Gaia-X in der Unternehmerdiskussion: Tolle Vision, wann kommt die Realität?
Die europäische Cloud hätte das Zeug zum Goldstandard, steht aber oft in der Kritik. Eine Diskussion zeigt: Das Ziel stimmt, doch es muss jetzt konkret werden.
- Silke Hahn
Wie steht es um das Projekt einer europäischen Cloud, Gaia-X? Geht die Initiative inzwischen über einen politischen Think-Tank hinaus, und wie stehen beteiligte Unternehmer zu dem Projekt? Inwieweit werden ihre Anliegen und Bedürfnisse im bestehenden Rahmen berücksichtigt? Gaia-X könnte ein Goldstandard für internationale Datenbeziehungen werden – scheint aber gleichzeitig nicht richtig durchstarten zu können.
Die beiden Pole zwischen Vision und Realität diskutierte jüngst die deutsch-amerikanische Gesprächsrunde Transatlantic AI eXchange in der Ausgabe vom 25. Januar 2022. Gerade die teilweise umstrittenen internationalen Partnerschaften der Initiative waren ein Thema, aber auch die Frage, wie realistisch eine konkrete Implementierung und hervorragende Ergebnisse aus Gaia-X heraus zurzeit sind.
Am virtuellen Runden Tisch trafen Vertreter aus Politik, Wirtschaft und KI-Forschung zusammen, die am Gaia-X-Projekt beteiligt sind: Marco-Alexander Breit (Leiter des Arbeitsstab Künstliche Intelligenz und Digitale Technologien im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz), Dr. Markus Leberecht (Manager in der Cloudsparte bei Intel Deutschland), Robin Röhm (CEO Apheris) und Jonas Andrulis (CEO Aleph Alpha). Alle vier brachten teils komplementäre, teils kontroverse Standpunkte ein. Thomas Neubert von Intel USA, der das transatlantische Gesprächsformat mitbegründet hatte, moderierte den englischsprachigen Austausch und steuerte durch seine Fragen eine amerikanische, gelegentlich provokante Perspektive bei.
Technische Lösungen für ein politisches Problem
Als Leitfrage stand im Raum, ob es nicht bereits zu spät sei, eine Public Cloud in Europa aufzubauen, und eingangs skizzierte der Leiter des im Wirtschaftsministerium verankerten Arbeitsstab KI dem Panel die Kernanliegen des Gaia-X-Projekts. Marco-Alexander Breit begleitet Gaia-X bereits seit der bilateralen französisch-deutschen Geburtsstunde, das Ziel formulierte er als "technische Lösungen für ein politisches Problem zu bieten, nämlich Datensouveränität und die sichere Verfügbarkeit von Daten für Europa herzustellen". Gaia-X ist eine von Unternehmen getragene, nicht gewinnorientierte Organisation, die in Brüssel verankert ist und insbesondere auch KMUs in Europa zugutekommt.
Soweit also die Vision. Folglich sei das Ziel kein Wettlauf mit den Hyperscalern in den USA und in Asien, sondern das Etablieren eines Regelwerks für die weltumspannenden Datenbeziehungen. Vertrauen und Zugänglichkeit seien grundlegend, um an Datenräumen – genannt Data Spaces – teilzuhaben. Gaia-X ist laut Breit Grundlagenarbeit für die kommenden zwei bis drei Jahrzehnte, ein einheitliches Regelwerk steht aber noch aus.
Unternehmer stehen Gaia-X mit gemischten GefĂĽhlen gegenĂĽber
Das überwiegend mit Unternehmern besetzte Panel signalisierte große Übereinstimmung mit den Zielen und Anliegen des Projekts, bezog allerdings zum Zeithorizont sowie zum starken Fokus auf die Regulierungsseite teils kritisch Stellung. Einerseits seien Standards dringend notwendig in einer kommerziellen Umgebung, so Robin Röhm, der das Tech-Unternehmen Apheris leitet. Sein Unternehmen bietet Organisationen eine Plattform für datenschutzkonforme Zusammenarbeit an sensiblen sowie dezentralisierten Daten und Künstlicher Intelligenz. Gaia-X ist aus seiner Sicht manchmal die richtige Plattform, manchmal nicht. Apheris ist seinem CEO zufolge eine industrieagnostische Plattform, deren Kunden hauptsächlich aus dem Pharma- und Gesundheitsbereich sowie der Fertigungsindustrie kommen. Aufgrund der zahlreichen Stakeholder und vielen Interessen fanden er und sein Start-up es offenbar bislang eher schwierig, Nutzen aus Gaia-X zu ziehen. Falls das geplante Ökosystem so groß werde wie die Vision, und falls es sich dann intuitiv nutzen lasse, werde es wirtschaftliche Chancen eröffnen. Die Initiative schätzt er bisher allerdings als zu langsam ein und wünscht sich einen stärkeren Fokus sowie einen zielgerichteteren Einsatz der Ressourcen, da Unternehmer ihre Projekte auch zeitnah aufs Rollfeld bringen und abheben lassen müssten.
Jonas Andrulis, dessen Machine-Learning-Unternehmen Aleph Alpha als Pionier in Europa gilt und der bei OpenGPT-X die grundlegenden KI-Modelle beisteuert, schlug in eine ähnliche Kerbe. Skalierbare Technologie von Weltklasse und Einhörner entstünden nur in der Offensive. Primär müsse es darum gehen, etwas technisch Einzigartiges auf die Beine zu stellen. Erfolgreich sei Gaia-X dann, wenn es den Beteiligten die Möglichkeit gebe, zu handeln und die Zukunft aktiv zu gestalten. Die neuen, sehr großen Weltmodelle in der KI werden ihm zufolge unsere Zukunft formen und Europa benötige hier eigene Kompetenz, um etwas zu bewegen. Für Andrulis ist europäische Souveränität in der Technologie dabei wesentlich. "In Deutschland haben wir eine Kultur der Risikovermeidung", merkt der Unternehmer an. Mut werde im gesellschaftlichen Kontext kaum belohnt. Zurzeit werbe er aus den USA Mitarbeiter nach Heidelberg ab, die teils nur ausgewandert seien, weil ihnen vor Ort die mutigen, spannenden Projekte fehlten.
Goldstandard für Datenbeziehungen und Datensouveränität
Dr. Markus Leberecht, der für Intel Deutschland die Stimme der Technologie-Provider im Panel vertrat und dessen Arbeitgeber ein Mitglied der ersten Stunde bei Gaia-X ist, wünschte sich vor allem mehr Input von der Infrastrukturseite, also mehr Beteiligung von den Technischen Universitäten. "Manche dieser Technologien sind so frisch, dass der akademische Input hierbei unverzichtlich ist. Er wird aber durchaus gegeben durch entsprechende akademische Mitglieder in Gaia-X und in konkreten Datenraumumsetzungen", konkretisierte er seine Vorstellungen. Er mahnte an, dass Gaia-X mehr sein müsse als ein Think-Tank. Was zählt, seien der Output und die konkrete Implementierung. Die größte Herausforderung sieht er darin, greifbare Ergebnisse in kurzer Zeit zu bewerkstelligen. Gaia-X betritt ihm zufolge teilweise Neuland bei der Föderierung der Infrastruktur wie auch bei den Datenräumen. Funktionen, die eher noch aus dem Bleeding Edge stammen, müssten in großem Maßstab integriert werden. "Meine naive Hoffnung ist Datensouveränität, basierend auf Datenschutz", fasste er seine Vision für Gaia-X zusammen.
Das von Thomas Neubert (Intel USA) und AI.Hamburg gegründete Eventformat hat das Ziel, eine transatlantische Brücke zwischen den USA und Deutschland zu schlagen für engere Partnerschaften sowie Austausch zwischen Unternehmen, Investoren und Forschungseinrichtungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Transatlantische Themenvorschläge zur Human-Machine-Economy für künftige Webinare, Events und Konferenzen sind dort gern gesehen.
Schlaglichter aus dem Arbeitsstab KĂĽnstliche Intelligenz und Digitale Technologien sind beim BMWi abrufbar. Das Ministerium bietet auch weiterfĂĽhrende Informationen zu Gaia-X und der Anwenderseite des Ă–kosystems. Wer sich fĂĽr eine Teilnahme an Gaia-X interessiert, kann sich auf der Website der Initiative umsehen.
Alle Panelisten sind über die Veranstaltungswebsite verlinkt. Wer sich mit dem Transatlantic AI eXchange verknüpfen oder einfach auf dem Laufenden bleiben möchte über künftige Events, kann den Veranstaltern auf Linked-in folgen.
Marco-Alexander Breit hob hervor, dass Investitionen privater Anbieterunternehmen für ein innovatives Ökosystem für Start-ups und Scale-ups entscheidend seien. So sei es in Europa verhältnismäßig schwierig, von Familien-Offices Wagniskapital in der erforderlichen Höhe zu erhalten, was für das Offensivspiel aber entscheidend sei. Er beschrieb Regulierung als Defensivlinie: Die Unternehmen bräuchten einen Rahmen, innerhalb dessen sie sich frei bewegen könnten, aber die Regulierung dürfe ihnen auch nicht die Luft abschnüren. Auf der Offensivlinie brauche es Innovationen, und Gaia-X sei Teil dieses "Innovations-Puzzles". Breit verbindet mit Gaia-X vier Ziele, von denen er zwei bereits als verwirklicht ansieht: Der Wechsel von der politischen Initiative in unternehmerische Hand sei geglückt und die unternehmensgetriebene Steuerung des Gaia-X-Projekts war ein wichtiges Ziel. Bis Ende 2022 sollten die an der Initiative beteiligten Unternehmen auch wirtschaftlich etwas davon haben, damit Gaia-X als Erfolg gelten könne. Wenn in fünf Jahren die meisten Datenbeziehungen und die Datenverfügbarkeit durch Gaia-X gesichert seien, sei ein Meilenstein erreicht. Gaia-X solle langfristig zum Goldstandard für Datenbeziehungen werden, damit Unternehmen wie Aleph Alpha florieren können.
Mittlerweile beteiligen sich zunehmend internationale Partner in Hubs an Gaia-X (siehe Abb. 3). Auf nationaler Ebene koordinieren Mittelleute diese Zusammenarbeit, und alternativ bestehen einzelne Partnerschaften mit Unternehmen, deren Länder keinen Hub bilden. Interessanterweise ist inzwischen Südkorea als Länderhub mit von der Partie, während die USA nicht als Ganzes kooperieren, dafür aber Unternehmen wie Microsoft, Google, Intel und Amazon als Partner im Projekt vertreten sind. Japan sei Breit zufolge grundsätzlich interessiert, und man sei auch mit anderen potenziellen Partnern im Gespräch. Für Deutschland koordiniert Peter Kraemer von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) den nationalen Gaia-X-Hub, im Nachgang des Panels beantwortete er gegenüber Heise vertiefende Fragen. Kraemer ist seit zweieinhalb Jahren zuständig, seine Kernaufgabe beschreibt er als das Vernetzen von Akteuren.
Deutscher Gaia-X-Hub und föderierter Think-Tank
Föderierte Strukturen seien auf der Ebene des Think-Tank notwendig, da in der EU Industrie, Innovationslandschaft, Gesetzgebung, Sprache und Kultur von Land zu Land unterschiedlich seien. Die länderspezifischen Hubs stellen Communities dar, die die Nutzer im Blick haben und in ihre jeweiligen Ökosystems hineinkommunizieren, um Gaia-X sichtbar und bekannter zu machen. Die Länder-Hubs dienen der Kommunikation nach innen und außen. Von einer zentral verwalteten Struktur könne man das nicht erwarten, da beispielsweise in Deutschland viele verschiedene Akteure der Privatwirtschaft, der Forschungslandschaft sowie der politischen Ebenen vom Bund bis zu kommunalen Strukturen beteiligt seien. Wesentlich ist auch für Kraemer die Frage, wie sich mithilfe von Gaia-X Geschäftsmodelle entwickeln und Mehrwerte schaffen lassen.
Das Ziel von Gaia-X ist laut ihm eine anwendungsagnostische Technologie, um in der Datenökonomie Win-Win-Situationen für Anwender und Anbieter zu schaffen. Datenökonomie hört dabei nicht an der EU-Außengrenze auf, daher bestehe die übergeordnete Vision, auch außereuropäische Partner für gemeinsame Rahmenbedingungen und Standards des souveränen, transparenten und sicheren Datenaustauschs zu gewinnen. Für 2022 ist eine Kommunikationsoffensive geplant, die die Anwendungsseite im Blick hat und deren Ziel es ist – überspitzt formuliert – "dem Maschinenbauer in Ostwestfalen-Lippe zu erklären, was ihm Gaia-X konkret bringt".
Livegang der Federation Services fĂĽr April 2022 geplant
Kraemer zufolge steht demnächst ein Kulminationspunkt aller Gaia-X-Bestrebungen der vergangenen zweieinhalb Jahre bevor: Im April 2022 sollen die ersten Lines of Code der Federation Services veröffentlicht werden, und ab dem Zeitpunkt könnten alle Interessierten "das Betriebssystem" von Gaia-X ausprobieren. Letztlich liege es dann an den Akteuren, die die Initiative miteinander vernetzt, herauszufinden, was man mit Gaia-X anstellen könne, so Kraemer. Ihr Vorhandensein werde Unternehmen nicht von der Verantwortung entbinden, Entwicklungen im eigenen Ökosystem vorzunehmen.
Möglicherweise bringt der Livegang der Federation Services der Initiative den gewünschten Schwung, um bald abzuheben. Insgesamt hatte sich beim Transatlantik-Gespräch ein gemischtes Stimmungsbild der Panelisten abgezeichnet: Der Mission und den Anliegen von Gaia-X stimmen sie eindeutig zu. Allerdings scheint zwischen der Vision und der von Unternehmern erlebten Realität noch eine gewisse Lücke zu klaffen.
(sih)