Die X-Akten der Astronomie: Das Rätsel der Braunen Riesen

Braune Zwerge sind Himmelskörper irgendwo zwischen Planeten und Sternen – klein und lichtschwach. Nun haben Astronomen große Exemplare gefunden, oder nicht?

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Die X-Akten der Astronomie: Das Rätsel der Braunen Riesen
Lesezeit: 22 Min.
Von
  • Alderamin
Inhaltsverzeichnis

Dank immer besserer Technik, innovativen Ansätzen und internationaler Kooperation erlebt die Astronomie eine Blüte. Doch während viele Beobachtungen dabei helfen, Theorien zu verfeinern oder auszusortieren, gibt es auch immer wieder Entdeckungen, die einfach nicht zu passen scheinen. Mysteriöse Signale, mutmaßliche Verstöße gegen Naturgesetze und – noch – nicht zu erklärende Phänomene. In der Öffentlichkeit wird dann gerne darüber diskutiert, ob es sich um Spuren außerirdischer Intelligenz handelt, Wissenschaftler wissen, dass es am Ende fast immer eine natürliche Erklärung gibt. Aber überall wird die Fantasie angeregt.

In einer Artikelserie auf heise online stellen wir einige solcher astronomischen Anomalien aus einer jüngst vorgestellten Sammlung vor und erklären, warum alle Erklärungsversuche bislang an ihnen scheitern.

Die X-Akten der Astronomie

Auf der Suche nach den Ursprüngen "fehlgeschlagener Sterne", der sogenannten Braunen Zwerge, beobachteten Astronomen 2009 einen jungen Sternhaufen in der Milchstraße und stießen auf etwas völlig Unerwartetes: eine bis dahin unbekannte Familie seltsam aufgeblähter, abnormal kühler Sterne, deren Atmosphären offenbar Wasserdampf enthielten. Was hat es mit diesen Sternen auf sich? Gibt es Riesen unter den Braunen Zwergen? Die Forscher haben eine überraschende Theorie.

Wann ist ein Stern eigentlich ein Stern? Und wo hören Planeten auf, Planeten zu sein? Die Antworten auf diesen Fragen sind weniger trivial als man denkt. Zwar geht es natürlich um eine Definition, aber in der Wissenschaft sollen Definitionen nicht willkürlich sein, sondern eine charakteristische Eigenschaft eines Objekts aufgreifen, die etwas über die Natur oder Entstehung des Objekts verrät. Aus verschiedenen Auffassungen über die Sinnhaftigkeit der Kriterien (gemischt mit einer Portion Nationalstolz) rührt etwa die jahrelange Diskussion über die längst geklärte Frage, ob die Definition eines Planeten Pluto mit einschließen soll oder nicht.

Nach oben hin scheint die Trennlinie zwischen Planeten und Sternen unstrittig zu sein: Wenn das Objekt aus eigener Energiequelle leuchtet, ist es ein Stern – reflektiert es nur Licht von einem Stern, handelt es sich um einen Planeten. Und damit ein Stern leuchten kann, muss in seinem Inneren Kernfusion ablaufen. Doch junge Gasplaneten sind noch heiß von der auf sie einstürzenden Materie und leuchten aufgrund noch andauernder Kontraktion selbst, vor allem im Infraroten. Selbst die Sonne leuchtet letztlich nur, weil sie ein Ball aus heißem Gas ist. Die Kernfusion in ihrem Inneren sorgt lediglich dafür, dass sie das über Milliarden Jahre lang auch bleibt und nicht einfach unter ihrem Gewicht zum Weißen Zwerg schrumpft, wobei sie selbst dann noch durch die Kompressionswärme lange heiß bliebe und weiter leuchten würde, für dutzende Millionen Jahre.

Auf der anderen Seite gibt es eine Klasse von Objekten, in denen wahrscheinlich nur kurzzeitig die Fusion von Wasserstoff mit Deuterium, also schwerem Wasserstoff, stattfindet. Die kann bei niedrigerem Druck und geringerer Temperatur ablaufen, als die Wasserstofffusion in echten Sternen. Deuterium ist jedoch nur zu einem Anteil von nur 0,015 Prozent in Wasserstoffgas enthalten, und so reicht der Vorrat nicht lange. Danach leuchten die Objekte nur noch aufgrund ihrer gespeicherten Wärme und kühlen langsam aus. Dennoch sollen sie wie gewöhnliche Fixsterne direkt aus einer kollabierenden Gaswolke entstehen, und nicht wie Planeten in einer Gas- und Staubscheibe, die sich um einen neu entstehenden Stern geformt hat. Solche Objekte werden nicht mehr zu den Fixsternen gezählt, für die andauernde Wasserstofffusion über den größten Teil ihres Lebens das definierende Kriterium ist.

Die Existenz sogenannter "substellarer Objekte", die mindestens 13 Jupitermassen zusammenbringen müssen, um Deuterium fusionieren zu können, wurde erstmals 1963 vorgeschlagen: Zum Vergleich: Die Sonne hat 1000 Jupitermassen, die kleinsten Wasserstoff-fusionierenden M8-Sterne etwa 0,08 Sonnenmassen oder 80 Jupitermassen. Sie erhielten 1975 ihren heutigen Namen. Weil sie hauptsächlich im Infrarotlicht strahlen und für das bloße Auge tiefrot erscheinen müssten, hätte man sie "Rote Zwerge" nennen können, aber weil dieser Name schon für die kühlsten Wasserstoff-fusionierenden Fixsterne vergeben war, nannte Jill Tarter sie in seiner Arbeit wenig inspirierend "Braune Zwerge".

Braune Zwerge sind nur schwer zu beobachten, denn sie sind ausgesprochen lichtschwach. Nicht nur aufgrund ihrer niedrigen Temperatur – die abgestrahlte Leistung pro Fläche hängt von der 4. Potenz der Temperatur ab, und die bisher aufgespürten Braunen Zwerge liegen zwischen 2700 K und 250 K Oberflächentemperatur (letzteres sind -20 °C). Sondern auch, weil sie so klein sind, durchgehend über ihren Massenbereich nur etwa so groß wie der Jupiter mit nur etwa 1/100 der Oberfläche der Sonne.

Man kann sie ausschließlich im Infrarotlicht nachweisen, insbesondere, wenn sie noch jung und nach ihrer Kontraktion aus einer Gaswolke aufgeheizt sind. Erst 1995 wurde in der Nachbarschaft der Sonne der erste Braune Zwerg gefunden: der nur 18,8 Lichtjahre entfernte Gliese 229B, als Begleiter des zuvor schon bekannten Roten Zwergs Gliese 229 (der somit zu 229A wurde). Gliese 229B bringt etwa 30 bis 50 Jupitermassen auf.

Das Infrarot-Weltraumteleskop WISE entdeckte bei seiner vollständigen Himmelsdurchmusterung 2010-2011 noch zahlreiche weitere Braune Zwerge, unter anderem das System Luhman 16A und B, das mit nur 6,5 Lichtjahren Entfernung drittnächste Sternsystem. Mit ihren 29 und 34 Jupitermassen belegen sie, dass Braune Zwerge wie Sterne entstehen und insofern auch Binärsysteme bilden. Selbst heute werden in den WISE- und NEOWISE-Daten, dem Nachfolgeprojekt von WISE mit demselben Gerät, noch Braune Zwerge gefunden.

Der Sternhaufen im Gasnebel NGC 3603

(Bild: NASA, ESA, R. O'Connell (University of Virginia), F. Paresce (National Institute for Astrophysics, Bologna, Italy), E. Young (Universities Space Research Association/Ames Research Center), the WFC3 Science Oversight Committee, and the Hubble Heritage Team (STScI/AURA))

Um mehr über die Entstehung und Häufigkeit der Braunen Zwerge in Erfahrung zu bringen, nahm ein Team aus italienischen und amerikanischen Astronomen um Loredana Spezzi im Jahre 2009 mit der nur wenige Monate zuvor installierten Wide Field Camera 3 (WFC3) des Hubble-Weltraumteleskops einen sehr jungen Sternhaufen ins Visier, der sich 22.500 Lichtjahre von der Erde entfernt im Zentrum der riesigen HII-Region NGC 3603 im Sternbild Carina (Schiffskiel) am Südhimmel befindet. HII-Regionen sind Sternentstehungsgebiete, in denen das UV-Licht junger Riesensterne das umgebende Wasserstoffgas ionisiert und so zum Leuchten bringt (HII ist der astronomische Fachbegriff für ionisierten Wasserstoff). Das bekannteste Beispiel einer HII-Region ist sicherlich der Orionnebel Messier 42.

NGC 3603 ist 100-fach leuchtkräftiger als der Orionnebel und enthält schätzungsweise 10.000 Sonnenmassen. Damit ist er der erdnächste Prototyp eines "Starburst-Sternhaufens", in dem eine massive Welle der Sternentstehung stattfindet, wie sie auch bei der Genesis der Milchstraße in großem Maßstab vonstattengegangen sein muss. Neben den Riesen entstehen dort auch die kleineren Sterne inklusive der Braunen Zwerge, und die Autoren wollten mehr darüber in Erfahrung bringen, auf welche Weise und mit welcher Häufigkeit kleinere Sterne entstehen und zu welchem Anteil sie somit möglicherweise zur Masse der Milchstraße beitragen könnten. Wobei ihnen vorher schon klar war, dass sie auf diese Entfernung nur gerade noch die schwächsten echten Fixsterne würden aufspüren können, aber "Versuch macht kluch" und schlimmstenfalls hat man zumindest einen Messpunkt an der Grenze zu den Braunen Zwergen bestimmt.

Bis dahin waren solche Studien nur an Sternentstehungsgebieten in Sonnennähe durchgeführt worden, die wesentlich kleiner und auch teils deutlich älter sind als NGC 3603. Das Team kam auf ein Alter von weniger als 3 Millionen Jahren für ein Drittel der Sterne, ein weiteres Drittel ist bis zu 10 Millionen Jahre alt und das älteste Drittel bis zu 20 oder 30 Millionen Jahre. Um die kühlsten Sterne aufspüren zu können, nutzten sie verschiedene Infrarotfilter der WFC3, die es erstmals ermöglichte, den gesamten Sternhaufen formatfüllend im gleichen Blickfeld aus dem Weltraum aufzunehmen.

Letzteres war entscheidend, weil die Erdatmosphäre Wellenlängen über 1 µm stark absorbiert, vor allem wegen des Wasserdampfs, der um 1,4 µm ein breites Absorptionsband hat – und genau auf dieses hatten es die Astronomen abgesehen, denn Wasser tritt in Sternatmosphären nur unterhalb von 3000 K auf, was nahe an der unteren Grenze der Oberflächentemperatur von Fixsternen liegt (ca. 2800 K).

Wie weist man nun Wasser in einer Sternatmosphäre nach? Man sucht nach dem Absorptionsband von Wasser. Normalerweise würde man sich das Infrarot-Spektrum des Sterns anschauen, aber wenn man auf eine so große Entfernung die lichtschwächsten Sterne untersuchen will, dann verschlingt die Spektroskopie zu viel des kostbaren Lichts, weil man das Spektrum vor der Abbildung auf dem Bildsensor aufweiten muss, was die Lichtstärke pro Pixel verringert. Glücklicherweise ist das Absorptionsband von Wasser, das zwischen 1,32 µm und 1,6 µm liegt, so breit, dass man es auch mit Photometrie (Helligkeitsmessung) durch Farbfilter im entsprechenden Wellenlängenbereich nachweisen kann – das dürfte wohl der Hauptgrund gewesen sein, warum die Astronomen zur Temperaturbestimmung auf Wasser setzten.

Wenn man Aufnahmen bei 1,4 µm oder 1,5 µm mit solchen bei 1,3 µm vergleicht, so erscheinen Sterne mit Wasserdampfabsorption in der Atmosphäre bei den langen Wellenlängen deutlich dunkler, während Sterne ohne Wasser durch alle drei Filter fast gleich hell scheinen (siehe Bild). Je mehr Wasser, desto größer der Helligkeitsunterschied. Daraus kann man auf die Temperatur des Sterns schließen. Nach Sternen mit solchen wellenlängenabhängigen Helligkeitsdifferenzen, im Fachjargon Farbindex genannt, suchten die Autoren in NGC 3603.

Durchlassbereiche verschiedener Infrarotfilter der Hubble Wide Field Camera 3, aufgetragen über der Lichtwellenlänge λ in Mikrometern (µm; 1000 µm= 1mm). Ein Durchlass (Response) von 1 bedeutet vollkommene Transparenz, 0 bedeutet vollkommene Blockierung des Lichts. Als graue Linie im Hintergrund ein Ausschnitt aus dem Spektrum eines Sterns von ca. 3500 K, welches frei von Wasser ist, und in Schwarz das Spektrum eines Braunen Zwergs von 2000 K mit starker Absorption von Wasser zwischen 1,32 µm und 1,6 µm. Wenn ein Stern also im F139M-Filter im Vergleich zum F127M-Filter vergleichbar hell ist, entspricht er eher der grauen Kurve ohne Wasser und damit einer Temperatur von deutlich über 3000 K. Ist er hingegen im F139M-Filter wesentlich dunkler als im F127M-Filter, dann zeigt er die Absorption von Wasser und muss deutlich kühler als 3000 K sein. Damit wäre er dann kein Roter Zwerg mehr, sondern sollte ein Brauner Zwerg sein. Kühle Rote Zwerge um 3000 K zeigen bereits etwas Wasser im Spektrum.
Die Filterbezeichnungen geben die zentrale Durchlass-Wellenlänge wieder (z.B. 127 für 1,27 µm – sichtbares Licht reicht von 0,4 bis 0,8 µm), sowie die Breite des Durchlassbereichs (M=medium, N=narrow oder schmal).

(Bild: Spezzi et al., arXiv )


Ein Problem für die Photometrie ist allerdings die sogenannte Extinktion durch interstellaren Staub, den frühere Sterngenerationen in den Weltraum geblasen haben. Die Extinktion mindert nicht nur die Helligkeit, sondern verändert auch die Lichtfarbe: weil dieser Staub, der so fein ist wie die Partikel im Zigarettenrauch, kurze Wellenlängen stärker streut als lange (wie eben auch der "blaue Dunst"), wird das Licht in der Durchsicht durch den Staub rötlich verfärbt. Das ist übrigens genau der Effekt, der für rote Sonnenuntergänge sorgt. Auf 22.500 Lichtjahre, mehr als die Hälfte der Entfernung zum Milchstraßenzentrum, kommt einiges an Staub zusammen und verfälscht die Messung.

Da Sternfarben ein Temperaturmaß sind und in Abhängigkeit von der Temperatur spezifische Absorptionslinien verschiedener Elemente im Spektrum auftreten, kann man jedoch für viele Sterne die unverfälschte Farbe aus dem Spektrum rekonstruieren und somit auf die Extinktion des Lichts auf der Sichtlinie folgern. Dies hatte schon eine frühere Arbeit für einige helle Sterne in NGC 3603 erledigt und so wussten die Astronomen, dass sie die Helligkeiten im infraroten J-Band um eine Größenklasse korrigieren mussten, im Visuellen sogar um 4,5 Größenklassen – eine Größenklasse entspricht einem Faktor von ca. 2,5 in der Helligkeit oder technisch gesprochen exakt -4 dB.

Spezzi und Kollegen wurden fündig. Sie fanden neun Objekte mit überraschend starker Absorption im Bereich des Wasserbands, konzentriert nördlich der zentralen Region des Sternhaufens. Wie im Zweifarbendiagramm erkennbar ist, liegen die Objekte zwischen 1500 K und deutlich unter 3000 K, und damit klar im Temperaturbereich der Braunen Zwerge.

Ein Standardwerkzeug der Astronomen zur Bestimmung der Farbe bzw. Temperatur eines Sterns ist das Zweifarbendiagramm. In diesem trägt man die Helligkeitsdifferenzen von Sternen durch verschiedene Farbfilter gegeneinander auf (eine solche Differenz bezeichnet man als „Farbindex“). Im Bild oben ist der Farbindex für die Helligkeitsdifferenz I(153) im 1,27 µm-Filter und 1,53 µm-Filter über dem Index I(139) aus den Filtern 1,27 µm und 1,39 µm aufgetragen. Kleine Zahlen bedeuten starke Absorption durch Wasser, daher finden sich kühle, wasserhaltige Objekte eher links unten im Diagramm.
Zur Kalibrierung des Temperaturverlaufs wurden die bekannten Daten von 552 Sternen und Braunen Zwergen aus verschiedenen Katalogen in das Diagramm übernommen. Sterne sind als kleine schwarze Punkte oder Stern-Symbole, Braune Zwerge sind Kreuze, Kreise und Dreiecke abgebildet, je nach Quelle. Die Objekte reihen sich entlang einer roten Linie, die den Verlauf der Temperatur wiedergibt. Rot gestrichelt die einfache Standardabweichung der Temperaturlinie für die Kalibriersterne im Bereich der Braunen Zwerge.
Die von Spezzi et al. identifizierten neun wasserhaltigen Objekte sind als blaue Kreise und Quadrate dargestellt, wobei die drei Quadrate hervorgehoben sind, weil ihre gemessenen Helligkeiten wegen des Streulichts benachbarter Sterne etwas unsicherer sind. Alle neun Objekte liegen im Bereich einer Temperatur zwischen 1500 K und 3000 K, klar im Bereich der Braunen Zwerge.

(Bild: Spezzi et al., arXiv)

Haben Spezzi und ihr Team also wider Erwarten doch Braune Zwerge gefunden? Das halten sie für ausgeschlossen, denn dafür seien die Objekte auf diese riesige Entfernung zu hell. Gemäß der bekannten Absorption durch interstellaren Staub sollten die dunkelsten, gerade noch abgebildeten Objekte eine Leuchtkraft von mindestens 0,15 Sonnenmassen aufbringen müssen, im Zentrum des Haufens sogar von 0,4 Sonnenmassen. Dies wird auch im Farb-Helligkeits-Diagramm deutlich: Die neun Objekte liegen im Bereich der Leuchtkraft von 0,2 bis 1,0 Sonnenmassen.

Ein Farb-Helligkeits-Diagramm für die Objekte im Sternhaufen NGC 3603 (graue Punkte im Hintergrund: Feldobjekte, blaue Marker: die neun wasserhaltigen Objekte). Die x-Achse zeigt den Farbindex zweier Infrarot-Bänder J und H (1,1 und 1,6 µm – die Wasserabsorption spielt hier keine Rolle). Man kann diesen Farbindex als Temperaturskala interpretieren, wobei links höhere und rechts tiefere Temperaturen liegen. Die y-Achse entspricht der Helligkeit der Sterne im J-Band; hellere Sterne befinden sich weiter oben, dunklere weiter unten. Da alle Sterne im Haufen ungefähr gleich weit entfernt sind, kann man ihre Helligkeiten stellvertretend für ihre Leuchtkräfte betrachten und direkt miteinander vergleichen.
Wasserstoff fusionierende Sterne reihen sich in solchen Diagrammen nach Massen sortiert entlang einer Linie, der "Hauptreihe" (engl. Main Sequence), mit den massereichen oben links und den Roten Zwergen unten rechts. Die durchgezogene schwarze Linie zeigt hier die "Zero Age Mean Sequence" ZAMS, das ist die Hauptreihe für Sterne, die gerade erst das Gleichgewicht aus Gravitation und Strahlungsdruck aufgrund der Fusion in ihrem Inneren erreicht haben (was als Nullalter des Sterns betrachtet werden kann). Die gestrichelten schwarzen Linien sind Isochronen, d.h. Linien gleichen Alters, für Sterne, die erst auf dem Weg zur Hauptreihe sind (Vorhauptreihensterne, Pre-Main Sequence PMS). Das ist für die Mehrzahl der Sterne in NGC 3603 der Fall.
In Rot die Entwicklungspfade von Vorhauptreihensternen verschiedener Massen hin zur ZAMS (1 M⊙ = 1 Sonnenmasse). Die Massengrenze zu den Braunen Zwergen liegt etwa bei 0,08 Sonnenmassen.
Die von den Autoren entdeckten Objekte haben im Diagramm Leuchtkräfte von 0,2 bis zu 1,0 Sonnenmassen. Sie verhalten sich völlig anders als Braune Zwerge, die im Bild nach unten gewandert sein müssten.

(Bild: Spezzi et al., arXiv)

Wie kann ein Objekt von nur 1500 bis 2700 K so hell sein wie die Sonne (5850 K)? Mit jeder Temperatur ist eine bestimmte Flächenhelligkeit verbunden, denn Sterne strahlen näherungsweise das Spektrum eines Temperaturstrahlers ab. Aber die Helligkeit eines Sterns hängt, wie eingangs erwähnt, auch von der Größe seiner leuchtenden Oberfläche ab – dies macht den Unterschied zwischen einem Roten Zwerg mit einem Bruchteil einer Sonnenleuchtkraft und einem Roten Riesen der gleichen Temperatur mit einem Vielfachen der Sonnenleuchtkraft aus, denn ein Roter Zwerg ist höchstens halb so groß wie die Sonne, ein Roter Riese kann 100 Sonnendurchmesser und mehr haben. Damit zum Beispiel ein Stern von einer Sonnenmasse bei einer Temperatur von nur 2700 K mit einer Sonnenleuchtkraft strahlte, müsste er 4,6 Sonnendurchmesser haben.

Man hatte es hier anscheinend mit so etwas wie "Braunen Riesen" zu tun. Die Autoren gaben ihnen einen anderen Namen: "Bloatars" eine Kurzform für "Bloated Stars" – "aufgeblähte Sterne".

Die 9 von Spezzi et al. gefundenen Sterne mit Wasserabsorption durch die verschiedenen WFC3-Infrarotfilter aufgenommen (zur besseren Erkennbarkeit im Negativ dargestellt). Die Belichtungszeit durch die Breitbandfilter F110W (J-Band) und F1690W (H-Band) betrug in Summe 600 s, die durch die Mittelbandfilter F127M, F139M und F153M 2400 s und die durch das Schmalbandfilter F128N 1200 s.

(Bild: Spezzi et al., arXiv)

Aber handelt es sich wirklich um übergroße Braune Zwerge? Davon hatte man in der Astronomie noch nie etwas gehört. Die Autoren zogen folgende alternative Hypothesen in Betracht: Könnten es einfach Vordergrundobjekte sein, Braune Zwerge, die viel näher zur Erde stehen und deswegen im Vergleich zu den Sternen des fernen NGC 3603 unverhältnismäßig hell erscheinen? Oder aber im Gegenteil sehr weit entfernte Rote Überriesen, die ebenfalls so kühl sein können, dass sich Wassermoleküle in ihrer Atmosphäre bilden? Beides ist unwahrscheinlich, weil die neun Sterne recht konzentriert um das Zentrum des Sternhaufens gruppiert sind – es wäre ein seltsamer Zufall, gleich eine Reihe nicht zum Sternhaufen gehöriger Objekte rein zufällig auf der Sichtlinie zu NGC 3603 zu finden. Im Raumwinkel, den die Bloatare einnehmen, wären normalerweise nur 0,16 Braune Zwerge und gar kein Roter Riese als Feldobjekte zu erwarten.

Wären ferne Galaxien im Hintergrund eine mögliche Erklärung? Auch hier gilt das Argument, dass die Zahl der zu erwartenden Galaxien im beobachteten Helligkeitsbereich für das Sternenfeld kleiner als 1 sein sollte. Galaxien zeigen zudem normalerweise kein Wasser im Spektrum, ihr Licht wird dominiert von dem heißer Sterne. Aktive Galaxien zeigen manchmal Wasserlinien aus der aufgeheizten Akkretionsscheibe um das zentrale supermassereiche Schwarze Loch, dann aber in Emission, das heißt als helle Linien. Diese Hypothese scheidet also ebenfalls aus.

Auch Bildartefakte schließen die Autoren aus. Die Objekte sind auf den Aufnahmen durch verschiedene Filter ortsfest, eindeutig erkennbar und die Helligkeitsunterschiede zwischen dem F127M- einerseits und den F139M- und F153M-Filtern andererseits sind zum Teil schon für das bloße Auge offensichtlich, es handelt sich definitiv nicht um Reflexionen, Effekte kosmischer Strahlung, Asteroiden oder dergleichen. Drei Sterne (ID 4, ID 8 und ID 9) sind nahe an hellen Sternen, die mit ihrem Licht die Helligkeitsmessung kontaminiert haben könnten, aber die übrigen Sterne sind davon nicht betroffen und die drei passen ansonsten sehr gut ins Schema der anderen (quadratische Symbole in den obigen Diagrammen).

Könnten die Objekte Doppelsterne sein, die aus zwei Braunen Zwergen bestehen und deswegen heller erscheinen? Ein Faktor 2 in der Helligkeit entspricht ¾ Größenklassen, aber die neun Sterne sind ungefähr 2 Größenklassen zu hell für Braune Zwerge, das ist ein Faktor von mehr als 6. Rechnet man die Unsicherheiten der Messgenauigkeiten von Photometrie, interstellarer Extinktion und Entfernung zusammen, kommt man auf maximal 0,7 Größenklassen Fehler, und in Kombination mit der Doppelstern-Hypothese käme man höchstens auf knapp 1,5 Größenklassen mehr Helligkeit, was diese Erklärung unwahrscheinlich macht. Hätten wir es mit Paaren aus Braunen und Roten Zwergen zu tun, dann würden die Roten Zwerge zwar hell genug sein, um die zwei Größenklassen aufzubringen, jedoch die Wasserabsorption in den 1,39- und 1,53-µm-Filtern überdecken und die Differenz zum 1,27-µm-Filter wäre nicht mehr nachweisbar.

Daher gehen Spezzi und ihr Team davon aus, dass sie wirklich eine neue Klasse von übergroßen, kühlen Vorhauptreihensternen nachgewiesen haben – Sterne von 0,2 bis 1 Sonnenmasse mit den Oberflächentemperaturen von Braunen Zwergen, aber entsprechend größer, um dennoch mit einer halben bis einer Sonnenleuchtkraft zu strahlen. Aber wie sollen die Bloatare entstanden sein?

Die Astronomen schlagen als Erklärung vor, dass die Sterne vor kurzem Masse aufgenommen haben, die sie in einen großvolumigen Kokon aus optisch dickem Gas einhüllt, eine "falsche Photosphäre" (als Photosphäre bezeichnet man die leuchtende Oberfläche eines Sterns). Und zwar durch das Vertilgen eines großen Gasplaneten, eines heißen Jupiters.

Gasplaneten wie Jupiter entstehen nicht in der Nähe eines Sterns, denn dort können flüchtige Gase und Wasser, die sich erst bei tiefen Temperaturen an Staub anlagern können, nicht überdauern. Der Stern taut sie auf und bläst sie mit seinem Sternwind fort. Genau aus solchen Stoffen bestehen die Gasriesen aber größtenteils, das heißt sie müssen in größerer Entfernung vom Stern entstehen. Es war deswegen eine große Überraschung, dass die ersten in der zweiten Hälfte der 1990er aufgespürten Exoplaneten Gasriesen waren, die ihre Sterne binnen weniger Tage in weit geringerem Abstand umrunden, als Merkur die Sonne umkreist – man nannte sie "heiße Jupiter".

Mittlerweile wissen wir, dass die Planeten mit der Gas- und Staubscheibe, aus der sie entstanden sind, interagieren und massereiche Planeten dabei nach innen zu wandern neigen, während sie sich die Asteroiden in der Scheibe einverleiben oder bevorzugt nach außen katapultieren. Im Sonnensystem hat vermutlich Saturn verhindert, dass Jupiter die inneren Planeten des Sonnensystems mit abgeräumt hat, aber anderswo dürfte es durchaus öfter vorkommen, dass ein Riesenplanet binnen weniger Millionen Jahre nach seiner Entstehung auf seinen Stern stürzt.

Der Gasplanet würde an der Roche-Grenze, wo die Gezeitenkraft des Sterns den gravitativen Zusammenhalt des Planeten übersteigt, allmählich abgetragen werden und eine schnell rotierende ellipsoide Gashülle mit dem Radius der Planetenbahn um den Stern bilden. Diese wäre optisch dick und würde sich durch die Strahlung des Sterns aufheizen, bis sie über ihre größere Oberfläche dieselbe Leistung abstrahlte, die der von ihr umschlossene Stern lieferte – dies begründet die niedrigere Temperatur der falschen Photosphäre gegenüber der echten des Sterns. Nach Berechnungen der Astronomen würde ein Planet von einer Jupitermasse durch die Hitze des Sterns auf etwa 1,5 Jupiterradien anschwellen und dann so weit vom Stern zerlegt werden, dass die falsche Photosphäre in diesem Radius eine Temperatur von 1470 K bis 2490 K für Sterne zwischen 0,5 bis 1,0 Sonnenmassen annehmen würde, was gut zu den Messungen passen würde.

Die im Vergleich zum Stern geringe Masse des heißen Jupiters, der nur 1/100 bis 1/1000 der Masse des Sterns zusammen brächte, wäre nach den Berechnungen ausreichend, das Volumen der falschen Photosphäre dicht genug zu füllen, sodass diese für eine Aufheizung hinreichend optisch dick wäre. Die Astronomen schreiben in ihrer Arbeit, man könne ihre Theorie verifizieren, indem man nachwiese, dass die Bloatare in der Äquatorgegend sehr schnell rotierten, weil sie den Drehimpuls des Planeten aufgenommen haben müssten.

Aber warum wurde vorher noch kein Bloatar gefunden? Das Spezzi-Team verweist zunächst darauf, dass das Szenario, bei dem ein (üblicherweise älterer, zum Riesen angeschwollener) Stern einen ihn umkreisenden Gasplaneten verschlucke und dabei seine Atmosphäre vergrößere, aus früheren Arbeiten schon bekannt sei. Die berechnete Lebensdauer der falschen Photosphäre sei mit nur 50.000 Jahren im Vergleich zur ersten Phase der Entwicklung von Planetensystemen von 1 bis 3 Millionen Jahren sehr kurz, also wäre statistisch gesehen nur ein kleiner Teil von rund 1 Prozent der infrage kommenden Sterne in Sternentstehungsgebieten zur gleichen Zeit in dieser Phase zu erwarten.

Und alle in der Nähe der Sonne befindlichen Sternentstehungsgebiete, die so junge Sterne enthalten, seien um einen Faktor 10 und mehr kleiner als NGC 3603, so dass man günstigstenfalls vier solche Objekte in so einer Region erwarten würde. Und die seien anscheinend bei bisherigen spektroskopischen Untersuchungen, die oft nicht die kompletten Sternhaufen erfasst haben, übersehen worden und bei der Photometrie mit normalen heißeren Vorhauptreihensternen verwechselt worden.

Das sind ziemlich starke Behauptungen und bei meinen Recherchen fand ich keine weitere Arbeit, die auf die Bloatare Bezug nimmt, die Arbeit steht alleine da. Üblicherweise geht man davon aus, dass von der Gezeitenkraft zerrissene Objekte Akkretionsscheiben um Sterne bilden. Ein Riesenstern, der einen Planeten vereinnahmt, ist ein vollkommen anderes Szenario, weil er aus dünnem Gas besteht, das sich allmählich zum Planeten hin ausbreitet, diesen schließlich einhüllt, durch atmosphärische Reibung bremst und verschluckt, so dass er erst im Inneren des Sterns aufgelöst wird.

Ob es sich bei den neun Objekten wirklich um angeschwollene Sterne niedriger Temperatur mit Wasser in der Atmosphäre handelt, oder doch um eher gewöhnliche Einzel- oder Doppelsterne sollte ein stärkeres Weltraumteleskop wie das in Fertigstellung befindliche James-Webb-Weltraumteleskop durch Spektroskopie der neun mutmaßlichen Bloatare klären können. Es sollte erkennen, ob das Absorptionsband vorhanden ist und ob die Sterne tatsächlich schnell rotieren. Dessen Start ist derzeit für Ende Oktober 2021 geplant, aber er rutscht seit Jahren nach hinten. Wir werden uns wohl noch ein wenig gedulden müssen, bis wir erfahren, ob es Bloatare wirklich gibt, oder ob es eine plausiblere Erklärung für die merkwürdigen Objekte gibt.

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(mho)