Draghi-Wettbewerbsbericht: Düsterer Tech-Ausblick – der EU bleiben nur Nischen

Berater Draghi sieht die Gefahr für die EU, "völlig von im Ausland entwickelten KI-Modellen abhängig zu werden". Auch für den TK-Sektor fordert er Reformen.

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Verrauchte EU-Flagge

(Bild: vladm/Shutterstock.com)

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Vor rund einem Jahr bat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den italienischen Ex-Regierungschef Mario Draghi, einen Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit Europas zu verfassen. Am Montag hat die Kommission seine mehrere hundert Seiten lange Zustandsbeschreibung nebst Empfehlungen veröffentlicht. Vieles, was drinsteht, dürfte von der Leyen nicht gefallen. Vor allem im Bereich von Schlüsseltechnologien liest sich das Werk wie eine schonungslose Abrechnung mit unzähligen Versäumnissen von Politik und Wirtschaft auf dem alten Kontinent. Der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) legt den Finger in die Wunde: Es fehlt an Geld und Finanzierungsmöglichkeiten, Fähigkeiten und Humankapital sowie einem einfachen Zugang zu einem großen Binnenmarkt.

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Beispiel Künstliche Intelligenz (KI): "KI-Entwicklungen sind für die Industrieunternehmen der EU eine Chance, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern", schreibt der 77-Jährige. Entscheidend sei es aber, die Technik rasch zu integrieren. Derzeit setzten nur 11 Prozent der EU-Unternehmen KI ein. 73 Prozent der seit 2017 entwickelten Basismodelle stammten aus den USA, 15 Prozent aus China. Draghi warnt: "Für Europa besteht das Risiko, völlig von im Ausland konzipierten und entwickelten KI-Modellen abhängig zu sein." Dies gelte nicht nur für allgemeine KI-Anwendungen, sondern auch für vertikale Lösungen, die für wichtige EU-Sektoren wie die Automobil-, Banken-, Telekommunikations- (TK), Gesundheits-, Mobilitäts- und Einzelhandelsbranche bestimmt sind.

Die wenigen Unternehmen wie Aleph Alpha und Mistral, die in Europa generative KI-Modelle entwickeln, benötigen dem Bericht zufolge große Investitionen, um zu wettbewerbsfähigen Alternativen für die US-Konkurrenz zu werden. Dieser Bedarf werde derzeit von den Kapitalmärkten der EU nicht gedeckt, was hiesige Akteure dazu zwinge, im Ausland nach Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. Betrachte man die weltweit führenden KI-Startups, gingen 61 Prozent der weltweiten Finanzierungen an US-Unternehmen, 17 Prozent an chinesische und nur 6 Prozent an Firmen in der EU. Ferner verfüge die EU im Vergleich zu den USA und China "über eine geringe Gesamtzahl neuer Datenwissenschaftler". Der einschlägige Talentpool sei vergleichsweise klein, hochqualifizierte Fachkräfte würden oft durch hohe Gehälter im Ausland abgeworben.

"Die schwache Position der EU bei der Entwicklung von KI bedeutet, dass sie ihren Wettbewerbsvorteil in mehreren Industriezweigen in Zukunft möglicherweise nicht voll ausschöpfen kann", gibt Draghi zu bedenken. Ein schwaches KI-Ökosystem würde wiederum ein Hindernis für die Digitalisierung und Produktivitätssteigerungen von EU-Unternehmen und eine Bedrohung "für Europas derzeitige Führungsrolle in der fortschrittlichen Robotik" darstellen.

Die Ambitionen, die EU-Gesetzgeber mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und der KI-Verordnung an den Tag legten, bezeichnet der Zentralbanker grundsätzlich als lobenswert. "Ihre Komplexität und das Risiko von Überschneidungen und Inkonsistenzen können jedoch die Entwicklungen der EU-Industrie im Bereich der KI untergraben." Die EU müsse nun einen Kompromiss finden zwischen dem stärkeren Schutz von Grundrechten und Produktsicherheit sowie weniger strengen Vorgaben zur Förderung von Investitionen und Innovationen etwa durch regulatorische Freiräume. Dies erfordere vereinfachte Vorschriften und eine harmonisierte DSGVO-Umsetzung. Überschneidungen mit dem KI-Gesetz müssten beseitigt werden.

Die starke Position der USA bei KI führt Draghi hauptsächlich auf die Größe der Cloud-Hyperscaler Amazon Web Services (AWS), Microsoft Azure and Google Cloud, enge Partnerschaften zwischen ihnen und spezialisierten Firmen wie OpenAI sowie die Verfügbarkeit von Risikokapital zurück. Damit einhergehend konstatiert der Experte: "Der EU-Markt für Cloud-Dienste ist größtenteils verloren an Player, die in den USA ansässig sind." Der Bedarf an Rechenleistung und das Datenvolumen steige zwar in allen Branchen rasant. Die drei Hyperscaler machten aber schon 65 Prozent dieses Marktes aus. Der Anteil der EU-Cloud-Anbieter sei 2021 auf unter 16 Prozent gesunken. Gegen eine Trendwende sprächen Skaleneffekte und die hohen Immobilien- und Energiekosten in Europa.