nicht mehr "retaxiert" werden, wodurch die Apotheken ansonsten die Kosten bereits ausgegebener Arzneimittel von den Kassen nicht erstattet bekämen. Dies hatte bislang viele Apotheker davon abgehalten, die Einführung des E-Rezepts zu unterstützen.
Krankschreibung digital
Auch bei der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) entspannt sich die Lage. In etlichen Praxen soll der Versand der eAU an die Kassen reibungslos angelaufen sein. In den ersten vier Wochen des Jahres konnte laut Gilbert Mohr von der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein knapp jede fünfte AU elektronisch verschickt werden.
Allerdings hapert es noch am Feedback: Klappt die Meldung bei der Krankenkasse, erhält der Arzt nämlich keine Bestätigung. Je nach Praxisverwaltungssystem (PVS) kann er nur über seine Log-Dateien nachweisen, wer wie lange krankgeschrieben wurde. Lediglich bei Problemen – meistens mit dem POP3-Mail-Dienst KIM – erhält der Arzt eine Rückmeldung. Dann können Ärzte ein "Stylesheet" ausdrucken und per Post an die Krankenkassen verschicken. Die AU für den Arbeitgeber müssen Versicherte ohnehin weiter als Blatt Papier eintüten.
Elektroschocks per elektronischer Gesundheitskarte
KBV-Vizepräsident Stephan Hofmeister stellt übrigens ernsthaft infrage, dass Rezepte und AUen auf Papier die Ärzte in ihrer täglichen Arbeit ausbremsen und deshalb unbedingt digitalisiert werden müssten. Laut einer Umfrage unter 4500 Ärzten dauere die Ausstellung einer AU statt weniger Sekunden auf Papier bis zu vier Minuten digital. Während ein Papierrezept in zwei bis drei Sekunden ausgedruckt sei, müssten Ärzte für ein e-Rezept bislang noch 40 bis 50 Sekunden veranschlagen.
Dass sich Ärzte im Praxisalltag mit profan wirkenden Problemen herumschlagen müssen, zeigt auch das Beispiel der elektronischen Gesundheitskarte (eGK): Die Generation 2.1 der eGK ist standardmäßig mit einem NFC-Chip ausgestattet. Er ermöglicht eine drahtlose Kommunikation zwischen Kartenleser und Karte, wie man sie vom Einkaufen her kennt: Man hält die Karte über den Leser und gibt die (in diesem Fall sechsstellige) PIN ein.
Aktuell wird der NFC-Chip aber nicht genutzt. Man muss die eGK weiterhin in kleine Terminals stecken, wobei elektrostatische Entladungen mitunter das gesamte System lahmlegen. Im schlimmsten Fall erkennt das Terminal dann die zusätzlich gesteckte Institutionenkarte (SMC-B) nicht mehr, mit der eine Praxis bei der TI angemeldet ist, und das Personal muss das Praxisverwaltungssystem neu starten. Die Abhilfen sind relativ einfach: Ärzte können vor ihrem Tresen Entladungs-Fußmatten auslegen oder ihr Personal anweisen, die eGK mit einer geerdeten Hand selbst einzustecken und dies nicht den Versicherten zu überlassen.
Die "Schuld" des Datenschutzes
Trotz Ausfallraten der TI von 40 Prozent, der um Größenordnungen längeren Bearbeitungszeiten der eAU und E-Rezepte sowie simpler Steckprobleme der Gesundheitskarten versuchen einige IT-Experten noch immer, dem Datenschutz die Schuld für die schleppende Digitalisierung der Medizin zu geben. So machten Ferdinand Gerlach und Frank Niggemeier, ihres Zeichens Vorstand und Geschäftsführer des "Sachverständigenrats Gesundheit", unter der plakativen Überschrift "Daten nutzen, nicht nur schützen!" in der Zeit gegen das Gespenst des Datenschutzes mobil, das den Fortschritt in Deutschland behindere. Wer nicht alle Gesundheitsdaten in anonymisierter Form der Forschung in Echtzeit zur Verfügung stelle, sorge dafür, dass die deutsche Medizin im "Blindflug" über Corona rätsele und auf die Daten aus Großbritannien, Finnland und Israel angewiesen sei.
Für die Verzögerung verantwortlich machten Gerlach und Niggemeier unter anderem den Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber. Der möchte, dass die Kassen in ihren Geschäftsstellen Computer und Kartenterminals aufbauen, an denen Versicherte auch ohne Smartphone auf ihre elektronische Patientenakte (ePA) zugreifen, Daten einsehen, freischalten und sperren können. Dies hält Kelber speziell für ältere Patienten für wichtig, damit diese auch ohne Smartphone die Souveränität über ihre Gesundheitsdaten behalten.
ePA-Auswertung in Echtzeit
Die Versicherten werden sich mit der Sichtung und Freigabe ihrer in der ePA gespeicherten Befunde und Arztbriefe jedoch beeilen müssen. Denn wie Gerlach und Niggemeier fordert auch der neue "Expertenrat Corona" der Ampel-Regierung, dass die in der ePA gespeicherten Daten in Echtzeit ausgeleitet, anonymisiert, ausgewertet und veröffentlicht werden sollen – idealerweise also, sobald ein Labor oder eine Klinik Befunde in die ePA einstellt. In seiner Stellungnahme vom 30. Januar beklagt der Rat, dass der "systemisch geduldete Mangel an Daten die wissenschaftliche Analyse und Bekämpfung der Pandemie erschwert".
Die Fixierung auf ein "Echtzeitsystem" mag die medizinischen Experten beschäftigen, die sicher nicht die Zeit haben, sich mit den Problemen der einfachen Arztpraxen zu beschäftigen. Bezeichnend ist dabei allerdings, dass im Expertenrat Corona niemand vertreten ist, der in einer Arztpraxis arbeitet. Wer aber die Digitalisierung des Gesundheitssystems beschleunigen will, muss zunächst die Lauffähigkeit der Telematik sicherstellen.
(hag)