Edit Policy: Artikel 17 im EU-Copyright vor dem EuGH – ein möglicher Pyrrhussieg

Seite 2: Gefahren für die Grundrechte

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Grund zum Jubel für die Zivilgesellschaft bieten die Schlussanträge dennoch nicht. Sie stellen eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dar, wonach Uploadfilter als eine generelle Überwachungspflicht grundsätzlich verboten waren. Das gibt auch der Generalanwalt zu: Die Interpretation des Verbots allgemeiner Überwachungspflichten habe sich "in jüngster Zeit weiterentwickelt". Bei der Rechtfertigung dieser Abkehr vom Uploadfilter-Verbot verstrickt sich der Generalanwalt in Widersprüche. Einerseits betont er, dass das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten den Wesensgehalt der Meinungsfreiheit schütze, die Plattformen haben zentrale Bedeutung für die Ausübung dieser Freiheit und "tragen so zu einer Art 'Demokratisierung' der Informationserzeugung bei".

Wenn der Wesensgehalt eines Grundrechts berührt ist, bedeutet das, dass eine solche Einschränkung auch nicht mehr durch den Schutz eines anderen Grundrechts zu rechtfertigen ist – der Wesensgehalt eines Grundrechts muss immer erhalten bleiben, der Zweck heiligt nicht die Mittel. Da der Generalanwalt das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten für einen Garanten dieses Wesensgehalts der Meinungsfreiheit hält, sollte man meinen, dass er diesen Grundsatz nicht antastet. Stattdessen bezeichnet er aber die Neuinterpretation dieses Verbots, die der Europäische Gerichtshof erstmals in einem Urteil zu Beleidigungen auf Facebook vorgenommen hat, als "gerechtfertigt".

Würde man an der Rechtsprechung festhalten, wonach verpflichtende Uploadfilter immer gegen das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten verstoßen, "hätte dies die bedauerliche Konsequenz, dass der technologische Fortschritt, der eine solche Filterung möglich macht, ignoriert und dem Unionsgesetzgeber ein wertvolles Instrument zur Eindämmung gewisser Arten von unzulässigen Inhalten aus der Hand genommen würde". Stattdessen müsse das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten fortan so interpretiert werden, dass es automatische Sperrungen nur dann erlaubt, wenn sie auf offensichtlich rechtswidrige Inhalte begrenzt sind und das Risiko von Overblocking dadurch minimal sei. Erwägungen über den Nutzen einer Grundrechtseinschränkung haben aber in einer Situation, in der der Wesensgehalt eines Grundrechts berührt ist, absolut nichts zu suchen. Indem der Generalanwalt den Schutz des Wesensgehalts der Meinungsfreiheit mit Verweis auf den Nutzen von Uploadfiltern verringert, widerspricht er sich selbst.

Auch dem Generalanwalt ist bewusst, dass es den perfekten Uploadfilter, der nur illegale Inhalte sperrt und legale Inhalte verschont, nicht gibt. Er hält es deshalb für notwendig, dass deren Einsatz von vornherein auf die wenigen Fälle begrenzt wird, in denen Overblocking unwahrscheinlich ist. Diese Aufgabe dürfen EU-Kommission und Mitgliedstaaten nicht der Industrie überlassen, sie gehört in staatliche Hand. Damit gibt der Generalanwalt Deutschland Recht, das als bislang einziges Land in der EU eine Umsetzung von Artikel 17 verabschiedet hat, die solche konkreten Schutzvorkehrungen enthält. Das Konzept "mutmaßlich erlaubter Nutzungen", wonach beispielsweise kurze Ausschnitte aus Videos oder Musik von bis zu 15 Sekunden nicht automatisch gesperrt werden dürfen, wurde von der Musikindustrie als "deutscher Sonderweg" verschrien und mit allen Mitteln bekämpft. Nun stellt sich heraus, dass dieser angebliche Sonderweg der einzige Weg ist, wie Artikel 17 überhaupt grundrechtskonform umgesetzt werden könnte.

Dennoch zeichnet sich ab, dass auch das deutsche Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz, das am 1. August in Kraft tritt, die grundrechtlichen Vorgaben des Generalanwalts nicht erfüllt. Die automatische Sperrung ist nämlich keineswegs auf eindeutige Urheberrechtsverletzungen beschränkt. Beispielsweise gilt ein Upload nur dann als mutmaßlich erlaubte Nutzung, wenn er weniger als 50 Prozent eines geschützten Werks enthält. Es gibt aber zahlreiche Beispiele legaler Nutzungen, die dieses Kriterium nicht erfüllen. Deshalb wird die Gesellschaft für Freiheitsrechte, bei der ich das Projekt control © leite, ab 1. August Fälle von Overblocking in Deutschland sammeln und dokumentieren.

Wenn der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil der Interpretation des Generalanwalts folgt, wird also auch Deutschland seine Umsetzung von Artikel 17 womöglich noch einmal anpassen müssen. In Mitgliedstaaten wie Frankreich, Ungarn oder den Niederlanden, die Artikel 17 gänzlich ohne Schutzvorkehrungen für die Grundrechte umgesetzt haben, wird es erst recht notwendig, diese Gesetze vor Gericht zu bringen, da sie offensichtlich gegen die EU-Grundrechtecharta verstoßen.

Die Texte der Kolumne "Edit Policy" stehen unter der Lizenz CC BY 4.0.

(mho)