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Gaskrise: Was passiert, wenn das Erdgas knapp wird

Andreas Wilkens

Diese Rippen könnten im Winter kalt bleiben, weil Gas fehlt oder weil es zu teuer ist.

(Bild: heise online / anw)

Die Chemieindustrie meint, dass in einer Gasnotlage auch Privathaushalte sparen müssten. Söder spricht von einer Triage, Kommunen präparieren sich.

Die seit dem gestrigen Montag laufenden Wartungsarbeiten an der Erdgas-Pipeline Nord Stream 1 [1] verschärfen Befürchtungen, im kommenden Winter könnte es in Deutschland zu einem Gasmangel kommen [2]. Grundsätzlich gilt, dass Privathaushalte, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und ähnliche Einrichtungen in Deutschland als besonders schützenswert gelten und nicht als erste betroffen sein würden, versicherte das Bundeswirtschaftsministerium auf Anfrage von heise online. Die chemische Industrie stellt diesen Vorrang in Frage. Christian Dürr, FDP-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, mahnt, Industrie und Verbraucher nicht zueinander in Konkurrenz zu setzen. Unterdessen bereiten sich Kommunen für den Ernstfall vor.

Falls Russland ein vollständiges Gas-Embargo verhänge, drohe der deutschen Wirtschaft ein Herzinfarkt, sagte Christian Kullmann, Chef des Chemieunternehmens Evonik und Präsident des Chemieverbands VCI der Süddeutschen Zeitung [3]. "Ohne Chemie steht dieses Land still, denn chemische Produkte werden für 90 Prozent aller Produktionsprozesse benötigt." Auf die Frage, ob die Industrie bei der Gasverteilung gegenüber den Privathaushalten bevorzugt werden sollte, sagte Kullmann: "Was nützt es, wenn die Haushalte weiter Gas bekämen, es aber nicht mehr bezahlen könnten?"

Die Sicherung der Arbeitsplätze und damit das Einkommen für die Familien sei sehr wichtig, sagte Kullmann. "Sie steht für die Gesellschaft höher als die vollständige Sicherstellung der privaten Gasversorgung." Der FDP-Politiker Dürr brachte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk [4] einen anderen Aspekt ins Spiel: "Wir hätten ein großes Problem, sollte die Grundstoffindustrie abgeschnitten werden." Ein Gasmangel könnte die Verbraucher direkt treffen, er denke da zum Beispiel an die Krankenhäuser, denen es an Schläuchen für die Dialyse mangeln könne. Überdies könne es zu massiven Lieferkettenproblemen kommen.

Dürr weist darauf hin, dass die Bundesregierung an der Problematik der Gasversorgung in einer Mängellage bereits arbeite; zum Beispiel mit dem Energiesicherungsgesetz und dem kürzlich geänderten Energiewirtschaftsgesetz [5], in dem es unter anderem um den Ersatz der Verstromung von Erdgas durch Kohlekraftwerke geht. Die Bundesregierung schaue sich weiter die Gesetzeslage an, sie müsste intelligent geändert werden, meint Dürr, Industrie und Verbraucher dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Rechtsgrundlage für die Gas-Priorisierung ist in Deutschland die EU-Verordnung über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung aus dem Jahr 2017 [6] (PDF), der sogenannten SoS-Verordnung. Mit ihr soll sichergestellt werden, dass alles Erforderliche getan wird, um in der gesamten EU und insbesondere für geschützte Kunden unter schwierigen klimatischen Verhältnissen oder bei Versorgungsstörungen eine unterbrechungsfreie Gasversorgung zu gewährleisten.

Als geschützte Kunden gelten vor allem Privathaushalte. Unter besonderen Voraussetzungen können bestimmte grundlegende soziale Dienste und Fernwärmeanlagen hinzugenommen werden. Die Mitgliedstaaten können "somit das Gesundheitswesen, grundlegende soziale Versorgung, Not- und Sicherheitsdienste als durch Solidarität geschützte Kunden behandeln, auch wenn diese Dienste von einer öffentlichen Verwaltung erbracht werden", heißt es in der Verordnung.

An diese SOS-Verordnung ist die Bundesnetzagentur gebunden, wenn sie "Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung" umsetzt. Diese wiederum weist heise online auf ein Papier namens " Lastverteilung Gas – Handlungsoptionen, Abwägungsentscheidung, situationsbedingtes Handeln [7] " (PDF) hin. Darin schildert die Bundesnetzagentur ihre Handlungsoptionen als Bundeslastverteiler, dessen Aufgabe sie im Falle einer Gasnotlage übernimmt, der dritten Stufe des Notfallplans Gas. Bisher gilt in Deutschland die "Alarmstufe", die zweite Stufe des dreistufigen Notfallplans.

In dem Papier vom 17. Mai 2022 schreibt die Bundesnetzagentur zum Thema der Abwägung der Versorung von Industrien, sie wolle unterscheiden, "ob ein Unternehmen zur Grundstoffindustrie gehört, ob die bei einem gasmangelbedingten Produktionsausfall fehlenden Güter importiert werden können, sowie ob und in welchem Umfang Unternehmen in Lieferketten eingebunden sind". Dazu seien umfassende wirtschaftspolitische Informationen über die Binnenverhältnisse innerhalb der Unternehmen nötig. "Diese Informationen stehen der Bundesnetzagentur derzeit nicht zur Verfügung."

Offen sei derzeit auch, ob die Zugehörigkeit eines Unternehmens zu den "Kritischen Infrastrukturen" ein geeignetes Kriterium sei, um nicht-geschützte Letztverbrauchern zu differenzieren. "Die dortige Definition ist im Interesse der IT-Sicherheit eher weit gefasst und könnte sich als Grundlage für die Gaszuteilung in der Gasmangellage als zu weit gefasst erweisen", schreibt die Bundesnetzagentur.

Chemiepräsident Kullmann hatte in dem Interview mit der Süddeutschen Zeitung auf die Frage, welche Anlagen aus seiner Sicht systemrelevant sind, keine konkrete Antwort. "Das müssen wir im Notfallplan gemeinsam festlegen, Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften." Es gehe darum, zu entscheiden, ob beispielsweise Verpackungen für Lebensmittel nicht mehr hergestellt werden oder Ad-Blue für Kfz oder Medikamente. Seiner Ansicht nach seien Teile der chemischen Industrie nicht systemrelevant. "Wir brauchen Entscheidungen, die Zeit läuft uns davon", betonte Kullmann.

Die Warnung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder vor einer "Gas-Triage" nennt der Chemie-Präsident Populismus. "In der Pandemie ging es um Leben und Tod, und wir haben alles getan, um eine Selektion in den Krankenhäusern zu vermeiden. Diesen Begriff kann ich doch jetzt nicht auf die Gas-Krise anwenden, um über Branchen und Jobs zu sprechen." Zuvor hatte Kullmann eine früher geäußerte Kritik an Robert Habeck zurückgenommen, er sei ein guter Wirtschaftsminister. "Er ist pragmatisch und handelt schnell." Söder hatte am Montag nach einer Präsidiumssitzung der CSU gesagt, es drohe "echt eine riesige Energien-Notlage, eine Art Gas-Triage, die dann kommen wird". Ein drohender "eiskalter Winter" werde Auswirkungen auf Millionen Arbeitsplätze haben.

Falls Russland nach den Wartungsarbeiten an Nord Stream 1 über die Pipeline kein Gas mehr liefern würde, würde es wohl nicht unmittelbar zu einem Gasmangel in Deutschland kommen. Aber Deutschland könnte seine Gasspeicher vor der Heizperiode nicht so weit auffüllen wie angestrebt. Zudem ist unklar, ob noch weiterhin Erdgas über die anderen Zuleitungen aus Russland nach Deutschland kommt; und nicht zuletzt die weiter steigenden Preise treiben auch Kommunen zu Überlegungen für den Fall der Fälle.

Energie einzusparen sei in der aktuellen Situation eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft, sagte die stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Städtetages, Verena Göppert, der dpa. Die Städte prüften daher aktuell viele kurzfristige Einsparmaßnahmen. Sie "lassen etwa Beleuchtungen aus, verzichten auf warmes Wasser in öffentlichen Gebäuden, schalten Brunnen ab, temperieren Klimaanlagen und Badewasser anders", sagte Göppert.

In Bremen beispielsweise soll der Gebäudebestand auf seine Möglichkeiten abgeklopft werden, etwa unter dem Gesichtspunkt, wie Turnhallen oder Schulen konkret beheizt werden. "Falls im kommenden Winter Wärmeinseln erforderlich sind, bieten die sich natürlich in Gebäuden an, die nicht mit Gas beheizt werden – sondern etwa mit Fernwärme aus der Müllverbrennungsanlage", sagte Senatssprecher Christian Dohle der Bremer Tageszeitung Weser-Kurier.

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Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebund hatte angesichts drohender Gasknappheit und hoher Energiepreise im Boulevardblatt "Bild" in Spiel gebracht, "Wärmeräume" einzurichten. "Da niemand genau sagen kann, wie dramatisch die Entwicklung sein wird, sollte auch überlegt werden, Wärmeinseln oder Wärmeräume vorzusehen, wo sich insbesondere ältere Menschen auch bei einem sehr kalten Winter aufhalten können.

Die Stadt hat für August 2022 bis April 2023 fünf mobile Heizzentralen gemietet. Diese können in einem Gasnotfall mithilfe von Öl größere Objekte wie Turnhallen beheizen. Dort könnten sich etwa bedürftige Senioren treffen, um sich aufzuwärmen. Ähnliches ist für den Landkreis Ludwigsburg geplant.

Sozialverbände machen sich nicht nur wegen drohender Energieknappheit, sondern auch wegen der hohen Kosten Sorgen. Niemand dürfe im Herbst und Winter seine Wohnung verlieren, falls die Heizkosten nicht mehr beglichen werden könnten, forderte VdK-Präsidentin Verena Bentele in der Neuen Osnabrücker Zeitung. "Deshalb muss jetzt ein Kündigungsschutz für solche Härtefälle beschlossen werden." Oberstes Ziel müsse sein, dass niemand in einer kalten Wohnung sitzen und einen öffentlichen Wärmeraum aufsuchen müsse.

Der Sozialverband Deutschland (SoVD) forderte von der Bundesregierung angesichts der hohen Energiepreise umgehend ein Konzept. "Die Sorgen und Ängste der Menschen nehmen immer mehr zu", erklärte Vizepräsidentin Ursula Engelen-Kefer. "Viele fragen sich bereits jetzt, ob sie im Winter in einer kalten Wohnung sitzen müssen oder ob sie vielleicht sogar auf der Straße landen, weil sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können." Menschen mit solch "existenziellen Ängsten" dürften nicht allein gelassen werden.

(anw [9])


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https://www.heise.de/-7169833

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/news/Nord-Stream-1-Alle-Infos-zum-Stopp-der-Gaslieferung-nach-Deutschland-7167898.html
[2] https://www.heise.de/news/Industrie-ruestet-sich-fuer-Gasstopp-Forscher-vorsichtig-optimistisch-7167721.html
[3] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/gas-preis-haushalte-chemie-industrie-krise-1.5618791?reduced=true
[4] https://www.deutschlandfunk.de/interview-mit-christian-duerr-fdp-fraktionsvors-bundestag-zu-energiedebatte-dlf-89dceb30-100.html
[5] https://www.heise.de/news/Erdgas-Verstromung-Kohlekraftwerke-duerfen-als-Ersatz-fuer-Erdgas-einspringen-7166067.html
[6] https://www.heise.de/downloads/18/3/5/7/4/4/7/8/eu-verordnung.pdf
[7] https://www.heise.de/downloads/18/3/5/7/4/4/7/8/Lastverteilung_Gas.pdf
[8] https://www.heise.de/Datenschutzerklaerung-der-Heise-Medien-GmbH-Co-KG-4860.html
[9] mailto:anw@heise.de