Urteil: Europäische Normen dürfen nicht hinter die Paywall

Wenn Normen Teil von europäischen Vorschriften sind, müssen sie frei verfügbar sein, urteilt das Gericht. Was das Urteil bedeutet.

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Sitzung in der Großen Kammer des EuGH

Sitzung in der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs (Symbolbild)

(Bild: EuGH)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Monika Ermert
Inhaltsverzeichnis

Technische Normen, die Bestandteil europäischer Verordnungen und Richtlinien sind, müssen für Unternehmen und Bürger kostenfrei zugänglich sein. Das Urheberrecht, auf das sich die europäischen Normungsorganisationen bislang beriefen, lässt eine Einschränkung nicht zu. Das hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) heute in einem mit Spannung erwarteten Urteil entschieden (C-588/21 P). Geklagt hatte der US-Aktivist und Internet-Historiker Carl Malamud, der für Transparenz und Zugangsrechte zu öffentlichen Dokumenten in Europa und den USA kämpft.

Zunehmend setzt der EU-Gesetzgeber bei der Harmonisierung im Binnenmarkt auf technische Standards. Ob NIS2, eIDAS oder die von Malamud für die Musterklage ausgewählte Richtlinie über die Sicherheit von Spielzeug (009/48/EG) – letztlich sind es die so genannten harmonisierten technischen Normen, die die Umsetzung spezifizieren.

Darf aber ein solcher genuiner Bestandteil eines Gesetzestextes nicht oder nur gegen Entgelt öffentlich zugänglich sein?

Malamuds Organisation PublicResource.org und ihre irische Schwesterorganisation Right to Know bestreiten genau dies. Sie beantragten zunächst bei der Europäischen Kommission den Zugang zu den vier Normen. Gegen den ablehnenden Bescheid der Kommission klagten sie im Jahr 2019.

In erster Instanz gab das Europäische Gericht der Kommission, dem Europäischen Komitee für Normung (CEN) und den 13 am Verfahren beteiligten Normungsorganisationen, darunter das DIN, Recht. Es entschied, dass ein freier Zugang das Urheberrecht der Normungsorganisationen verletze und ihre Finanzierung gefährde. Damit hat sich das Gericht über eine frühere Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hinweggesetzt, in der klar anerkannt wurde, dass solche Normen Teil des Unionsrechts sind.

Dem Europäische Gericht hat die Große Kammer des EuGH nun klar widersprochen und festgestellt, "dass die beantragten harmonisierten Normen Teil des Unionsrechts sind". Insgesamt folgte die Kammer den Empfehlungen der Generalanwältin Laila Medina, wonach Rechtsstaatlichkeit auch den freien Zugang zum geltenden Recht für jedermann erfordere. Nur so könne der Einzelne seine Rechte und Pflichten klar erkennen, hieß es.

Nicht nur Unternehmen, die sich an Normen halten müssen oder sich in ihrem Handeln daran messen lassen müssen, müssen Zugang haben. Auch der durch das Gesetz geschützte Bürger müsse die Möglichkeit haben, "im Rahmen des rechtlich Zulässigen zu überprüfen, ob die Adressaten der vom Gesetz aufgestellten Regeln diese auch tatsächlich einhalten".

Das Luxemburger Urteil bleibt indessen in der Frage des Urheberrechtsschutzes für harmonisierte technische Normen schmallippig. Kommission und Gerichtshof hatten in den Vorverfahren die Argumente von Malamud und seinen Mitklägern zurückgewiesen, wonach es einerseits an der Werkqualität fehle, die Organisationen selbst keine "Urheber" seien und jedenfalls das Urheberrecht hinter dem Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zum Recht zurücktreten müsse.

Während die Pressestelle des EuGH in ihrer Pressemitteilung zum heutigen Urteil noch einmal auf das Urheberrecht als mögliche Ausnahme vom Zugangsrecht hinweist, äußert sich das Gericht im Urteil selbst nicht dazu. Wie die höchstrichterliche Entscheidung in dieser Frage interpretiert wird, könnte für die weitere Wirkung entscheidend sein.

Auch wenn das Urteil die harmonisierenden technischen Normen ein für alle Mal als Teil des Unionsrechts und ihre Erstellung als "delegierten Rechtsakt" bezeichnet: Möglicherweise sehen die europäischen und nationalen Normungsorganisationen hier ein kleines Fenster für eine neue Klage. Das DIN warnte nach den Empfehlungen der Generalanwältin im vergangenen Sommer davor, dass der bestehende und gut funktionierende europäische Normungsprozess durch ein entsprechendes Urteil gefährdet würde.

Die Wirtschaftskanzlei Morrison Foerster, die Malamud und seine Partner vertritt, zeigt sich überzeugt, dass das heutige Urteil "weit über den konkreten Rechtsstreit hinaus große Auswirkungen haben wird". Die EU-Kommission müsse nun freien Zugang zu allen harmonisierten Normen gewähren, schreibt die Kanzlei in ihrer Pressemitteilung.

Dies erfordere "eine völlige Neuordnung des europäischen Normungssystems". Die europäischen Normungsorganisationen, aber auch nationale Organisationen wie das DIN in Deutschland, könnten künftig von Unternehmen und Privatpersonen nicht mehr verlangen, harmonisierte Normen für viel Geld zu kaufen.

(mki)