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Fahrbericht: Nio ES8

Wolfgang Gomoll
Nio ES8

Ein E-SUV mit reichlich Leistung und viel Platz fĂŒr vergleichsweise wenig Geld: Der Nio ES8 ist kein ferner Appetitanreger, sondern ein kĂ€ufliches Serienmodell, wenn zunĂ€chst auch nur in China. Eine erste Ausfahrt zeigt: Das Auto hat gute Chancen

Nio? Wer sich nicht gerade intensiv mit der chinesischen Automobilindustrie beschĂ€ftigt, hat von der 2014 gegrĂŒndeten Firma möglicherweise noch nie etwas gehört. Doch der aktuelle Umbruch im Bereich Antrieb könnte dazu fĂŒhren, dass auch Marken ohne lange Tradition eine Chance bekommen. Nio versucht es mit einem besonderen Elektroauto-Konzept, bei dem die Batterien schnell ausgetauscht werden können. Eine erste kurze Ausfahrt mit dem Nio ES8 zeigt indes auch, dass es fĂŒr die Firma noch etwas zu tun gibt.

Die Idee des Batteriewechsels bei einem Elektromobil ist nicht neu. Shai Aggassi hat mit diesem Konzept vor einigen Jahren mit „Better Place“ eine veritable Bruchlandung hingelegt [1]. „Das Problem war, dass das Auto auf dem Boden stand und deswegen die Ausrichtung und Fixierung der Batterie sehr schwierig war“, sagt Nio-Manager Shen Feng. Die Chinesen haben ihre Lehren aus dem Scheitern des Israelis gezogen und heben das Fahrzeug auf einer HebebĂŒhne an, ehe der Tausch der 70-kWh-Batterie automatisch erfolgt – und zwar in 3:27 Minuten. Mit Ein- und Ausfahren des Fahrzeugs in die kleine „Tankgarage“ sollen es immer noch weniger als zehn Minuten sein. Sehr viel schneller geht das Tanken von Benzin auch nicht. So bekommt der Nio ES8 recht zĂŒgig bis zu 355 Kilometer Reichweite spendiert.

Fahrbericht: Nio ES8 (0 Bilder) [2]

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Pro Ladestation werden fĂŒnf Lithium-Ionen-Batterie-Pakete vorgehalten, die jeweils innerhalb von einer Stunde wieder aufgeladen sind. Das System funktioniert offenbar: Entlang der G4-Autobahn sind bereits 18 Wechselstationen installiert. Sie sind hauptsĂ€chlich fĂŒr die Hauptverkehrsadern vorgesehen, in den StĂ€dten soll der ES8 ganz normal an Wallboxen oder konventionellen Ladestationen laden. Bis zum Jahr 2020 sollen 1100 Wechselstationen aktiv sein. Nio hat seit Juni dieses Jahres ĂŒber 8000 ES8 auf dem Heimatmarkt verkauft.

Wie in vielen E-Autos stimmen die gewohnten Koordinaten, die ein GefĂŒhl fĂŒr Geschwindigkeit vermitteln, im direkten Umstieg aus einem Auto mit Verbrennungsmotor nicht mehr. Das gilt fĂŒr einen Renault Zoe (Test) [4] wie fĂŒr einen VW e-Golf (Test) [5], doch im Nio ES8 gilt es noch etwas mehr. Die beiden E-Motoren leisten zusammen 480 kW und bieten 840 Nm Drehmoment. Trotz eines Leergewichtes von rund 2,5 Tonnen legt das SUV damit bei Bedarf rasant an Tempo zu, ohne seine Insassen mit spĂŒrbaren Gangwechseln oder gar LĂ€rm zu behelligen. Die aktuelle Geschwindigkeit behĂ€lt man dabei besser gut im Blick, denn schon vermeintlich sanftes Beschleunigen lĂ€sst die meisten anderen Verkehrsteilnehmer weit zurĂŒck. Nio verspricht 4,4 Sekunden im Standardsprint und 200 km/h Höchstgeschwindigkeit. „Offiziell“ wie die Nio-Techniker mit einem feinen LĂ€cheln bemerken.

Verschiedene Fahrprogrammen sollen den ES8 an die jeweilige Situation anpassen. Neben Eco und einer individuellen Abstimmung stehen noch Normal und Sport zur Auswahl. Bei diesem Dynamik-Modus senkt sich die Karosserie des SUVs um fĂŒnf Zentimeter ab und auch die Lenkung verhĂ€rtet sich, um bei hohen Geschwindigkeiten StabilitĂ€t zu suggerieren. Doch sobald es um die Ecke geht, agiert der 2,5-Tonnen-Koloss trotz Allradantriebs nicht mehr ganz so souverĂ€n. Das Gewicht des SUV drĂ€ngt schnell zum Kurvenrand, die Reifen quietschen und das ESP greift so erbarmungslos ein, dass ein Tritt auf das Gaspedal ohne Folgen bleibt. Herausbeschleunigen ist so nicht möglich. Der fahrdynamische Feinschliff fehlt noch beim ES8.

Das fĂ€llt auch bei der Rekuperation auf. WĂ€hrend bei anderen E-Autos wie dem Kia e-Niro (Test) [6] die RĂŒckgewinnungsstufe mit Wippen am Lenkrad flink eingestellt ist, muss man beim ES8 das Ganze ĂŒber den Infotainment-Bildschirm definieren. Ein echtes One-Pedal-GefĂŒhlt stellt sich aber auch bei der stĂ€rkeren der beiden Alternativen nicht ein. Hier wĂŒrden wir uns eine stĂ€rkere Rekuperation wĂŒnschen.

Das Fahrwerk kommt von Continental und gleicht die meisten Bodenunebenheiten gut aus, mit schnell aufeinanderfolgende Querfugen kommt es dagegen nur mĂ€ĂŸig klar. Die Lenkung ist zwar direkt, lĂ€sst aber den Fahrer ĂŒber den Zustand des Untergrunds und das aktuellen Grip-Niveau weitestgehend im Unklaren. Allerdings muss hier fairerweise erwĂ€hnt werden, dass der Nio ES8 fĂŒr China konzipiert ist und dort Kurvendynamik nicht ganz oben auf dem Lastenheft steht. FĂŒr die europĂ€ische Variante, die ebenfalls geplant ist, sollten die Techniker dann aber eine andere Abstimmung wĂ€hlen.

Die Bedienung lĂ€uft nahezu komplett ĂŒber einen Touchscreen. Die Grafik und die MenĂŒfĂŒhrung ist, soweit man das anhand der chinesischen Schriftzeichen nachvollziehen kann, eher einfach gehalten. Ein witziges Detail ist Nomi. Eine Art chinesisches Siri [7], die sich mit den Insassen unterhĂ€lt, auf Wunsch beziehungsweise Sprachbefehl, unter anderem die Fenster runterfĂ€hrt, die Massagesitze aktiviert oder die Lieblingsmusik der Passagiere einspielt. Dabei schaut die kleine Kugel immer in die Richtung des Sprechenden, lĂ€chelt und winkt sogar zum Abschied.

Materialien und Verarbeitung machen keinen schlechten Eindruck, wenngleich es von dem, was beispielsweise ein DS7 (Test) [8] oder ein Mercedes GLC (Test) [9] bietet, noch ein StĂŒck weit entfernt bleibt. Einige Passungen und Fugen sind noch nicht ganz gleichmĂ€ĂŸig. Es fehlt offenbar noch ein wenig an einer konstanten ProduktqualitĂ€t, denn andere Testwagen sahen besser aus. Gehobene Erwartungen weckt Nio selber, denn der ES8 ist kein Billigheimer, wenn er auch im direkten Vergleich gĂŒnstig erscheint. Doch der Nio ES8 kostet rund 448.000 Chinesische Yuan, was derzeit etwa 57.200 Euro entspricht. Wenn man die Batterien fĂŒr umgerechnet rund 165 Euro pro Monat mietet, sind es knapp 13.000 Euro weniger.

So oder so: Der Nio ES8 ist damit erheblich gĂŒnstiger als ein Jaguar i-Pace (Test) [10] oder ein Mercedes EQC 400 [11]. Die mögen technisch im Detail wesentlich ausgefeilter sein, doch der ES8 hat durchaus die Chance, auch in Europa mehr als nur ein Nischenprodukt zu werden. Das könnte schneller gehen, als europĂ€ischen Herstellern lieb ist. Mit dem Nio ES8 ist spĂ€testens im Jahr 2020 auf dem hiesigen Markt zu rechnen – nicht als ferner Appetitanreger, sondern als kĂ€ufliches Serienmodell. Die europĂ€ischen Hersteller werden darauf reagieren mĂŒssen, andernfalls sagt ihr guter Markennamen bald nur noch interessierten Autohistorikern etwas. (imp)


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[1] https://www.heise.de/news/Warum-scheiterte-E-Auto-Start-Up-Better-Place-3351380.html
[2] https://www.heise.de/bilderstrecke/4746326.html?back=4252072;back=4252072
[3] https://www.heise.de/bilderstrecke/4746326.html?back=4252072;back=4252072
[4] https://www.heise.de/news/Fahrbericht-Renault-Zoe-R110-4118617.html
[5] https://www.heise.de/news/Der-VW-e-Golf-im-Test-3774086.html
[6] https://www.heise.de/news/Fahrbericht-Kia-e-Niro-4242632.html
[7] https://www.heise.de/thema/Siri
[8] https://www.heise.de/tests/Test-DS7-Crossback-4021926.html
[9] https://www.heise.de/news/Im-Test-Mercedes-GLC-250-3239842.html
[10] https://www.heise.de/news/Fahrbericht-Jaguar-I-Pace-4115434.html
[11] https://www.heise.de/news/Vorstellung-Mercedes-EQC-400-4154688.html