Elektronische Patientenakte für alle: Von Lippenbekenntnissen bis zu Genomdaten
Die elektronische Patientenakte gilt als das Herzstück der Digitalisierung im Gesundheitswesen, in der zunehmend mehr Daten Platz finden sollen.
In Zukunft sollen auch Patienten das Recht auf Interoperabilität erhalten und dieses gegenüber ihrer Krankenkasse durchsetzen können. Das verkündete Susanne Ozegowski, Abteilungsleiterin im Bereich Digitales und Innovation im Bundesgesundheitsministerium (BMG), auf dem 8. deutschen Interoperabilitätstag. Das Ministerium wolle über bisherige Lippenbekenntnisse hinausgehen. 80 Prozent sei dabei die Zahl für verschiedene ambitionierte Ziele: 2025 sollen 80 Prozent über eine elektronische Patientenakte (ePA) verfügen, zwei Jahre später 80 Prozent der Laborergebnisse in der ePA vorliegen.
Die Frage, wie das BMG auf immer wieder verschobene Fristen umgehe, erwiderte Ozegowski, dass ihr jede verschobene Frist Schmerzen bereite. "Ja, das ist ein Thema, an das man auf jeden Fall nochmal herangehen muss", gestand sie ein. Die für die Digitalisierung zuständige Gematik werde an ganz vielen Stellen für Dinge verantwortlich gemacht, bei denen sie keinen Durchgriff hat, weil ganz viele Akteure mitbeteiligt sind. Daher will das BMG stärker an das Thema "Ende-zu-Ende-Verantwortlichkeit".
Prozesse digital denken
Diese Ziele könnten jedoch nur mit einer zuvor umgesetzten Interoperabilitätsagenda erreicht werden. Derzeit gibt es laut Ozegowski das Dilemma, dass Praxis- und Krankenhausverwaltungssysteme nicht miteinander kommunizieren können und es fehlt eine "einheitliche Konformitätsbewertungsschablone". Darum soll die Gematik künftig die Konformitätsbewertung vornehmen oder eine Stelle benennen.
Man wolle nicht mehr nur einzelne Dokumente "elektrifizieren", sondern "Versorgungsprozesse digital denken". Man wolle nicht einen elektrifizierten Mutterpass, sondern um Antworten auf die Frage "wie schaffe ich es, einen guten Prozess in der Vorsorge von Schwangerschaften" zu erreichen. Die Medikationen sollen nicht "irgendwie" in die ePA, sondern einen Medikationsprozess beschreiben, der sich am Ende auch positiv auf den Patienten auswirkt – etwa mehr Arzneimitteltherapiesicherheit.
"Wir brauchen Gesundheitsdaten von hoher Qualität, die verfügbar sind, möglichst zeitnah", so Ozegowski. Ansonsten würden auch keine vernünftigen Versorgungsprozesse funktionieren. Ebenso stelle das Thema Nutzer-orientierte Technologien und Anwendungen eine Art Basis dar. Dabei sei die ePA das Herzstück. Die Daten müssten zugreifbar, verfügbar, strukturiert und interoperabel sein. Wichtig seien dabei die Koordinierungsstelle und das bei der Gematik eingerichtete Expertengremium "Interop-Council".
"Nur" Abrechnungsdaten
Nach dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz dürften Krankenkassen künftig mit den Daten der Versicherten arbeiten. Das sei zu "krankenkassenlastig", so Prof. Sylvia Thun in einem Workshop zur "ePA für alle". Die Abrechnungsdaten aller gesetzlich Versicherten werden zu Forschungszwecken an das beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelte Forschungsdatenzentrum (FDZ) übermittelt. Sie sei anderer Ansicht als Ozegowski, die das FDZ für einen geeigneten Ort für die Forschungsdaten halte. Thun hielt entgegen, dass dies allerdings noch nicht da sei, außerdem wolle sie nicht auf Abrechnungsdaten forschen müssen – das habe schon in den letzten 30 Jahren nicht geklappt.
Ihrer Ansicht nach brauchen Ärzte und Wissenschaftler kein Forschungsdatenzentrum, sondern eine föderierte Umgebung, bei der verschiedenen Bereiche und Plattformen zusammengeführt werden können, je nach Forschungsfragen. Die Abrechnungsdaten seien unbrauchbar und Forschungsdaten dort nicht vorhanden. Aktuell könne man mit der ePA nicht forschen, resümierte Thun. Die Daten aus der "Ozegowski-ePA", wie Thun sie nannte, könne man dem Forschungsdatenzentrum schenken.
Viel FHIR
Das Forschen mit Daten sei Thun zufolge in Deutschland nur unter erschwerten Bedingungen möglich. "Und wenn man die Daten kriegte, kriegte man eine kleine Datei [...] Postleitzahlen weg, dass man eigentlich gar nichts mehr damit anfangen konnte". Mit der derzeitigen ePA könne man wissenschaftlich nicht forschen. Sie selbst arbeite auch mit Phenopackets, die den standardisierten Austausch von phänotypischen Informationen über eine FHIR-API ermöglichen sollen. Dabei stellte sie auch die Projekte Genom.de vor – eine "Initiative zur Medizinischen Genomsequenzierung", das von der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) koordiniert wird – und Orphanet, ein Portal für seltene Erkrankungen.
Eines von Thuns Zielen ist es, eine zentrale Datenplattform mit Daten nach dem "FAIR"-Prinzip aufzubauen (Findable, Accessible, Interoperable, Reusable). Interoperable Datenmengen ermöglichen unter anderem KI-gestützte Analysen, Forschung und internationale Kooperation. Man brauche nicht "einen dicken Topf, wo alles reinkommt", sondern eine Community, die mit verschiedenen Organisationen, "aber auch vielleicht mit der privaten Wirtschaft" zusammenarbeitet.
Google als Expertin für Massendaten gefragt
Für Interoperabilität arbeite Thun schon seit Jahren mit FHIR HL7 und auch Google ginge "total auf FHIR". Mit Google Health müsse man zusammenarbeiten, da die "einfach superviel Ahnung von Massendaten haben und wissen, was man da [...] bauen muss". Auf die Frage nach möglichen Abhängigkeiten zeigte sie sich unbesorgt, zudem seien die in Europa arbeitenden US-Konzerne DSGVO-konform. Wie die Daten nachträglich aus den Forschungsdaten gelöscht werden, sei eine "Riesenherausforderung", aber man müsse auch durch Fehler lernen.
(mack)