Meinung: Die Impfstoff-Falle
Aktionismus in der Corona-Forschung ist eher eine Forschungsbremse als medizinischer Fortschritt.
Kürzlich habe ich einen alten Bekannten wiedergetroffen. Er ist Infektionsforscher aus Leidenschaft. Ein Professor mit großer Arbeitsgruppe – in der Szene ein Virologe mit Rang und Namen. Vielseitig, immer neugierig, ehrlich daran interessiert, Infektionen zu Leibe – oder besser zu Partikel – zu rücken. Wie es ihm ginge – wie er sich fühle, wollte ich von ihm wissen, weil er so gepresst klang und gar nicht so charmant sprühend wie sonst.
Ach, was solle er sagen. Corona. Alle forschen an diesem verdammten Virus. Und er und sein ganzes Institut müssten nun auch. Es sei ja wichtig, natürlich, aber andere Krankheiten seien das auch und es wären doch nun wirklich genug Kollegen dran. Aber wenn man derzeit für seine Forschung Geld einwerben wolle – nicht zuletzt, damit die ganzen jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und die Technischen Angestellten ihre Arbeit behielten – müsse man eben auf den Corona-Zug aufspringen.
Eine zweifelhafte Entwicklung. Natürlich ist es gut, wenn die Forschung sich auf eine globale Bedrohung fokussiert. Aber es klingt viel einfacher als es in der Forschung tatsächlich ist, mal eben das Virus zu wechseln und mal eben an einem Impfstoff mitzuwirken. Arbeitsgruppen sind selbst organische Gebilde, die von Interessen und Talenten gesteuert sind.
Einerseits bleibt, wenn jetzt „alle Corona machen“, wichtige andere Forschung liegen. Die Forscherinnen und Forscher in der Infektionsmedizin haben ja nicht zum Spaß Tuberkulose, Malaria oder Influenza erforscht, sondern weil es sich um Krankheiten handelt, die laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) jährlich Hunderttausende töten. Und das tun sie auch weiterhin. Corona hin oder her. Dennoch wurden – das hat das Fachmagazin „The Lancet“ publiziert – tausende Studien unter- oder sogar abgebrochen. Sie lassen sich unter den Sicherheitsmaßnahmen, die Covid-19 erfordert nicht weiter durchführen. Ob sie wieder aufgenommen werden können ist fraglich.
Andererseits macht Forschungsmode noch keine Qualität. Kanadische Ärzte haben sich einen Überblick über die weltweiten klinischen Studien zu Corona verschafft und diese ebenfalls in „The Lancet“ veröffentlicht: Bis zum 28 Juli 2020 wurden 1840 klinische Studien im Zusammenhang mit Covid-19 registriert. Von denen haben sich knapp über 1000 Studien mit dem Management der Erkrankung beschäftigt – also damit, wie sich die Symptome einfangen und Menschenleben retten lassen.
Allerdings gibt es nur zu gerade einmal 30 dieser klinischen Studien veröffentlichte Ergebnisse. Der Rest versandet. Und damit Millionen an Forschungsgeldern, weil Forschende gezwungen sind, in einem Gebiet zu arbeiten, von dem sie nicht genug verstehen. Sie haben den falschen Blickwinkel, stellen die falschen Fragen, entwerfen unpassende Studiendesigns mit den falschen Patienten und sind nicht firm in Kohortenstatistik, so dass die vermeintlichen Antworten aus ihren Studien zwar Korrelationen zeigen, aber keine Kausalität. Das ist kein böser Wille, sondern schlicht mangelnde Erfahrung.
Und das dicke Ende kommt noch. Wenn Covid-19 Geschichte ist, muss sich die Infektionsforschung neu finden, ihre Forschung an den anderen Krankheiten wieder aufnehmen, ihre losen Fäden verknoten. Das wird dauern und eine Lücke in die medizinische Forschung reißen, von der sich die Medizin nicht so schnell erholen wird.
(bsc)