Branchenreport Medizintechnik: Freud und Leid wegen Corona

Während das Virus ganze Branchen lahmlegt, kommen andere nicht nach. In der Medizintechnik ist die Situation gespalten und die Prognose günstig.

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Medizintechnik: Freud und Leid wegen Corona

(Bild: Shutterstock/BlurryMe)

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Von
  • Peter Ilg
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Intensiv-Beatmungsgeräte sind die einzige Hilfe bei lebensbedrohlich erkrankten Corona-Patienten. Die Maschine ersetzen die Lungen und retten so oft Leben. Eine große Herausforderung bei der künstlichen Beatmung ist es, dass der Patient unabhängig von den Aktionen des Atemgeräts zu jedem beliebigen Zeitpunkt selbsttägig aus- und einatmen kann. Diese Möglichkeit der natürlichen Lungenfunktion ist wichtig für deren Heilung.

Das Drägerwerk in Lübeck stellt Beatmungsgeräte her, in der sich die Maschine dem Menschen in dessen Lungenleistung anpasst. Während der akuten Behandlung findet bereits eine smarte Entwöhnung statt. Das Drägerwerk ist voll ausgelastet, Beatmungsgeräte aus der Hansestadt sind weltweit gefragt wie niemals zuvor.

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Das Virus hat in der Medizintechnik eine hohe Nachfrage zur Folge, könnte man meinen. Doch das stimmt nur zum Teil, denn Corona zeigt auch dieser Branche seine zwei Gesichter. "Alle medizintechnischen Unternehmen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Behandlung von COVID-19-Erkrankten stehen haben ihre Produktionskapazitäten ausgeweitet", sagt Marcus Kuhlmann, Leiter Medizintechnik bei Spectaris, dem deutschen Industrieverband für Optik, Photonik, Analysen- und Medizintechnik.

Völlig ausverkauft sind zuvorderst Hersteller von Beatmungsgeräten und anderen intensivmedizinischen Geräten sowie Krankenhaus- und Pflegebetten. Andere Medizintechnikhersteller leiden dagegen unter der Krise genauso wie viele Unternehmen anderer Industriebranchen. Simeon Medical aus Tuttlingen, Hersteller von Operationstischen und -leuchten, arbeitet kurz. Investitionen in Operationsräume sind zurückgestellt, Intensivabteilungen haben Vorrang.

Corona macht auch die Medizintechnik krank, aber die Branche wird sich wahrscheinlich rasch erholen, weil sie alternativlos ist: ohne Medizintechnik funktioniert Gesundheit heute nicht mehr. Sie ist ein verlässlicher Wachstumsmarkt bei Umsatz und Beschäftigung. Der Bundesverband Medizintechnik schätzt den Umsatz für 2019 auf rund 32 Milliarden Euro. Das sind 6 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Branche hat 215.000 Beschäftigte, in den vergangenen fünf Jahren sind etwa 12.000 neue Stellen entstanden.

"Der Trend geht klar in Richtung mehr IT-Fachkräfte und Ingenieure", sagt Kuhlmann. Medizintechnik-Ingenieure und Medizintechnik-Informatiker sind akademische Berufe speziell für diese Branche. Das ist eine kleine Berufsgruppe für besondere Einsätze.

Um die 100 Studiengänge für Medizintechnik und mit teilweise anderen Bezeichnungen und Spezialisierungen gibt es in Deutschland. Einen davon in der klassischen Medizintechnik bietet die Hochschule Mannheim in Kooperation mit der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg. "Wir haben im Studium einige medizinische Fächer, die von Dozenten der Klinik unterrichtet werden“, sagt Professor Wigand Poppendieck, Leiter des Bachelor-Studiengangs Medizintechnik. Einen Master bietet die Hochschule ebenfalls an.

"Wir bilden Ingenieure für den Anwendungsfall Medizintechnik aus", sagt Poppendieck. In den Vorlesungen der Mediziner lernen sie deren Sprache und Anwendungen aus Sicht von Ärzten kennen, etwa bildgebende Geräte. Die Medizintechnik beschreibt der Professor als "ein äußerst interdisziplinäres Fach mit Bestandteilen wie Informationstechnik, Elektrotechnik, Medizin, Physik, Feinwerktechnik und Informatik". Der Studiengang gehört zur Fakultät der Informationstechnik.

"Aus unserer Sicht ist es wichtig, im Studium praxisnah auch tiefergehende, für den Arbeitsmarkt relevante Kenntnisse zu erwerben, anstatt am Ende von allem ein bisschen, letztendlich aber nichts richtig zu können", sagt Poppendieck. Deshalb die informationstechnische Ausrichtung des Studiums von Anfang an. Etwa 50 Absolventen gibt es dort jährlich.

Erik Albrecht-Laatsch hat in Ulm Medizintechnik studiert. Heute verantwortet der 43-jährige als Director Engineering die Entwicklung bei Ottobock in Duderstadt bei Göttingen. Das Unternehmen ist nach eigenen Angaben Weltmarktführer in der Exoprothetik. Weltweit hat Ottobock rund 7.000 Mitarbeiter, davon gehören etwa 80 zu Albrecht-Laatschs Abteilung. In der Entwicklung arbeiten Ingenieure der unterschiedlichsten Fachrichtungen, überwiegend Ingenieure des Maschinenbaus, der Mechatronik, Software und Elektrotechnik als Spezialisten und einige Medizintechniker als Generalisten.

"Medizintechniker sind breit aufgestellt, deshalb können sie an Schnittstellen eingesetzt werden“, sagt Albrecht-Laatsch. Aufgrund ihrer Ausbildung sind sie in der Lage, die technische Seite einer Anwendung zu verstehen und dabei gleichzeitig auch die medizinischen Anforderungen wie regulatorische Bestimmungen zu beachten. Ingenieure der Medizintechnik sind als Generalisten daher universell einsetzbar.

Tobias Heimann, 42, ist Medizininformatiker. "Der Unterschied zu reinen Informatikern besteht darin, dass in der Medizininformatik das gesamte Curriculum auf diese Disziplin ausgelegt ist und nicht nur einige wenige Fächer." Nach dem Studium hat Heimann in der Informatik promoviert und leitet nun bei Siemens Healthineers, der Medizintechniksparte von Siemens, das Team künstliche Intelligenz (KI) in Deutschland.

Das Unternehmen hat seit einem guten Jahr eine neue Produktlinie auf dem Markt, in der KI bei der Entscheidungsfindung in der radiologischen Bildgebung zum Einsatz kommt: Eine Computertomografie der Lunge scannt Software dreidimensional nach Knoten und weiteren Auffälligkeiten und markiert sie automatisch. "Die Unterstützung bei radiologischer Bildbeurteilung ist eine große Stärke von KI“, sagt Heimann. Sie macht Diagnosen genauer.

Bildgebung ist ein wichtiger Teil der Diagnostik, Laborwerte und Vorerkrankungen eines Patienten auch. Künftig soll KI bei der Diagnose aufgrund unterschiedlicher Informationen unterstützen und Lösungsvorschläge für die optimale Therapie machen. "Das richtig zu lösen ist ziemlich komplex und bis es so weit ist, wird noch einige Zeit vergehen“, kündigt Heimann an. Nach seiner Ansicht treffen in der Medizininformatik zwei grundsätzlich verschiedene Welten aufeinander: hier die konservative Medizin, dort die innovative Informatik. "Diese Gegensätze zu verknüpfen ist die Herausforderung in der Medizininformatik", sagt Heimann. Ihn fasziniert die Informatik und die Medizin als Anwendungsfall ist für ihn am lohnenswertesten, weil lebensrettend. (axk)