Buchkritik: London - Porträt einer Stadt

Acht Millionen Menschen im Dauerregen, Finanzhaie allerorten: Klischees für London gibt es reichlich. In "London. Portrait of a city" zeichnen Fotografien aus fast 200 Jahren ein lebendigeres Bild der Stadt.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Robert Seetzen

London. Porträt einer Stadt. Reuel Golden

(Bild: Taschen Verlag)

Wenn die Welt in den nächsten Wochen nach London blickt, gilt die Aufmerksamkeit den 30. Olympischen Sommerspiele oder auch den aktuellen Skandalen der "City", dem Finanzzentrum der nach Moskau und Istanbul drittgrößten Metropole Europas. Jenseits solcher Schlaglichter wird indes nur Weniges zu London durch die Medien dringen.

Weit mehr über die fast 2.000 Jahre alte Stadt erfährt, wer sich Zeit zum Blättern im neuen London-Bildband des Taschen Verlags nimmt. Rund 550 Seiten führen durch die letzten 175 Jahre der Stadtgeschichte, ausführliche Texte vermitteln interessantes Hintergrundwissen zur Stadt und zu den etwa 700 Fotos des schwergewichtigen Bildbands.

Dabei lässt "Portrait of a city" viele vergleichbar reichhaltig illustrierte Wälzer weit hinter sich. Wo andernorts technisch gelungene, aber brave Impressionen und Stadtpanoramen dominieren, setzt der Bildband über weite Strecken auf ungleich markantere Werke hochkarätiger, oftmals weltbekannter Fotografen. Aktuell geläufige Namen wie David LaChapelle, Martin Parr oder Wolfgang Tillmanns sind zwar am ehesten gegen Ende des Bands zu finden, doch dies liegt ebenso in der Natur chronologisch angelegter Bildbände wie auch die große Zahl anonymer Fotografen in den vorderen Abschnitten.

"Portrait of a city" liefert zu allen Bildern eine jeweils dreisprachig in Englisch, Deutsch und Französisch abgefasste, meist informative Unterschrift mit einer zumindest ungefähren Angabe des Aufnahmedatums. Wer der Chronologie des Buches nicht folgen mag, findet so genügend Anhaltspunkte, um die Bilder auch bei zufälligem Blättern sinnvoll einordnen zu können. Ein bei Titeln dieses Umfangs keineswegs unbedeutender Punkt, denn kaum jemand will sich durch mehr als 500 Seiten diszipliniert geradlinig durchackern. Einzig die jeweils an den Anfang der Kapitel gestellten Textabschnitte sollten vielleicht in ihrer zeitlichen Abfolge gelesen werden, hier bietet der Band die wichtigsten Stationen der jüngeren Geschichte Londons.

Die eigentliches Substanz des Buches ist freilich in den Bildern zu finden. Sogar viele der sehr frühen Aufnahmen bieten mehr als bloße Geschichtsschau, der Herausgeber von "Portrait of a city" hat bei der Suche nach ausdrucksstarken Fotos offenbar erhebliche Mühe aufgewandt. Dass etliche der im 19. Jahrhundert aufgenommenen Bilder viel Armut, Dreck und Chaos zeigen, beweist Mut zum Realismus und scheint vor dem Hintergrund damaliger Verhältnisse nur schlüssig. Zumal die eingestreuten Zitate von Zeitzeugen und aus zeitgenössischer Literatur oft ebenfalls kein schmeichelhaftes Bild des Londons ihrer Epoche zeichnen. Die durchgängig auch in den weiteren Kapiteln enthaltenen Zitatschnipsel tragen übrigens einiges zur dichten Atmosphäre des Bildbands bei.

Wie die Zitate reflektieren auch die Fotos stark unterschiedliche Wahrnehmungen der Stadt und ihrer Bewohner. Dem letzten Kapitel fehlt es dabei jedoch etwas an Balance zwischen Eindrücken aus der Kulturszene und dem ganz normalen Alltag Londons. Eine ernsthafte Auseinandersetzung etwa mit der rasanten Verdrängung günstigen Wohnraums durch kostspielige Bauprojekte oder den besonderen, weitreichenden Einflüssen des Finanzsektors in den Londoner Alltag hätte in einem "Portrait of a city" mehr Raum verdient. Dies stellt den Gesamtwert des sehr gelungenen Bildbands aber keineswegs in Frage. Wer sich ein besseres Bild von dieser Stadt machen will, muss wohl dort hin fahren.

London. Portrait of a city
Reuel Golden
Taschen Verlag
552 Seiten, ca. 700 Abb., Texte dt./en./fr.
25 x 34 cm
49,99 Euro
ISBN 978-3-8365-2877-1

(tho)