Ausblick auf 2023: Was uns in IT, Tech und Digitalpolitik erwartet

2022 war ein in vielfacher Hinsicht forderndes Jahr. Das wird auch im neuen Jahr 2023 so bleiben, meint Falk Steiner in seinem Ausblick mit IT- und Tech-Sicht.

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(Bild: Blue Planet Studio/Shutterstock.com)

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Inhaltsverzeichnis

Wenn 2022 ein ungemütliches Jahr mit vielen Unwägbarkeiten war, dann nehmen Sie es lieber als Trainingseinheit für 2023. Denn nach den Corona-Jahren 2020/2021 und dem Kriegsjahr 2022 ist kein Problem wirklich gelöst. Dafür drohen ganz viele neue Probleme, auch solche, mit denen bislang nicht umgegangen werden musste.

Das offensichtlichste ist die Energieknappheit: Russland wird kein Gas mehr geben, Frankreichs Atomkraftwerke bröseln weiter vor sich hin, Deutschlands letzte drei Meiler gehen im April beschlossenermaßen vom Netz und der weitere Ausbau von Solar- und Windkraft kommt nicht schnell genug voran. Und schon gar nicht die Speicherkapazität, die mit den unberechenbaren erneuerbaren Energien logisch eng verbunden ist.

Verantwortungsträger warnen daher auch schon intensiv vor dem Winter – und zwar dem 2023/24, wenn über den Sommer die Gasspeicher nicht genug gefüllt würden und im Nachbar-Kernkraftwunderland der Parc Nucléaire weiterhin nicht die Mengen erzeugt, die die Nachbarn für ihre Stromheizungen benötigen. Da hilft nur absehbar eines: Strom erzeugen und Energie sparen, wo und wie auch immer es geht, um Kosten und Probleme im Rahmen zu halten – oder wie Peter Lustig es einst formulierte: Abschalten nicht vergessen.

Unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine, dessen Fortgang kaum berechenbar ist, steht auch ein anderer Punkt: militärische Aufrüstung. Die Bundeswehr wird modernisiert und Waffensystemanbieter rund um den Globus wittern in der vernetzten Kriegsführung gute Absatzchancen für neue Kombinationssysteme aus Artillerie und Drohnen, Drohnen und Verbänden, Gefechtleitsystemen, Low-Cost-Schwarm-Kamikaze-Drohnen und ganz viel künstlicher Intelligenz. Was da auf die Welt zukommt, könnte düstere Science Fiction-Romane der Jahrtausendwende locker in den Schatten stellen.

Aber nicht nur Energieknappheit und Militärisches werden 2023 prägen. Seit Wochen warnen Minister der Koalition, allen voran Digitalminister Volker Wissing (FDP) und Robert Habeck (Grüne) davor, dass nicht alles immer verfügbar sein könnte und eine effizientere Ressourcennutzung benötigt würde. Das Problem wird gerade ganz akut befeuert, denn durch China tobt nach der Lockerung der Coronadiktatur eine Coronawelle, die die Welt noch nicht gesehen hat. Das könnte Lieferketten in neue Probleme stürzen und auch im IT-Sektor erneut massive Spuren hinterlassen. Denn das politisch angestrebte teilweise Decoupling, neudeutsch Diversifizierung genannt, ist noch längst nicht so weit, als dass die Volksrepublik kein wesentlicher Faktor mehr wäre.

Der deutsche Digitalminister sieht als eine Zauberformel für bevorstehende Knappheiten eine bessere Datennutzung – vor allem in der Industrie. Datenbasierte Effizienz, glaubt Volker Wissing, könnte die Probleme abfedern helfen. Wie gut, dass die Datenstrategie der Bundesregierung 2023 kommen soll. Was die bringen wird? Man darf gespannt sein, wurde doch zuletzt intensiv um sie zwischen den Ressorts gestritten. Maßgeblicher dürfte allerdings der Data Act werden, der derzeit noch auf europäischer Ebene verhandelt wird und die Leitplanken für eine Datennutzung im industriellen Maßstab aufstellen soll.

Und damit wären wir schon mittendrin in der Digitalpolitik. Der steht 2023 ein buntes Jahr bevor. Es sind keine größeren Wahlen in Deutschland, EU oder den USA geplant, aber eine kleinere spielt digitalpolitisch dann doch eine wichtige Rolle: Im Februar will Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bekannt geben, ob sie als Spitzenkandidatin nach Hessen geht, um dort anzutreten. Nach vielen Diskussionen darum, ob Faeser digitalpolitisch am richtigen Ort ist, könnte hier eine Veränderung anstehen, die vor allem viele der großen, anstehenden EU-Dossiers betrifft.

Angefangen mit der EU-Verordnung gegen Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs (CSA-Verordnung), mit der die Innenkommissarin Ylva Johansson Betreiber zum Durchsuchen von Inhalten auf Servern und Endgeräten verpflichten will – sonst wird notfalls gesperrt –, in der ewigen Diskussion um sichere Verschlüsselung oder bestmöglichen Zugriff für Sicherheitsbehörden, Faeser könnte bald Geschichte sein und den Platz räumen – doch für wen? Frau und SPD sind die Bedingungen, das ist keine einfache Ausgangslage. Und wer auch immer Faeser nachfolgt, wenn sie nach Hessen gehen sollte, erbt ein ganzes Bündel an anstehenden Aufgaben.

Kritische Infrastrukturen und andere für das Funktionieren von Gesellschaften essenzielle Leistungen sollen auch physisch besser geschützt werden, das Kritis-Dachgesetz soll im Sommer kommen, existiert aber erst seit wenigen Wochen in Eckpunkten. Und auch bei der Cybersicherheit gibt es Handlungsbedarf. Zum einen muss das BSI unabhängiger werden – von der ministerinneninduzierten Vakanz an der Spitze gar nicht erst zu sprechen – denn das steht im Koalitionsvertrag. Und dann muss auch noch die Netzwerk- und Informationssicherheitsrichtlinie, die sogenannte NIS2, in deutsches Recht gegossen werden, genauer ins BSI-Gesetz. Ob als eigenständiges IT-Sicherheitsgesetz oder huckepack bei anderen Gesetzen wie dem teilverwandten Kritis-Dachgesetz steht derzeit noch nicht abschließend fest.

Wie es mit dem Onlinezugangsgesetz, also der Digitalisierung der Verwaltungsdienstleistungen, genau weitergeht, ist derzeit ebenfalls offen. Was aber sicher ist: Es soll eine Lösung für die elektronischen Identitäten geschaffen werden, personalausweisbasiert und rechtssicher. Und natürlich sollen auch die digitalen Verwaltungsdienstleistungen endlich kommen, aber das wie kann weiterhin nur im föderal-kommunalen Neben- und Miteinander der Bundesrepublik ausgehandelt werden.

Jubelmeldungen wird es 2023 aber aus der Digitalpolitik trotzdem geben können: Derzeit liefern sich zwei Standorte – einer im nordrhein-westfälischen Möhnesee, einer Lam bei Cham im bayerischen Wald, einen Wettlauf: An welchem Ort darf die Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft des Bundes, die MIG, erstmals "Mast have" rufen? Die Chancen für den Flecken in Bayern stehen dabei nicht schlecht.

Vorübergehend geschlossen ist das Breitbandausbau-Förderprogramm des Bundes – wegen zu großen Erfolges. Derzeit wird intensiv an der Neuausrichtung der Förderkriterien gestrickt, Pardon, darum gestritten. Wie groß müssen Gebiete mindestens sein? Sollte die derzeitig verfügbare Geschwindigkeit ein relevanter Faktor sein? Und wo wollen eigentlich die Glasfaserverlegefachbetriebe selbst und vollständig auf eigene Kosten ausbauen? In den kommenden Monaten steht eine intensive Diskussion um die verfügbaren, über 3 Milliarden Euro an. Die werden zwar längst nicht im kommenden Jahr unter die Erde gebracht und gesellen sich als "gebundene Mittel" dann erst einmal zu den anderen fast 15 Milliarden Euro Rückstau, sind ab dann aber für andere Ideen gesperrt – wenn es einmal losgeht. Die Optimisten in Regierungskreisen rechnen mit März 2023 für die Förderneuauflage, die Pessimisten mit frühestens Ende Mai, bis es wieder Feuer frei für den nächsten "Antragstsunami" durch die Kommunen heißt.

Mit einem Tsunami wird es schon irgendwie vorangehen, auch bei der amtierenden EU-Kommission unter Ursula von der Leyen. Deren Kabinett hat in den vergangenen Jahren eine wahre Monsterwelle an Digitalregulierung angeschoben, manches davon trifft 2023 auf Land. Der Digital Markets Act und der Digital Services Act laufen sich regulatorisch mit einigen Vorstufen weiter warm, letzterer könnte ab Mitte des Jahres sogar erste Auswirkungen auf die großen Plattformen und Suchmaschinen zeitigen. Oder anders formuliert: Ab dann dürfen sich Big Tech, Big Money, Big Brother und Big Brussels darum streiten, wer jetzt das Sagen hat, wenn es um Inhaltemoderation, irreführende Nutzeroberflächen (Dark Patterns) und viele andere Pflichten geht.

Zugleich wird in Brüssel absehbar der AI Act, die Künstliche-Intelligenz-Verordnung 2023 verabschiedet werden. Ob die Parlamentarier, Mitgliedsstaatenvertreter und Kommission bei den sogenannten Trilogen, bei denen über jede einzelne Formulierung hart gerungen werden kann, dieses Mal GPT3 für womöglich konsistentere Regulierung mit an den Tisch holen wollen, ist nicht überliefert. Was aber bekannt ist: damit werden neue Pflichten auf Entwickler von allem, was man so KI nennen kann, zukommen.

Neue Pflichten wird auch ein weiteres EU-Vorhaben mit sich bringen, das in diesem Jahr fertig werden soll: der Cyber Resilience Act. Der wird für viele Produkte und Dienstleistungen Vorschriften enthalten, mit denen Vorfälle wie Mirai oder Bashlite in die Geschichtsbücher der frühen Epoche der Digitalisierung verbannt werden sollen: Updatepflichten, Sicherungspflichten, ob vernetzter Thermostat, Webcam, Kinderspielzeug, Drohnen oder Fernseher. All das ist in die Zukunft gerichtet, in der die Legacy-Produkte der 1990er, 2000er, 2010er und frühen 2020er irgendwann doch einmal vom Netz gehen.

(Bild: sdecoret / Shutterstock.com)

Ob das mit der Vernetzung überhaupt noch so funktionieren wird, entscheidet sich derweil auch an anderer Stelle. Denn die EU-Kommission – und da haben Parlament und Mitgliedstaaten nur wenig mitzureden – hat vor wenigen Tagen einen Vorschlag dafür gemacht, künftig unter gewissen Umständen den Transfer personenbezogener Daten in die USA wieder zu vereinfachen. Angemessen soll unter den Bedingungen des "EU-US-Data Privacy Framework" der US-Rechtsrahmen zum Schutz von Daten sein, meint die EU-Kommission.

Und versucht damit die anstehende Vollkatastrophe im transatlantischen Datenverkehr abzuwenden: Die irische Datenschutzaufsicht wird in den kommenden Monaten das Verdikt im Fall Meta sprechen müssen, ob Facebook und Co über eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Übertragung von Daten in die USA verfügen. Wenn nein, heißt es: Stopp. Dann würden Apple, Microsoft, Meta, Google, Amazon, Cloudflare und viele andere Unternehmen vor dem GAU stehen. Oder noch vor Gericht etwas Zeit zu schinden versuchen, solange ihnen die Absicherung der Daten auf europäischem Boden vor dem Zugriff des US-Rechts nicht gelingt.

Der Meltdown bei Datentransfers soll also verhindert werden, der Meltdown der menschenfreundlichen Umwelt ebenso – doch beides ist alles andere als gesichert. Und beides wird 2023 auch für Twitter- und Tesla-Chef Elon Musk relevant werden, dessen erzwungenermaßen angenommene Offerte für den Social-Media-Anbieter mit anschließender Irrfahrt auch den Tesla-Aktienkurs auf Talfahrt schickte. Eigentlich hätte Deutschland dringenden Bedarf an Elektroautos: Von den 48 Millionen im dritten Quartal 2021 zugelassenen PKW sind gerade einmal 840.000 elektrisch angetrieben, 2,2 Millionen sind Hybride und 14,6 Millionen dieseln durch die Landschaft, weit abgeschlagen hinter den 30,7 Millionen zugelassenen Benzinern. Die letzten ihrer Art sollen bis 2035 erstmals zugelassen werden, was 2023 gerade noch 12 Jahre sind.

Vielleicht also doch besser ganz auf das Auto verzichten und mit dem digitalen Einheitsfahrschein im öffentlichen Personennahverkehr das Land bereisen und den Alltag bestreiten? Ab April soll das möglicherweise kommen, aber so ganz genau weiß man es noch nicht, und auch der Preis von 49 Euro ist noch nicht abgesegnet. Und ob die Deutsche Bahn als Verkehrsmittel attraktiv sein wird? 19 Milliarden Euro will der staatseigene Betrieb im kommenden Jahr in Schwellen, Schienen, Signale und rollendes Material investieren, was übersetzt etwa bedeutet: Baustellen, Baustellen, Baustellen. Ganz groß dabei: das Programm Digitale Schiene Deutschland, mit der Hauptsache "Niemand zieht der Bahn den Stecker". Von ERTMS über ETCS und DSTW und iLBS: die BBLDR wäre neidisch auf das, was auf jede Tfzf-NWK zukommt, damit sie endlich überhaupt operabel und zudem interoperabel mit den Nachbarländern wird. Das Wichtigste aber auch für die Bahn: dass niemand ihr den Stecker zieht.

Ob die Bahn pünktlicher als 2022 wird? Keine Ahnung. Zumindest digitaler aber soll sie werden.

(Bild: MediaPortal der Deutschen Bahn)

Überhaupt: Stecker werden 2023 für ein buntes Durcheinander sorgen. Mit den neuen Vorgaben der EU zu Ladebuchsen bei digitalen Endgeräten im Formfaktor USB-C und Mindestsaftvorgaben für Netzteile werden immer weniger Endgeräte mit Zubehör wie Kabeln ausgeliefert, bis Ende 2024 nichts anderes mehr erlaubt ist. Selbst Apple wird in der näheren Zukunft wohl oder übel das Format switchen. Auch wenn längst keiner mehr versteht, was eigentlich in USB4, USB 3.2 Gen1, Gen2 oder Dreieinviertel $(3600533:mit ohne PD und Datenübertragung)$ tatsächlich drinsteckt: Wish, AliExpress und Amazon liefern gern für alles Zehnfachsets.

Wird das Endgerät allerdings vor allem zum Bestellen beim sich gerade wieder einmal konsolidierenden Markt der Bringdienste genutzt, könnte hier demnächst manches anders werden: Die EU diskutiert derzeit einen Vorschlag für Plattform-Arbeiter-Rechte, die besser vor Ausbeutung geschützt und in ihrer Rechtsstellung gegenüber den Unternehmen gestärkt werden sollen. Man darf gespannt sein, wann das zugehörige Gesetz geliefert werden wird, so wie das Jahr 2023 politisch zwar insgesamt zum Sparen aufruft, an Gelegenheiten zum Haareraufen aber absehbar kaum sparen wird. Immerhin ein Thema dürfte 2023 tatsächlich politisch keinen Vorzeigestatus mehr haben: Wenn überhaupt Distributed Ledger-Technologien noch genannt werden, wird mittlerweile in politischen Texten das Wort Blockchain vermieden.

(tkn)