Die X-Akten der Astronomie: Die spukhafte Leoncino-Zwerggalaxie
Auf Aufnahmen mit 40 Jahren Abstand hat eine Zwerggalaxie anscheinend nicht nur ihre Position verändert, sondern auch ihre Form. Die Hintergründe sind unklar.
Dank immer besserer Technik, innovativen Ansätzen und internationaler Kooperation erlebt die Astronomie eine Blüte. Doch während viele Beobachtungen dabei helfen, Theorien zu verfeinern oder auszusortieren, gibt es auch immer wieder Entdeckungen, die einfach nicht zu passen scheinen. Mysteriöse Signale, mutmaßliche Verstöße gegen Naturgesetze und – noch – nicht zu erklärende Phänomene. In der Öffentlichkeit wird dann gerne darüber diskutiert, ob es sich um Spuren außerirdischer Intelligenz handelt, Wissenschaftler wissen, dass es am Ende fast immer eine natürliche Erklärung gibt. Aber überall wird die Fantasie angeregt.
In einer Artikelserie auf heise online werden wir in den kommenden Wochen einige solcher astronomischen Anomalien aus einer jüngst vorgestellten Sammlung vorstellen und erklären, warum alle Erklärungsversuche bislang an ihnen scheitern.
Galaxien, riesige Welteninseln aus meist Milliarden von Sternen, verändern sich nur äußerst langsam. Unsere Milchstraße hat sich seit ihrer Entstehung vor 13 Milliarden Jahren erst rund 50 Mal um sich selbst gedreht. Erst seit 16 Umdrehungen gibt es Erde und Sonne. Vor der letzten Umdrehung entstanden gerade die allerersten Dinosaurier, die erst vor einer Viertelumdrehung wieder ausstarben. Die riesigen Entfernungen zwischen den Sternen verbieten, dass sich eine Galaxie binnen eines Menschenlebens sichtbar verändert – mit Ausnahme der vergleichsweise winzigen Kerne von aktiven Galaxien, um die es heute nicht gehen soll.
Die kleine Galaxie SDSS J094332.35+332657.6, die wegen ihrer Position im Sternbild Kleiner Löwe (Leo Minor) auch "Leoncino-Zwerggalaxie" (italienisch für "Löwenjunges") genannt wird, scheint das nicht zu kümmern. Die Astronomin Mercedes E. Filho von der Universität Lissabon und ihr Professor Jorge Sánchez Almeida von der Universität La Laguna, Teneriffa, fanden bei zufälligen Recherchen zu der Galaxie, dass sie in nur 41 Jahren ihre Helligkeit und Gestalt verändert zu haben scheint. Und als wenn das nicht genug wäre, verschwand ein heller Knoten und scheint sich ihr helles Zentrum verschoben zu haben. Wie lässt sich so etwas erklären?
Das Löwenjunge ist kein Heavy-Metal-Fan
Die Leoncino-Galaxie ist in der Tat ein Zwerg gegen unsere Milchstraße. Sie durchmisst lediglich 1000 Lichtjahre und besitzt eine Leuchtkraft von gerade einmal 160.000 Sonnenmassen. Allerdings ist sie in 8 Millionen Sonnenmassen an kühlem Wasserstoffgas eingebettet, wie radioastronomische Beobachtungen der mit ihr assoziierten Radioquelle AGC 198691 offenbarten (AGC steht für den Arecibo General Catalog). Die Zahlen stimmen für eine geschätzte Entfernung von 8 Megaparsec, das sind rund 25 Millionen Lichtjahre. Die Galaxie könnte aber auch ohne Weiteres doppelt so weit entfernt sein, dann wäre ihr Durchmesser doppelt so groß, sie hätte achtmal mehr Sterne und entsprechend viel mehr Gas.
Die Entfernung der Galaxie ist sehr unsicher, denn sie befindet sich in der Richtung des lokalen Voids. Voids (englisch für "Leeren") sind riesige Leerräume im Universum, um die sich Galaxienhaufen wie ein Gespinst aus Filamenten herum winden, zu welchen sich die Materie durch zufällige Überdichten nach dem Urknall unter ihrer eigenen Schwerkraft zusammengezogen hat. Und daher scheint Leoncino mit einer Gruppe anderer Galaxien aus dem lokalen Void in unsere Richtung herauszufallen. Deswegen wird ihre kosmologische Rotverschiebung von ihrer großen Bewegung durch den Raum überlagert und es ist schwer zu sagen, welcher Anteil der 514 km/s, mit denen sie sich von uns entfernt, auf die Hubble-Lemaître-Expansion zurück zu führen ist und welcher auf den freien Fall in Richtung des Schwerpunkts unseres Laniakea-Superclusters.
Mit rund 19,5 Größenklassen Helligkeit um den Faktor 250.000 zu schwach für das bloße Auge machte Leoncino 2016 Schlagzeilen, weil sie offenbar kein Heavy-Metal-Fan ist: sie erwies sich als Rekordhalter für die bis dahin entdeckte metallärmste Galaxie. Im Jahr darauf wurde sie knapp unterboten, steht aber immer noch an zweiter Stelle. Solche Galaxien werden als XMP-Galaxien bezeichnet, was für "eXtremely Metal Poor" steht, also extrem metallarm. Astronomen bezeichnen alle Elemente schwerer als Wasserstoff und Helium als Metalle (siehe XKCD).
Leoncino ist metallarm, weil sie jung ist und gerade erst aus frischem, seit dem Urknall unverändert gebliebenem Wasserstoff-Helium-Gas Sterne bildet. Die sind wiederum interessant, weil es in der Milchstraße keine Sterne ohne Metalle mehr gibt und man an ihnen lernen kann, wie die früheste Sternenpopulation (Population III genannt) in der Milchstraße einmal ausgesehen hat. Man sagt der Population III nach, dass sie Sterne mit bis zu 1000 Sonnenmassen hervorgebracht haben soll, die nach einem kurzen Leben von nur einer Million Jahren als Hypernovae explodierten und so das Gas unserer Galaxie binnen ein paar Generationen rasch mit erbrüteten Metallen anreicherten, aus welchem dann Sterne mit Planetensystemen wie die Sonne entstanden.
Spukt’s in Leoncino?
Auf der Suche nach verschiedenen Aufnahmen der Galaxie fiel Filho und Sánchez Almeida zufällig auf, dass sie auf einer Aufnahme des Palomar Sky Survey POSS aus dem Jahre 1955 (wir erinnern uns) einen hellen Knoten im Norden zeigte, der auf POSS-Aufnahmen aus dem Zeitraum 1995 bis 1998 nicht mehr zu sehen war, also eine vorübergehende oder sogenannte "transiente" Quelle. Die Helligkeit der Quelle auf der POSS-I-Aufnahme im blauen Licht bestimmten die Autoren mit rund 21. Größenklasse. Eine rote POSS-I-Aufnahme der Galaxie reicht nur 20. Größenklasse und zeigt die Quelle nicht.
Aber damit nicht genug: Die Bilder zeigen außerdem eine Formveränderung der Galaxie. Erscheint sie in den Aufnahmen von 1955 kreisrund, ist sie in den Aufnahmen aus den 1990ern klar elliptisch. Dies gilt im Übrigen auch für Großaufnahmen mit dem Hubble-Teleskop (Titelbild).
Messungen der Autoren an den Aufnahmen ergaben zudem, dass die Spitzenhelligkeit der Galaxie (also die hellste Stelle) zwischen den 1955er und 1995-98er-Aufnahmen um 0,7 Größenklassen (Faktor 2,0) zugenommen hat. Messungen im SDSS-Katalog zeigen weiterhin eine mehrjährige Helligkeitsschwankung der gesamten Galaxie seit 1998 um den Faktor 2,5 nur im Infrarotlicht. Die Helligkeiten im blauen und roten Licht der Galaxie sind seit den POSS-II-Aufnahmen im SDSS hingegen konstant geblieben.
Schließlich sei im PPMXL-Katalog (Positions and Proper Motions Extra Large) eine Eigenbewegung der Galaxie von 0,3 Bogensekunden über 40 Jahre angegeben. 0,3 Bogensekunden entsprechen etwa 38 Lichtjahren auf 25 Millionen Lichtjahre Entfernung. Demnach müsste sie sich mit fast Lichtgeschwindigkeit fortbewegt haben. Es ist ungewöhnlich, Eigenbewegungen für Galaxien in mehr als 1 Megaparsec (3,26 Miliionen Lichtjahrej) Entfernung zu registrieren; es handelt sich hierbei um Bewegungen in der Himmelsebene, im rechten Winkel zur Sichtlinie, im Unterschied zu Radialgeschwindigkeiten entlang der Sichtlinie, die sich mit sehr hoher Genauigkeit auch auf große Entfernungen durch die Verschiebung der Spektrallinien messen lassen.
Normalerweise werden Eigenbewegungen nur innerhalb der lokalen Gruppe beobachtet, und diese werden in einigen 10 Mikrobogensekunden pro Jahr gemessen. Hier liege wohl eher ein Kalibrierungsfehler in der PPMXL-Quelle vor, mutmaßen Filho und Sánchez Almeida. Bei dem Versuch, die Position der Galaxie relativ zu benachbarten Galaxien zu bestimmen, ermittelten die Autoren allerdings sogar eine Verschiebung des Helligkeitszentrums um ein Pixel nach Süden (etwa eine Bogensekunde im Bildmaßstab oder rund 125 Lichtjahre).
Nun kann man ohne lange nachdenken zu müssen ausschließen, dass es in Leoncino spukt und sich die Galaxie in 40 Jahren signifikant bewegt oder verformt haben könnte. Allerdings sind hier ja zunächst nur Beobachtungen beschrieben, während eine mutmaßliche Bewegung oder Verformung bereits eine Interpretation einer möglichen – oder vielmehr unmöglichen – Ursache wäre. Das wussten Filho und Sánchez Almeida natürlich auch, die beiden haben schon Jahre zuvor an XMP-Galaxien geforscht und sind Profis. Folgen wir ihrer Analyse, die verschiedenste Ursachen für die beobachteten Phänomene in Betracht zieht.