Börsenpsychologie - die "Todeslisten" der Dot.coms

Internet-Unternehmen bezweifeln die Seriösität der jüngst veröffentlichten "schwarzen Listen". Viele der Nennungen könnten sich als "self-fullfilling prophecy" erweisen.

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Von
  • Michael Kurzidim

Jedem siebte Internet-Unternehmen drohten in naher Zukunft Liquiditätsprobleme, resümierte die amerikanische Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC) in ihrer aktuellen Studie – nur welche? Sorry, darüber dürfen wir aus rechtlichen Gründen keine Auskunft geben, wir haben uns zum Stillschweigen verpflichtet, bedauerte PcW gegenüber c't und anderen Zeitschriften.

Trotzdem, oder gerade deshalb, brachte PcW eine Lawine ins Rollen. "Wir wollten einfach mal darüber spekulieren, welche Unternehmen gemeint sein könnten", erläutert Charlotte Porzelt, Ressortleiterin Börse in der Platow-Redaktion, ihr Vorgehen und nahm zusammen mit Wirtschaftsexperten die Eckdaten bekannter Internet-Firmen unter die Lupe. Die Analysten stützten sich dabei auf eine neue, von PwC entwickelte Berechnungsmethode: Der Liquidity Risk Indicator bildet das durchschnittliche Risiko von Unternehmen ab, in den nächsten drei Jahren in Liquiditätsengpässe zu geraten.

Der Platow-Brief vom 7.7.2000 machte dann Nägel mit Köpfen. Das Ergebnis des Tauglichkeitstests für Internet-Startups: Gigabell, Cybernet, FortuneCity, Musicmusicmusic, Artnet, Ebookers, Ricardo und Buch.de könnten in den nächsten 24 Monaten in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Seitdem nehmen die Meldungen über neue "Wackelkandidaten" kein Ende. Die Prior-Börse setzte neben den bereits von Platow genannten Kandidaten drei weitere Firmen auf den Index und prognostizierte auch gleich das voraussichtliche Sterbedatum. Impliziter Tipp: Bis dahin sollten Anleger also allerspätestens ihre Wertpapiere zurückgezogen haben. Nach Prior stehen Gigabell, Ebookers, Artnet, Fluxx, Ricardo, Musicmusicmusic, FortuneCity, Netlife und DataDesign kurz vor dem finanziellen Aus. Als nächstes griff das Wirtschaftsmagazin Capital das titelträchtige Thema auf und veröffentlichte eine Liste mit zwanzig Unternehmen, deren Aktien nach Ansicht des Magazins gemieden werden sollte. Unter anderem fanden sich nun Teldafax, Wizcom Technologies, Abit und Odeon Film unfreiwillig geoutet auf der Negativliste wieder.

Viele der genannten Unternehmen fühlen sich diffamiert und wehren sich gegen die "Todeslisten", denn so manche Nennung könnte sich als "self-fullfilling prophecy" erweisen. Der Kurssturz findet immer zuerst im Kopf der Börsianer statt. Erst geht das Image zum Teufel, dann das gesamte Unternehmen.

Der Web-Auktionator Ricardo ging deshalb als einer der ersten in die Offensive und berief sich auf den Bericht zum dritten Quartal des Geschäftsjahres 99/2000. Danach, so Ricardo, verfüge das Unternehmen über liquide Mittel in Höhe von 55 Millionen Mark, denen Verbindlichkeiten von insgesamt 34 Millionen gegenüber stünden. Michael Urban von Buch.de wirft den Platow-Analysten schlicht und einfach vor, falsche Zahlen zur Grundlage ihrer Berechnungen gemacht zu haben: Laut Geschäftsbericht vom ersten Quartal stapeln sich bei Buch.de 30,525 Millionen Mark auf der hohen Kante, nicht nur 5,5 Millionen, wie im Platow-Brief von 7.7.2000 ausgewiesen. Auch Cybernet behauptet, "bis weit in das Jahr 2002 solide finanziert" zu sein.

An der Börse und im Cyberspace tobt der Kampf um die Köpfe. Ohnehin hat E-Commerce viel mit Glauben an die Zukunft zu tun. So gut wie alle Internet-Unternehmen benötigen über einen längeren Zeitraum unter anderem für Werbemaßnahmen hohe Anfangsinvestitionen, um Marktsegmente zu besetzen und am Neuen Markt Fuss fassen zu können. Das kann leicht zu Liquiditätsproblemen führen – oder aber langfristig den Erfolg sichern helfen. Vielleicht sind einige der "Wackelkandidaten" von heute ja doch die Gewinner von morgen. (ku)