Ein Vierteljahrhundert-Zeitzeuge geht: Ade Jürgen Kuri

Ohne Jürgen Kuri würden heise online und der Newsticker nicht so sein, wie sie sind. Nun geht er in den Ruhestand. Eine Würdigung.

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Gaststätte in Bremen-Walle. Jürgen wird dort wohl noch nie gewesen sein. Auch mag er lieber Wein als Bier.

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Von
  • Redaktion heise online
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Unser Chefredakteur Volker Zota brachte es auf den Punkt, als er via Twitter eine Stellenausschreibung für einen neuen News-Chef verbreitete: "Dann ist wirklich eine Ära vorbei." Das war Ende August 2021, seit April dieses Jahres übergab Jürgen Kuri seine Aufgaben nach und nach seinem Nachfolger Tobias Knaack. Denn, wie Jürgen ebenfalls auf Twitter selbst schrieb: "Da gibt's echt viel zu tun, zu erleben und zu gestalten mit einem ganz hervorragenden Team. Und ich bin auch noch ein ganzes Weilchen da, um in die Geheimnisse, die Vielfalt und die Vorhaben von @heiseonline einzuführen."

The Long Good-bye ist zu Ende, heise online muss nun ohne Jürgen Kuri laufen. Ein Versuch, der noch nie gewagt wurde, denn heise online und den Newsticker gab es bisher nicht ohne ihn, also fast. Die ersten Meldungen erschienen im April 1996, Jürgen kam zum 1. Juli 1996 hinzu. Seine erste Tickermeldung vom 17. Juli 1996 befasste sich mit der Object Management Group, die einen Request for Information (RFI) herausgegeben hatte, "mit dem Vorschläge und Kommentare zu Bereichen gesammelt werden sollen, die eine Zusammenarbeit von Internet- und Objekttechnologien betreffen".

Damals waren die Meldungen im Newsticker noch nicht mit Bildern versehen, es gab keinen eigenen Anrisstext und das – damals hausintern erstellte – CMS verstand noch keine Links. Damals klangen die meisten Themen für Normallesende recht fachlich, inzwischen sind einige aus Nachbarfeldern hinzugekommen. Im Vergleich zur heutigen Gestalt und den Inhalten von heise online wird der Wandel deutlich, an dem Jürgen Kuri von Anfang beteiligt war; damals mit Rückenwind der c't, als dessen fachlich-fundierter Fortsatz heise online wahrgenommen werden konnte und dessen stellvertretender Chefredakteur Jürgen lange Zeit war.

Grüße aus dem letzten Jahrtausend: Damals, als Jürgen seine erste Meldung veröffentlichte, sah auch die Webseite von heise online noch sehr einfach aus.

(Bild: heise online / Webarchive)

"Vierteljahrhundertzeitzeugen" sind gewiss alle Menschen, die einen solchen Zeitraum bewusst wahrgenommen haben. Zu Jürgens Beruf und Berufung wurde darüber hinaus, den Wandel zu dokumentieren, zu kommentieren und inhaltlich wie technisch mitzugestalten. Das hat er in den vergangenen 26 Jahren bei heise online gewiss nicht allein gemacht, aber er ist einer der wenigen, die aus der Anfangszeit übrig geblieben sind, gewissermaßen als Konstante im Wandel – die sich aber auch selbst gewandelt hat. Neugierig auf alles Neue und auch Alte, ein Early Adopter mit historischem Bewusstsein. Jürgen weiß, wozu Lochkarten an welchen Stellen Löcher haben.

Vor seiner Zeit bei Heise hatte Jürgen "Versuche als Musiker und Philosophie-Student, als OS/2-Redakteur, als Halbleitertechniker und Außendiensttechniker bei einem PC-Systemhaus" hinter sich gebracht, wie er in einer Selbstbeschreibung aufzählte. Hinab gräbt er sich gerne "in die Untiefen von Vernetzung und Digitalisierung und deren gesellschaftlichen Implikationen". Deutlich wurde das zum Beispiel im Juli 1999 in einem Kommentar für den Newsticker, in dem er beklagt, dass Gedanken zur Technologiefolgenabschätzung und den damit verbundenen komplizierten Zusammenhängen offenbar an der breiten Masse spurlos vorbeigehen. Vielmehr stoße diese über ihr Handy gebeugt auf der Straße untereinander zusammen, auch damals schon. "Das Sinken der Profitraten treibt die Industrie zu immer neuen Gimmicks, für die dann Anwendungen und Anwender gesucht werden", schlussfolgerte Jürgen.

Auch wenn er an dieser Stelle auf Karl Marxens Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate anspielte oder an anderer Stelle die Marxistin Rosa Luxemburg zitierte, es wäre zu einfach, ihm ein philosophisch-politisches Etikett anzukleben. Gerade das Luxemburg-Zitat weist darüber hinaus, es lautet: "Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der 'Gerechtigkeit', sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die 'Freiheit' zum Privilegium wird."

Hier tritt mindestens zweierlei hervor: Zum einen, dass Jürgen das Zitat nicht verkürzt wiedergab, wie es viele andere machen. Ihm war und ist immer der Kontext wichtig. Zum anderen steckt in dem Zitat ein Gedanke, der alte Wurzeln hat. Eine reicht in das Zeitalter der Aufklärung zurück, in der es unter anderem darum ging, abseits des althergebrachten Glaubens Wissen zu erschließen, sich anzueignen und die Menschen mündig zu machen, indem ihnen dieses Wissen zugänglich gemacht wird. Dazu gehört, eine verständliche Sprache zu verwenden, Publikationsmöglichkeiten sowie Raum für Debatten und damit Öffentlichkeit zu schaffen. In dieser Tradition sollte Journalismus stehen und steht als ein unabdingbarer Bestandteil von heise online das Leserforum, damit sich die Menschen über die dargebotenen Informationen untereinander austauschen und sich eine intersubjektive Meinung bilden können.

Für diese Debattenplattform hat sich Jürgen nach Kräften eingesetzt. Deshalb war es für ihn im April 2015 ein außerordentlicher Schritt, ein Forum zu einer Meldung im Newsticker zu schließen, in der es um Transgender-Menschen in der IT-Branche ging. In seiner Erläuterung zur Schließung erklärte er, angesichts ausufernder menschenverachtender Kommentare reiche es offenbar nicht aus, wenn sich die Leserschaft im Forum untereinander reguliere. Die Kommentare bezeichnete er unumwunden als "Dreck", die Urheber als "Spinner" – und er entschuldigte sich dafür, das Forum auf "read only" gestellt zu haben.

"Probleme mit der Meinungsfreiheit löst man keinesfalls mit weniger Meinungsfreiheit. Aber auch nicht mit dem Zwang, jede Meinung einfach hinnehmen zu müssen", schrieb Jürgen neun Monate später in einem Kommentar. Es ist gut vorstellbar, dass er die Zeit genutzt hatte, um diesen Gedanken abzuwägen, und auch, dass er mit dem Abwägen damit bis heute nicht abgeschlossen hat. Zumal ihm die damit verbundenen Implikationen für die Gesellschaft, deren Tragweite sowie der Diskurs darüber bewusst sein dürften, die sind nämlich nicht jung.

Wenn ihn eine Kamera im Homeoffice ablichtet, dann immer vor einer Bücherwand. Ein im Fernsehen bekanntes Bild, in dem Experten bedeutende Dinge sagen und dabei belesen wirken sollen. Jürgen muss sich nicht eigens vor Büchern drapieren, er kann ihnen nicht ausweichen. Es gibt in seinem Heim kaum eine Wand ohne Fach-, Sach- und belletristische Literatur, die weit über "Digitalisierung" und "Vernetzung" hinausreicht. Jürgen kennt den Unterschied zwischen "editieren" und "edieren" oder "dezidiert" und "dediziert", und er ist ein Connaisseur selten benutzter Wörter wie zum Beispiel "galore", das er auch mal seinem Gefährten Hal Faber unterschob. Alle vier Jahre wies Jürgen befugt darauf hin, dass das Wort "Vizeweltmeister" unsinnig sei, denn es gebe keinen "Weltmeisterstellvertreter". Anders verhalte sich das mit den "Vizekanzlern".

Wer sich einmal in einem Bewerbungsgespräch mit Jürgen unterhalten hat, kennt die knifflige Situation, in der er danach fragte, was der Bewerber oder die Bewerberin gerade lesen würde. Knifflig, weil die Antwort Auskunft darüber geben könnte, ob sich die potenziellen Neulinge womöglich auch privat für die Themen interessieren, zu denen sie arbeiten wollen. Das könnte von persönlichem Interesse und potenziell hohem Einsatz zeugen. Für Jürgen aber sollte die Antwort aufschließen helfen, ob die Menschen über ihren Tellerrand hinaus sehen wollen und können, was für ihn mehr wiegen dürfte als ein Zettel, der einen akademische Befähigung bescheinigen soll.

Natürlich schadet einem Redakteur und einer Redakteurin von heise online Affinität für IT-Themen nicht, insgesamt hat sich aber so wie schon in der c't ein recht heterogenes Team gebildet, dessen Mitglieder nicht immer ihre Herkunft in Naturwissenschaft, Mathematik und Technik verorten würden. Es würde zu Jürgens Herangehensweise passen, verließe er sich hier auf das Prinzip "Versuch Erfolg oder Irrtum", davon angetrieben, Freiheit in Stabilität und Wandel zu bieten, also Raum für Ideen und Eigeninitiative. Allermeistens waren seine Versuche erfolgreich. In der Redaktion hat sich ein common sense herausgebildet, zu dem bis heute gehört, thematische Differenzen und unterschiedliche Meinungen zu diskutieren.

In dieser "flachen Hierarchie" wies Jürgen als News-Chef sehr wohl so etwas wie eine Richtlinienkompetenz auf, aber weniger durch die ihm verliehene Position, sondern mehr durch fachliche, intellektuelle Befähigung und schon recht früh durch viel Erfahrung. Eine angesichts seiner bekanntermaßen kritischen Betrachtungswinkel auf unsere Wirtschaftsform heikle Leitungsposition, denn in der diente Jürgen als Scharnier zwischen der Geschäftsführung und der Belegschaft; gewissermaßen personifizierte er einen gesellschaftlichen Widerspruch. Vielleicht eine Erklärung dafür, warum er sich in den weiten und verwinkelten Korridoren und in den Kammern von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Ideengebäude herumtreibt – abgesehen davon, dass sich Jürgen gerne mit Denkknobelei beschäftigt.

Für Jürgen ist die Ansicht, Journalisten könnten "objektiv" berichten, eine Illusion. Wie jeder Mensch haben auch Journalisten eine Meinung, sie muss nur gut begründet und nachvollziehbar, somit verhandelbar sein. So könnte sein Credo lauten, wenn er Wert darauf legen würde, eines in Stein zu meißeln. Dabei ist ein weiter Horizont förderlich oder – falls nicht vorhanden – Neugierde, damit er sich bilden kann. Ebenso gehört zum Beruf des Journalisten eine Neigung zur Selbstdarstellung oder -offenbarung, denn mit jeder publizierten Zeile treten sie an die Öffentlichkeit. Solcherlei kam mit ihm zur Sprache und regte zur Reflexion an.

Jürgen war viel in der c't und heise online zu lesen, darüber hinaus oft im Fernsehen, im Radio, in Podcasts oder auf einem Podium zu sehen und zu hören, wo er seine Ansichten zu vielerlei Themen darlegte. Das allein mit einer gewissen Neigung zum Exhibitionismus zu erklären, würde aber zu kurz greifen. Auch in den vielen Interviews in Funk, Fernsehen und Streaming, die Jürgen absolvierte, ging es ihm vor allem darum, Sachverhalte zu erklären oder darüber aufzuklären, also Informationen nicht nur zu gewinnen und darzulegen, sondern auch verstehbar zu machen.

Zum Beispiel zu den "Untiefen von Vernetzung und Digitalisierung und deren gesellschaftlichen Implikationen". Und dabei hat er als Experte für Netzwerktechnik sich selbst umfassend sozial vernetzt. Er wurde etwa in das Kuratorium der Sir-Greene-Stiftung aufgenommen, die den journalistischen Nachwuchs fördert, er war früh auf dem Netzkongress republica aktiv, moderierte den zusammen mit dem Kulturzentrum Pavillon in Hannover veranstalteten Netztalk und als stellvertretender Chefredakteur von heise online diente er als Kooperationspartner der Hannah-Arendt-Tage in Hannover.

Zu deren diesjähriger Veranstaltung betonte Jürgen in einem Grußwort beispielhaft für seine Haltung: "Das Thema 'Digitale Vermessung des Menschen' […] ist für uns bei heise online beileibe nicht nur Schreckgespenst, sondern Anlass zur Analyse und zur Information." Die Vorstellung, dass sich menschliches Handeln, Identität und letztlich der Wert eines Menschen aus seinen Daten und mit Hilfe Künstlicher Intelligenz vorhersagen ließen, kombiniere naiven Technik-Optimismus mit Blindheit gegenüber totalitären Bestrebungen.

Vielleicht mildert Jürgen dank der von ihm demonstrierten Meinungskraft Bertrand Russells Jammer darüber, dass die Dummen so sicher seien und die Gescheiten so voller Zweifel; denn auch wer zweifelt, kann offenbar eine Meinung haben und sie äußern. Dabei – das Stichwort "flache Hierarchie" fiel vorhin bereits – bügelte Jürgen aber sein Team nicht einfach mit seiner Meinungskraft unter, die Tür zur Diskussion stand immer offen. Auch reichte er den von den obersten Firmenetagen ausgeübten, Profit steigernden Druck nicht ungedämpft nach unten weiter. Vielmehr stellte er unter Beweis, dass es sich lohnt, die schon von der c't bekannte kritische Haltung gegenüber den Protagonisten aus Wirtschaft und Politik für heise online zu übernehmen und auf weitere Themenbereiche zu erstrecken; dass es sich für die Geschäftsleitung bei allen wirtschaftlichen Risiken rentiert, eine eigene Online-Redaktion aufzubauen, die keine Duckmäuser beherbergt.

Vor einem Vierteljahrhundert war die Zahl der Online-Redakteure im Hause Heise an nicht einmal einer Hand abzuzählen, heute bräuchte es dazu die Hände mehrerer Menschen. Gerade in den Anfangstagen von heise online, des Newstickers und des dazugehörigen Leserforums brauchte Jürgen als Vorkämpfer ein dickes Fell – gegenüber der Geschäftsleitung, den Vorgesetzten, im Kollegium und der Leserschaft – und er zeigte es auch. Viele Wegbegleiter von damals und auch in jüngster Zeit haben ihn als einen Mitmenschen wahrgenommen, der in brisanten Momenten gelassen blieb. Mit dieser Art stärkte er Kolleginnen und Kollegen den Rücken, wenn sie in schwierige Situationen gerieten. Vermutlich geschah das öfter, als manche Betroffene wissen können, weil es hinter den Kulissen der Geschäftsführung geschah.

Kann es ohne Jürgen Kuri weitergehen? Ja, denn er selbst hat durch sein Gespür für, seinen Willen und seine Fähigkeit zur Transformation die Basis gelegt, dass heise online weiterhin wandelbar sein kann. Wohlgemerkt: wandelbar, nicht angepasst. So wie Jürgen es vorgemacht hat.

(anw)