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Geheimakte BND & NSA: Achtung, Freund hört mit

Stefan Krempl
Geheimakte BND & NSA: Achtung, Freund hört mit

Breiten Raum im NSA-Ausschuss nahm der Selektoren-Streit ein: Angefangen hatte alles mit der Enthüllung, dass die NSA den BND jahrelang unterwandert und ihm Suchbegriffe für die Überwachung untergejubelt hatte, die deutschen Interessen widersprachen.

Das Wort Selektor hat erst der NSA-Untersuchungsausschuss einer größeren Fachöffentlichkeit bekannt gemacht. Dahinter verbirgt sich das Schlüsselelement der modernen technischen Telekommunikations- und Funkaufklärung alias Sigint (Signal Intelligence). Denn selbst höchst leistungsfähige Geheimdienste wie die NSA können nicht auf Dauer die gesamten weltweiten Kommunikationsströme speichern, die elektronisch übertragen werden und damit prinzipiell abfangbar sind.

Nötig sind also Selektionsmerkmale in Form von Telefonnummern, IP- und E-Mail-Adressen, sonstiger Kennungen oder inhaltlicher Suchbegriffe, mit denen bestimmte Ziele angesteuert und deren Kommunikationsstränge herausgepickt werden sollen. Was nicht in diesem Sieb hängen bleibt, wandert in den virtuellen Orkus und wird nicht weiter bearbeitet. Selektoren sind damit Grundbestandteil im Werkzeugkasten jeder Spionagebehörde mit Schwerpunkt technischer Aufklärung.

Unerlässlich sind Zielvorgaben als Suchmerkmale bei der bereits geschilderten "strategischen Fernmeldeüberwachung", da hier von vornherein nur spezielle, zu den Selektoren passende Kommunikation eingefangen werden soll. Was in die Schablone passt, wird genauer analysiert, der Rest verworfen. So soll der Heuhaufen, in dem die Nadel in Form etwa eines potenziellen Terroristen zu finden ist, nicht größer und undurchdringlicher werden als unbedingt nötig.

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Geheimakte NSA-Ausschuss

Der NSA-Ausschuss des Bundestags beleuchtet seit 2014 die Überwachungspraxis vor allem der deutschen Geheimdienste und macht dabei auch die Verschleierungsversuche der Regierung deutlich. heise online blickt in einer ausführlichen Serie zurück.

Die einzelnen Kapitel erscheinen im Wochenrhythmus und zwar in der folgenden Gliederung:

Selektoren lassen sich aber auch einfach dazu missbrauchen, Schindluder zu treiben und weitgehend unverdächtige Personen oder Institutionen in die Überwachung einzubeziehen. Genau dies war das Vorzeichen, unter dem die Auswahlkriterien für konkrete Beschattungen Ende April 2015 mit voller Wucht im NSA-Ausschuss einschlugen. Spiegel Online berichtete an diesem Donnerstag just während einer öffentlichen Sitzung des Gremiums, dass der BND nicht nur weitgehend ungeprüft rund eine Million Selektoren für die strategische Funkaufklärung in Bad Aibling sowie für die Netzspionage im Rahmen der Operation Eikonal einfach von seinem US-Partner übernommen habe [12]. Bis zu 40.000 dieser Zielvorgaben sollen demnach sogar gegen "deutsche Interessen" verstoßen und etwa auf engste europäische Verbündete gerichtet gewesen sein.

Nach Beginn der Snowden-Enthüllungen soll sich eine BND-Abteilung im Sommer 2013 erstmals gezielt mit den NSA-Suchbegriffen auseinandergesetzt haben, hieß es damals. In einem ersten Zwischenergebnis sei von rund 2000 Selektoren die Rede gewesen, die es eindeutig auf die "Falschen" in Form von "Freunden" abgesehen gehabt hätten, obwohl sich die Kanzlerin direkt gegen solche Maßnahmen ausgesprochen hatte. Das wahre Ausmaß des Skandals sei aber erst aufgrund eines Beweisantrags des Untersuchungsausschusses bekannt geworden.

Die für das parlamentarische Gremium zuständige Projektgruppe des BND prüfte die NSA-Selektoren demnach erneut und fand Zehntausende rechtswidrige Kennungen und Suchworte. So seien etwa Politiker oder Diplomaten gezielt und unrechtmäßig ausspioniert worden. Den Fund meldete der BND laut dem Bericht noch nicht an das Kanzleramt. Stattdessen bat der zuständige Unterabteilungsleiter nur die NSA, derartige Verstöße künftig zu unterlassen. Erst im März 2015 soll die Regierungszentrale über das Resultat unterrichtet worden sein. Weitere Überprüfungen liefen noch.

Dieter Urmann, vormals Leiter der Abteilung Technische Aufklärung beim BND, hatte just ebenfalls im März 2015 im Ausschuss öffentlich eingeräumt [13], dass es bei Eikonal und der Satellitenaufklärung nicht nur um Terrorismus oder Waffenhandel gegangen ist. Er bestätigte, dass es die NSA bei der Zusammenarbeit etwa auch auf die mittlerweile zu Airbus gehörenden Rüstungsfirmen "EADS" und "Eurocopter" sowie auf "französische Behörden" abgesehen hatte und daher die Gefahr von Wirtschaftsspionage intern diskutiert wurde. Dabei sei im "Memorandum of Agreement" (MoA) mit dem US-Geheimdienst von vornherein festgelegt worden, "dass keine deutschen Staatsbürger oder Firmen ausgewählt werden sollten".

Der brisante Fund sei auch dem damaligen BND-Präsidenten Ernst Uhrlau vorgetragen worden, berichtete Urmann in seiner zweiten Vernehmung im April 2016. "Mit den Amerikanern" in Bad Aibling und dem dortigen "Chief of Station" habe man ebenfalls geredet. Von der NSA-Seite seien aber nur die "üblichen Antworten" gekommen, dass es sich offenbar um einen "Bürofehler" [14] gehandelt habe.

Zuvor hatte der BND-Techniker T. B. schon im November 2014 als "rein theoretisches Beispiel" den Wunsch der US-Seite ins Spiel gebracht, EADS zu beschatten. Viele Überwachungsziele habe zu seiner Dienstzeit in Bad Aibling die US-Seite vorgegeben, ließ der Agent bereits damals durchblicken. Das Verhältnis zwischen US-amerikanischen und deutschen Selektoren habe bei 4:1 gelegen. Dabei habe es "fast immer zu beanstandende" Vorgaben von jenseits des Atlantiks gegeben. Diese hätten sich aber "im Promillebereich" bewegt und seien von vornherein ausgemerzt worden, wenn sie deutschen Interessen widersprachen.

Letztlich unterwanderte die NSA den BND trotz anderslautender Versicherungen mit den "faulen" Selektoren im großen Stil. Dabei hatte es von Seiten der deutschen Spione doch immer geheißen, dass trotz der Kooperation insbesondere Bad Aibling keine "Zweigstelle" des großen US-Bruders sei. "Wir holen aktiv von amerikanischen Servern drei- bis viermal am Tag Selektoren ab", hatte der Chef des Horchpostens, R. U., im September 2014 dargelegt [15]. Diese würden dann aber in der Zentrale auf den Schutz des Fernmeldegeheimnisses von Bundesbürgern und weitere politische Interessen hin überprüft, meinte er, und erst "dann bei uns in die Erfassungssysteme eingestellt".

Die Enthüllung, dass die NSA dem BND rechtswidrige Überwachungsziele unterjubelte und der Geheimdienst das lange unter den Teppich kehrte, erschütterte das politische Berlin zunächst. "Das ist ein Spionageskandal, der seinesgleichen sucht", erklärte Martina Renner, Obfrau der Linken im Untersuchungsausschuss. Sie forderte den damaligen BND-Präsident Gerhard Schindler zum Rücktritt auf.

Zu den Vorgängen habe es mehrere parlamentarische Anfragen gegeben, ohne dass sich die Bundesregierung dazu hinreichend erklärt hätte, konstatierte Renner. Es stehe auch der Verdacht im Raum, dass Zeugen im NSA-Ausschuss "nicht vollständig die Wahrheit wiedergegeben haben".

Hans-Christian Ströbele von den Grünen sprach von einem "unglaublichen" Vorgang mit "großem Schaden für die Demokratie". Es sei nun klar, dass "das ganze Parlament systematisch belogen worden" sei. Dies müsse "letztlich personelle Konsequenzen haben, sowohl im Bundesnachrichtendienst als auch im Bundeskanzleramt". Die Glaubwürdigkeit beider Einrichtungen stehe in Zweifel.

Das Kanzleramt sei spätestens nach einer ersten internen BND-Untersuchung 2005 "bösgläubig" gewesen, ergänzte Konstantin von Notz von den Grünen. Wir seien nun an einer Hausnummer angekommen, an der sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklären müsse. Von Notz forderte zudem die Regierung auf, den Abgeordneten rasch die Selektorenliste zugänglich zu machen.

Der Ausschussvorsitzende Patrick Sensburg (CDU) wollte dagegen noch keinen Nachweis erbracht sehen, dass der BND und die NSA bewusst "gegen deutsche Interessen zusammengearbeitet haben". Es seien aber in die BND-Überwachungssysteme Selektoren eingestellt worden, die entsprechend der Vereinbarung nicht dort hätten landen dürfen.

Für den SPD-Obmann Christian Flisek hatten die Anschuldigungen "Gewicht". Sie verwiesen auf ein potenzielles Versagen der Organisation beim BND, der Aufsicht durch das Kanzleramt und der parlamentarischen Kontrolle: "Das ist ziemlich starker Tobak", zeigte sich der Sozialdemokrat schockiert. Beim BND sei die Angelegenheit aber offenbar auf unterer Ebene abgeschirmt worden.

Auch im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr), das eigentlich für die Aufsicht der Geheimdienste zuständig ist, sorgt der Fall für mehr als Stirnrunzeln. Das CDU-Mitglied Clemens Binninger bezeichnete den Vorwurf als "sehr schwerwiegend". Eventuell hätten Mechanismen versagt, die dafür sorgen sollten, "dass nicht illegal abgehört wird".

Die Bundesregierung teilte mit, dass das Kanzleramt im Rahmen seiner Dienst- und Fachaufsicht über den BND dort "technische und organisatorische Defizite identifiziert" habe. Der Dienst sei unverzüglich angewiesen worden, diese zu beheben. Nach wie vor gebe es "keine Hinweise auf eine massenhafte Ausspähung deutscher und europäischer Staatsbürger". Die Regierungszentrale prüfe trotzdem, "ob die Antworten auf die zu diesem Sachverhalt gestellten parlamentarischen Fragen weiterhin uneingeschränkt Bestand haben".

Albert Karl, Leiter des Referats 603 des Kanzleramts, das für die Fach- und Dienstaufsicht der Geheimdienste zuständig ist, tat im Untersuchungsausschuss im Herbst 2016 kund, dass die dortige Mitarbeiterzahl inzwischen von fünf auf sieben aufgestockt worden sei [16]. Diese sollen nun rund 6500 BND-Angestellten auf die Finger schauen. Die These einzelner Abgeordnete, dass die Selektorenaffäre nicht nur beim BND, sondern auch im Kanzleramt organisatorische Defizite offenbart habe, wollte Karl nicht beurteilen. Offen blieb trotz mehrfacher Nachfragen, ob die deutsche Spionagebehörde inzwischen alle Suchmerkmale der NSA lesen kann oder die unverständlichen deaktiviert werden.

Im Oktober 2015 erhielt der Bundestag dann schwarz auf weiß die Bestätigung [17], dass bis zu 40.000 von rund einer Million Selektoren, die der BND von der NSA bezog, gegen deutsche Interessen gerichtet waren. Damals legte der von der Bundesregierung und dem Untersuchungsgremium eingesetzte Sonderermittler Kurt Graulich seinen Prüfbericht vor und bestätigt damit die Medienberichte über das teils rechtswidrige Treiben der beiden Geheimdienste in weiten Teilen.

Graulich und sein Team fanden neben europäischen Regierungseinrichtungen insbesondere in Frankreich auch deutsche Ziele in überraschend großer Anzahl auf der Liste der NSA, die teils länger als hundert Tage überwacht wurden. Knapp 16 Prozent der Selektoren hatten deutsche Telekommunikationsteilnehmer betroffen; dazu kamen viele Unternehmen mit Sitz hierzulande. Darunter waren allein 70 Telefonnummern von EADS und Eurocopter. Ob die NSA so Wirtschaftsspionage betreiben, die Konzernmitarbeiter für militärische Zwecke überwachen oder Proliferation entgegenwirken wollte, konnte der frühere Richter am Bundesverwaltungsgericht nicht abschließend klären.

Fast 70 Prozent der aussortierten Selektoren betrafen Regierungsstellen von EU-Ländern. Bei zwei Dritteln aller 28 Mitgliedstaaten fanden sich Treffer – ganze Mitarbeiterstäbe sollten ausgespäht werden. Insgesamt hat die NSA mit den Vorgaben laut Graulich zumindest gegen das MoA mit dem BND verstoßen.

Die rund 400 Seiten lange Analyse zeige "erhebliche Mängel" bei der Behandlung von Zielvorgaben der NSA auf, kommentierte Flisek von der SPD den Graulich-Report. So sei es "teilweise nicht gelungen" zu verhindern, dass die US-Spione "Selektoren zu deutschen Grundrechtsträgern" in die Erfassungssysteme des BND eingespielt hätten. Damit sei "deutsches Recht verletzt" worden. "Darüber hinaus wurde offensichtlich in erheblichem Umfang gegen deutsche Interessen verstoßen, wenn Regierungen und Institutionen deutscher Partnerländer ausgespäht wurden", erklärte Flisek weiter. Insgesamt weise der geschilderte Sachverhalt auf "schwerwiegende Organisationsmängel" innerhalb des BND hin.

Die Bundesregierung sah sich vor allem in ihrer früheren Bewertung bestätigt, "dass es nach wie vor keine Hinweise auf eine massenhafte Ausspähung deutscher und europäischer Staatsbürger gibt". Gleichwohl hätten im Bereich der strategischen Fernmeldeaufklärung des BND "technische und organisatorische Defizite" bestanden. Das Bundeskanzleramt habe aber schon damals reagiert, etwa die Regeln zum Einsatz des BND-Datenstaubsaugers "präzisiert" sowie die eigene Aufsicht "personell sowie strukturell ausgebaut". Nun solle unter anderem das geheime Auftragsprofil der Regierung für den BND noch überarbeitet werden.

Kurt Graulich

Kurt Graulich

(Bild: heise online/Stefan Krempl)

Im Ausschuss selbst stellte Graulich seinen Bericht Anfang November 2015 vor und erklärte, dass die Gemeinschaftsinitiative zwischen BND und NSA im Detail "so nie hätte abgefahren werden dürfen [18]". An sich verteidigte der Sozialdemokrat den Ansatz aber als "richtig" und "politisch intelligent". Generell habe die Kooperation nicht nur den Vorteil gehabt, Kosten zu sparen,. Sie habe auch "den eigenen Rechtsraum vergrößert", also den Schutz von Bundesbürgern verbessert. Im Report schreibt der Jurist, die Kooperation habe "tendenziell friedensstiftend" gewirkt, "weil sie die Zahl von Bündnispartnern vergrößert und die mögliche gegnerische Konstellation verkleinert".

Graulich beklagte aber, dass die NSA vielfach Foul gespielt habe. Selektoren zu Bundesbürgern hätte sie überhaupt nicht an den BND übergeben dürfen, brachte er ein Beispiel. Zudem habe die US-Seite die "Europaklausel" der vertraglichen Kooperationsgrundlage missachtet, also Vertreter europäischer Regierungen systematisch mithilfe des Partners ausgeforscht.

Die teils erfolgten Grundrechtseingriffe bezögen sich jedoch auf ein "geschlossenes Datenverarbeitungssystem", versuchte Graulich die Verstöße kleinzureden. Sie würden "erst relevant, wenn Menschen Kenntnis davon nehmen". Doch wenn der BND Zielvorgaben abgelehnt habe, dann seien diese ja "nicht mehr gefährlich" gewesen, bekundete der Pensionär. Damit handle es sich nur noch um eine "Restgröße eines Verstoßes gegen personenbezogene Daten".

Sollten illegitime Suchmerkmale aktiv geschaltet worden sein und weiter zu Treffern und erfasster Kommunikation geführt haben, wertete Graulich dies als "massive Grundrechtseingriffe innerhalb des Systems". Die Ergebnisse würden aber "erst auf amerikanischer Seite" von Menschen zur Kenntnis genommen. Damit seien die Resultate rechtlich außen vor.

Insgesamt entspreche das Gemeinschaftsprojekt auch dem "Stand der Wissenschaft" etwa im Medienrecht, lobte Graulich. Dort sei heutzutage häufig ein Provider und ein Programmveranstalter, der sich dessen Plattform bediene. Wenn dieser zuletzt genannte Inhalteanbieter gegen rechtliche Auflagen verstoße, müsse der Betreiber dafür nicht haften. Brenzlig werde es erst bei andauernden Rechtsverletzungen. Daher habe der BND das Filterprogramm Dafis genutzt, um weitgehend automatisch sicherzustellen, dass das nationale Rechtsregime berücksichtigt werde.

Dafis – der Begriff steht für Datenfiltersystem – sei so streng ausgelegt gewesen, "dass alles, was mit 49 beginnt, sofort reflexartig herausgezogen wird", erläuterte der Rechtsexperte. Dies habe nicht nur bei Telefonvorwahlnummern gegriffen, sondern auch bei anderen Kennungen, bei denen die beiden Ziffern gar keinen Deutschlandbezug hätten.

Der größte Fehler der hiesigen Seite war es laut dem als Sachverständigen Geladenen, mit einer Software gearbeitet zu haben, mit der die Begründungen der NSA für die Selektoren nicht lesbar, die Suchmerkmale also nicht einzelnen Personen oder Unternehmen zuzuordnen gewesen seien. Dies sei mit dem deutschen Recht keineswegs vereinbar gewesen. Nach dem Skandal um die Zielvorgaben setzte die Bundesregierung die Kooperation der Netzüberwachung über Bad Aibling zunächst aus. Anfang 2016 nahm der BND die Zusammenarbeit aber wieder auf, da die NSA nun für ihn lesbare Begründungen mitgeliefert habe.

Dass der Bericht über lange Strecken die juristische Sicht des Bundesnachrichtendiensts nachbetet und etwa mit der Weltraum- oder der Funktionsträgertheorie liebäugelt, vermochte Graulich inhaltlich nicht überzeugend zu begründen. Er leugnete aber erst gar nicht, "laufend Aufträge für Zuarbeiten" an BND-Angehörige verteilt zu haben.

In dem Report schreibt der Ex-Richter, dass ihm während der Untersuchungszeit eine Juristin, ein Ingenieur und ein weiterer Mitarbeiter des Geheimdienstes zur Verfügung gestanden hätten. Die mit seiner Analyse verknüpften "Geheimschutzanforderungen machten das neue Gebäude des BND in der Chausseestraße in Berlin zum geeigneten Arbeitsplatz für die Ausführung des Werkes". Einmal ist konkret nachzulesen, dass die Ausführungen direkt "auf der Darstellung" der Spionagebehörde gründeten.

Linke und Grüne sparten nicht mit Kritik an der Arbeit Graulichs, warfen ihm fehlende Sachkunde, Falschdarstellungen und Befangenheit vor. Der Gerügte konterte, ihn beeindruckten "weder schlechte Presse" noch der BND oder kritische Fragen von Abgeordneten. Bevor er sich von irgendjemand unlauter beeinflussen lasse, lese er lieber "ein gutes Buch".

"Etwas ratlos" zeigte sich der Sonderermittler aber doch, als ihm die Opposition vorhielt, immer nur von der Satellitenaufklärung und Bad Aibling zu sprechen. Alle, mit denen er geredet habe, hätten ihm diese als Einsatzpunkt für die Zielvorgaben genannt, versicherte er. Dass die Selektoren auch im Projekt Eikonal zur Netzüberwachung [19] eingesetzt worden seien, habe er zuvor gar nicht vernommen gehabt.

Das Konstrukt der "sachverständigen Vertrauensperson", in das sich Graulich mit dem Segen von CDU/CSU und SPD von der Bundesregierung zwängen ließ, hatte die Opposition schon vorher prinzipiell abgelehnt. Die Bundestagsfraktionen der Linken und der Grünen reichten Mitte September 2015 eine Organklage beim Bundesverfassungsgericht ein. Sie wollen damit sicherstellen, dass dem Untersuchungsausschuss alle notwendigen Beweismittel zur Verfügung stehen und die Oppositionsrechte nicht willkürlich beschnitten werden können. Konkret geht es ihnen um die Herausgabe der umstrittenen Selektorenliste der NSA für den Bundesnachrichtendienst.

Die Bundesregierung beruft sich in ihrer Weigerung, die Suchmerkmale den Abgeordneten zu überlassen, dagegen darauf, dass die US-Regierung einem solchen Schritt zustimmen müsste. Ein "Konsultationsprozess" dazu sei aber ins Leere gelaufen. Trotzdem wollte sich das Kanzleramt nur auf die Figur des Sonderermittlers einlassen, wobei sich dieser "loyal gegenüber dem Auftraggeber", also der Regierung, verhalten sollte.

Für die Opposition war klar, dass die Abgeordneten so ihren Untersuchungsauftrag nicht erfüllen könnten. Dabei habe die Bundesregierung dem Aufklärungsziel keine gleichrangigen Belange entgegenhalten, heißt es in der Gerichtsschrift. Dies gelte vor allem für das Geheimschutzabkommen mit den USA. Dieses wirke sich gegenüber dem Bundestag nicht aus, schon weil es ohne Zustimmung der Volksvertreter geschlossen worden sei und für einen derart weitreichenden Eingriff in die Parlamentsrechte eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen wäre.

Die Bundesregierung habe auch nicht nachgewiesen, dass der geheime Vertrag die parlamentarischen Kontrollrechte einschränke, argumentiert die Opposition. Washington habe dies auch selbst bestritten. Weiter legen Linke und Grüne dar, ernsthafte Auswirkungen auf das Verhältnis zu den USA seien durch die genaue parlamentarische Analyse der Selektoren nicht zu befürchten. Die Regierung habe auch dazu nichts vorgelegt.

Für die Anwälte der Opposition war zudem nicht absehbar, dass es zu einer Indiskretion komme, wenn die gewünschten Akten vorgelegt würden und die Liste publik werden könnte. Ferner gehöre es nicht zwingend zum "Schutz der staatlichen Sicherheit und Unversehrtheit der Vereinigten Staaten", sich "vor bloßer Peinlichkeit" abzusichern. Die allgemeine Kooperation zwischen dem BND und der NSA sowie mit anderen ausländischen Geheimdiensten sehen Linke und Grüne ebenfalls nicht ernsthaft gefährdet.

Die G10-Kommission des Bundestags klagte im Dezember 2015 in einem bemerkenswerten und ungewöhnlichen Schritt ebenfalls vor dem Bundesverfassungsgericht [20] mit dem Ziel, Einsicht in die Suchbegriffe für die BND-Überwachung zu bekommen. Mitglieder der Institution kritisierten dabei, der Geheimdienst habe die parlamentarischen Hüter des Fernmeldegeheimnisse "hinter die Fichte" geführt. Die Karlsruher Richter wiesen die Beschwerde [21] im Oktober 2016 aber zurück, da das Gremium "kein Verfassungsorgan" und daher nicht "parteifähig" sei. Betroffene Bürger müssten allenfalls selbst gegen die Massenüberwachung klagen, hieß es vom höchsten hiesigen Gericht. Fest steht damit letztlich, dass die Kontrolleure Zwangsmaßnahmen gegen den BND gar nicht durchsetzen können und ihre Schwerter so reichlich stumpf sind.

Zuvor hatten die Abgeordneten im Ausschuss mühsam auszuleuchten versucht, wer im BND wann welche illegitimen Selektoren ausfindig machte und aussortierte. Heraus kam, dass Mitarbeiter in der Zentrale und in Bad Aibling mehr oder weniger parallel 2013 mit größer angelegten Prüfungen der Zielvorgaben zu tun hatten, ihre direkten Vorgesetzten die brisanten Funde aber angeblich weder an die Hausleitung noch an die Aufsicht im Kanzleramt oder das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags heran trugen. Dabei wären "besondere Vorkommnisse" eigentlich zu melden gewesen.

Bei dem ein oder anderen Termin ging es im Ausschuss verbal auch etwas härter zu, etwa bei der Vernehmung des früheren Eikonal-Projektleiters S. L.:

Zeuge S. L.: Die NSA hat Selektionskriterien, die sogenannten Selektoren, an Bad Aibling gegeben, an JSA, und das wurde durch den BND rechtlich geprüft, ob diese Selektoren für die Operation "Eikonal" zur Verwendung zulässig sind.

André Hahn (Die Linke): Es gab keine Vorgabe, europäische Bürgerinnen und Bürger zu schützen?

(Tankred Schipanski (CDU/CSU): Das ist vom G-10-Gesetz nicht umfasst!)

S. L.: Das ist nicht Grundlage im G-10-Gesetz.

Hahn: Sie müssen keine Stichworte geben. Ich habe den Zeugen gefragt.

Vorsitzender Patrick Sensburg: Herr Kollege Hahn, nicht so ruppig, bitte ich doch!

Hahn: Doch! Ich darf ruppig sein.

Sensburg: Es ist so eine kollegiale Stimmung bis jetzt. Die wollen wir doch halten.

Hahn: Ich bin nicht auf Kollegialität aus, wenn die Zeugen hier mauern.

Hans-Christian Ströbele (Grüne): Das ist, glaube ich, der dritte, bei dem das so ist, dass das in der öffentlichen Verhandlung völlig anders aussieht und wir hier hinnehmen müssen, dass hier gravierende Widersprüche bestehen zwischen dem, was wir aus den Akten entnehmen, und dem, was der Zeuge sagt.

S. L.: Ganz zum Schluss, vor der Weitergabe, haben wir noch mal darauf geachtet, dass deutsche Interessen nicht verletzt würden. Da kamen auch Themen rein, die deutsch-europäische Interessen verletzt hätten... Einen automatisierten Schutz für Bürgerinnen der EU gab es nicht.

Der Unterabteilungsleiter beim BND, der die eine Sonderprüfung der Selektoren der NSA in Auftrag gab, gestand im Mai 2015 dann ein , dass es die Ergebnisdatei "nicht mehr gibt" und nur noch ein separates Indexdokument dazu existiere. Der ganze Rechner, auf dem die schwarze Liste angelegt worden sei, "ist irgendwann abgezogen worden".

D. B.

D. B.

(Bild: Stella Schiffczyk [22] )

Er habe mit der gesonderten Überprüfung der NSA-Selektoren, zu denen etwa E-Mail-Adressen oder Telefonnummern gehören, "Anfang August 2013" einen technischen Referenten beauftragt, führte der unter dem Kürzel D. B. firmierende Zeuge aus [23]. Dieser habe die Kennungen binnen einiger Wochen "nach Kommunikationsdiensten und Länderkennungen" untersucht. Einen bestimmten Verdacht, dass die US-Seite falsch spielen könnte, habe er zu diesem Zeitpunkt nicht gehabt.

Zu den Resultaten wollte sich D. B. nur in geheimer Sitzung äußern. Er ließ durchblicken, dass zumindest keine deutschen Kennungen gefunden worden, aber andere sensible Suchmerkmale aufgeflogen seien. Seit "spätestens November 2013" gebe es nun auch Vorgaben, wonach europäische Kennungen aussortiert werden müssten.

Dem Leiter der Dienststelle Bad Aibling gab der Bundeswehroberst nach eigenen Angaben daraufhin zu verstehen, dass er die Funde als kritisch bewerte und "was er sonst noch machen soll". Explizit von "Löschen" sei nicht die Rede gewesen. Zudem habe er den Referatsleiter für Technische Aufklärung und einen weiteren Unterabteilungsleiter über das Ergebnis informiert. Das habe ihm selbst nur als Ausdruck vorgelegen und sei per Boten gen Bad Aibling geschickt worden. Vorgesetzte habe er nicht über den heiklen Vorgang in Kenntnis gesetzt, verblüffte D. B. die Abgeordneten. Für ihn sei das Problem behoben gewesen. Es habe auch keine Anhaltspunkte gegeben, die weitere spezielle Kontrollen erforderlich gemacht hätten.

Wie er erst kürzlich erfahren habe, gebe es in Bad Aibling noch eine allgemeine "Ablehnungsliste" für Zielvorgaben der NSA, die nicht in Erfassungssysteme wanderten, erklärte D. B. Diese werde seit Jahren geführt und permanent ausgebaut. Schon 2005 sei schließlich beim Übermitteln erster NSA-Kennungen in einem frühen Stadium der Kooperation aufgefallen, dass der Partner nach "EADS" und "Eurocopter" suchen wollte.

Den Volksvertretern blieb auch bei der zweiten und dritten Anhörung des Militärs 2016 unerklärlich, inwieweit der Skandal keine größeren Kreise habe ziehen können. Trotz mehrfacher Nachfragen verweigerte D. B. an diesem Punkt erneut die Aussage. Flisek (SPD) wertete die Version des Zeugen als eine Geschichte, bei der sich die Balken bögen: "Ich kriege nichts von dem, was Sie sagen, zusammen. Wir verschwinden bald alle noch in dem Schwarzem Loch, das sie produzieren." Der Grüne von Notz bezeichnete das Konstrukt als "maximal unglaubwürdig", Tankred Schipanski von der CDU erschienen Teile der Angaben "völlig widersinnig".

Die faulen Selektoren, die die NSA dem BND unterjubelte, spielten in Bad Aibling selbst angeblich nur eine Nebenrolle. "Das war so ein Randbereich", erklärte der Leiter der BND-Außenstelle, der unter dem Kürzel R. U. firmiert, im Anschluss an D. B. Zu Beginn der Zusammenarbeit seien nur "ganz wenige Selektoren von der NSA" gekommen. Irgendwann hätten die Zuständigen in Bad Aibling aber festgestellt, dass ein Prüfen "händisch nicht mehr geht", und diese Aufgabe "an die Zentrale abgegeben. Dies gebe inzwischen Anweisungen, "welche wir einstellen sollen und welche nicht". Es seien "immer wieder welche dabei, die rausfliegen". Die genauen Zahlenverhältnisse kenne er nicht. Er oder der für die Selektoren-Datenbank zuständige Kollege würden in der Regel nicht noch einmal drüberschauen in der Gewissheit: "Die kommen geprüft zurück."

Im August 2013 kam von D. B. dann eine "mündliche Weisung", spezielle, offenbar gegen hiesige Interessen verstoßende Suchmerkmale "zu löschen", also "bestimmte Domains" in der Datenbank "unscharf zu stellen" und so aus den Erfassungssystemen herauszunehmen, erinnerte sich R. U. Er hab dies dem zuständigen Kollegen weitergegeben und "damit war das für mich erledigt". Aufgeschreckt worden sei er nicht: "Das war ein Routinevorgang."

Der Experte, der die umfangreiche Gesamtdatei der NSA-Selektoren 2013 erstmals genauer untersuchte, erklärte im Mai 2015 im Untersuchungsgremium, die "problematischen" Zielkriterien zufällig gefunden zu haben. Die Suche sei zunächst nicht darauf angelegt gewesen: "Ich hatte nicht die Rechte, auf so etwas zu stoßen", sagte der unter "Dr. T." firmierende BND-Mitarbeiter. Nach den ersten Funden, die ihm "politisch sensibel" vorgekommen seien, habe er D. B. informiert. Dieser habe ihn eigentlich nur damit beauftragt gehabt, die Kennungen nach "technischen Gesichtspunkten" und verschiedenen Kommunikationsmitteln zu sortieren. Er habe die Suche "nach eigenem Ermessen ausgeweitet". Insgesamt sei er auf 2000 ungehörige Merkmale gestoßen.

Dass D. B. die schwarze Liste nur in Papierform an Bad Aibling weiterleitete, bezeichnete Dr. T. nicht als Problem: "Es war nicht erforderlich, jeden einzelnen Selektor händisch zu entfernen." Die Ergebnisse hätten eine gewisse Struktur gehabt, die es der Außenstelle ermöglicht habe, die Zielvorgaben automatisch danach zu durchsuchen. Für die Analyse habe er sich einen leistungsfähigeren Rechner besorgt, da sein Gerät die Datenmengen "nicht bearbeiten konnte". Der schnelle Computer sei ihm leihweise überlassen worden, Anfang des Jahres habe er ihn wegen einer Inventur zurückgegeben. Die Datei mit den gebrandmarkten Kennungen habe er schon vorab gelöscht gehabt: "Nach dem Abschluss der Untersuchungen hatte ich nicht gedacht, dass diese noch einmal zu gebrauchen sei."

Der frühere Chef der Technischen Aufklärung beim BND, Hartmut Pauland, erklärte wenig später im Ausschuss, dass das Übermitteln von Selektoren durch den US-Dienst auf seiner Ebene bis zum März 2015 als "unproblematisch" gegolten habe. Zwischendurch war dem Brigadegeneral nach eigener Angabe "nichts aufgefallen, was Anlass zur Sorge hätte geben müssen". Der NSA seien also keine besonders heiklen Daten übermittelt worden. Es habe seit zehn Jahren einen "eingeschwungenen Handlungsablauf" gegeben. Erst im März sei ihm bewusst geworden, dass die Kooperationsübereinkunft mit der NSA eigentlich erst einmal in eine Handlungsanweisung hätte umgesetzt werden müssen.

Hartmut Pauland

Hartmut Pauland

(Bild: Stella Schiffczyk [24] )

Seit März 2015 arbeitete Pauland laut seiner Aussage dann mit Hochdruck unter anderem mit D. B. daran, die Zielvorgaben zu bereinigen und zu verhindern [25], dass die unerwünschte Spionage auch bei Selektoren anderer ausländischer Partner passiere. Es sei jetzt genau vorgeschrieben, wie mit den Suchbegriffen verfahren werden müsse.

Bei allen Fraktionen auf Unverständnis stieß die Behauptung Paulands, die zuständigen Untergebenen nicht gefragt zu haben, warum diese ihn nicht über die beiden Sonderprüfungen und die brisanten Ergebnisse informierten. Sie hätten wohl einen "legitimen Grund" für ihr Schweigen gehabt, meinte der Zeuge. Der Sozialdemokrat Flisek hielt Pauland daraufhin vor, dass beim BND offenbar manche in "Parallelräumen" lebten. Es bleibe ein "ganz fataler Eindruck" über die Kultur in dem Dienst zurück.

Ende 2016 gestand der Militär bei einer erneuten Befragung ein, dass seine Behörde bei Aussortieren der kritischen, gegen "Freunde" gerichteten BND-eigenen Suchmerkmale an die viel umfangreicheren, rund 13 Millionen Selektoren der NSA schlicht "nicht gedacht" habe. Dass es teils über ein Jahr dauerte, bis faule BND-Zielvorgaben an Außenstellen wie Bad Aibling oder Rheinhausen inaktiv gestellt wurden, versuchte Pauland damit zu erklären, dass gerade technische Umrüstungen gelaufen und "bestimmte Systeme nicht verfügbar" gewesen seien. Zuvor hatten die Zuständigen vor Ort angegeben, dass sie die entscheidenden Weisungen teils erst deutlich verspätet erreicht hätten. Wenn dem so gewesen sei, "ist es Schlamperei", konstatierte der Offizier schließlich. Er habe aber keine Hinweise erhalten, dass die Ansagen nicht beachtet worden seien.

Ex-BND-Chef Gerhard Schindler identifizierte nach Pauland vor den Abgeordneten Fehler im Umgang mit den NSA-Zielvorgaben. Ihm habe aber die Fantasie gefehlt, Betrug zu wittern. "Die Überprüfung der Selektoren war von Beginn an unvollständig", benannte er die "Erbsünde" in der Affäre. Bei der ersten Kontrolle der Merkmale im April 2005 sei nur geschaut worden, ob die Vorgaben zum Schutz deutscher Bürger im Einklang mit dem Fernmeldegeheimnis gewahrt würden. Später sei das fehlerhafte händische Kontrollverfahren der Ziellisten 2008 "verfestigt" worden, als das Filtern in einen automatisierten elektronischen Prozess überführt wurde. Letztlich sei er "leider" nicht über die ersten "systematischen" Sonderprüfungen der Selektoren im August 2013 unterrichtet worden.

heise online/Stefan Krempl

Thomas de Maizière

(Bild: heise online/Stefan Krempl)

Große Folgen habe das Einspielen von Merkmalen, die gegen europäische Interessen verstießen, in der Dienststelle Bad Aibling aber nicht gehabt, meinte Schindler. Die dortigen Systeme zum Abschnorcheln von Satelliten seien auf "Krisengebiete" wie Afghanistan ausgerichtet. Dort sei es aber schwer, Abhörziele aus Europa zu finden.

Seit 2008 seien abgelehnte Selektoren in eine "Ablehnungsdatei" aufgenommen worden, erläuterte der frühere Fallschirmspringer. Deren Zweck sei es, ein erneutes Einspielen der Ziele zu verhindern. Im August 2013 seien zusätzliche Suchvorgaben in diese Datenbank aufgenommen worden. Diese Liste habe ein Kollege von ihm am 6. März 2015 erstmals ausgedruckt und auf sein Geheiß hin im Bundeskanzleramt präsentiert, noch bevor er sie selbst zu Gesicht bekommen habe. Ihn habe parallel die Bitte erreicht, ebenfalls in die Regierungszentrale zu kommen. Überrascht hat Schindler nach eigener Aussage vor allem die Größe der Ablehnungsliste. Deren Struktur und das Verfahren, wie die Datei "gefüttert" wurde, sei ihm erst Tage später bekannt geworden.

Die umstrittenen Selektoren hätten nicht "durchgeknallte BND-Leute" einfach in die Abhörsysteme eingestellt, unterstrich der 64-Jährige [26] bei seiner dritten Vernehmung Anfang 2017. EU-Länder hätten sich teils auch schon im Auftragsprofil der Behörde befunden. Er habe zudem den damaligen Kanzleramtsleiter Ronald Pofalla gleich nach der Ansage von Regierungschefin Angela Merkel (CDU) im Oktober 2013, dass Ausspähen unter Freunden gar nicht gehe, über erste kritische Funde unter den NSA-Suchmerkmalen informiert. Mit diesem Gespräch sei für ihn gemäß dem Motto "Melden macht frei" das Thema zunächst mehr oder weniger erledigt gewesen.

Das gewaltige Ausmaß der Selektoren der US-Seite, die gegen deutsche Interessen verstießen, war Schindler zufolge damals noch nicht absehbar. Er habe daher zunächst in Absprache mit Pofalla eine mündliche Weisung erteilt, gegen die Merkel-Parole verstoßende BND-Zielvorgaben zu deaktivieren. Bei der damit ausgelösten Säuberungsaktion seien "sukzessive tausende Selektoren gelöscht worden". Parallel sei ab einer gewissen Phase eine "Quarantäneliste" für faule NSA-Suchmerkmale erstellt worden, über die er ebenfalls hin und wieder im Kanzleramt berichtet habe.

Der ganze Umfang der vom BND aufgrund der NSA-Vorgaben ausgeforschten Ziele wurde laut dem Verwaltungsjuristen erst ersichtlich, als die zuständige BND-Abteilung Technische Aufklärung die Ablehnungsliste im März 2015 aufgrund eines Beweisbeschlusses des Ausschusses ausdruckte. Erst danach habe sich der neue Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) bei einem Besuch in Pullach über die Selektorenmisere aufklären lassen. Vorher habe er mit diesem nicht speziell darüber gesprochen, gab Schindler zu Protokoll. Er habe angenommen, dass dessen Mitarbeiter ihn bereits informiert hätten.

"Erst nachdem wir die Dimension der abgelehnten NSA-Selektoren gesehen hatten", war Schindler auch klar, dass der Vorfall dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) berichtet werden müsse. Dies habe er im Frühjahr 2015 dann unternommen, wobei er bei einem zweiten Termin erstmals auch das "Sonderproblem" der vom BND mit eigenen Merkmalen "gesteuerten" Freunde und Partner erwähnt habe. Nachfragen habe es dazu aber zunächst nicht gegeben; erst Monate später setzte das Gremium dazu eine gesonderte "Task Force" ein.

Während Schindler letztlich die Verantwortung für Fehler beim BND während seiner Zeit an der Spitze übernahm, wollten Bundesinnenminister Thomas de Maizière und sein Kollege im Auswärtigen Amt, Frank-Walter Steinmeier, im Untersuchungsausschuss nichts vergleichbares tun. Tenor ihrer Aussagen war, dass sie über das Ausmaß der BND-Spionage nicht im Bilde gewesen seien und sie die Fehler bei der heiklen Kooperation mit der NSA nicht erreicht hätten.

So bezeichnete de Maizière Geheimdienste als "Jäger und Sammler", die bei ihren Tätigkeiten "nicht gerne gestört werden". Ihre Neigung, schon im eigenen Haus auf unübliche Vorkommnisse hinzuweisen, sei geringer ausgeprägt als in anderen Behörden. Das Prinzip, nur die allernötigsten Informationen weiterzugeben, "erschwert die strukturelle Aufsicht".

Ex-BND-Präsident Ernst Uhrlau hatte kurz vor der Vernehmung des Innenministers zu Protokoll gegeben, dass in höchsten Kreisen bereits 2006 die Missbrauchsversuche erörtert worden seien und auch der damalige Kanzleramtschef de Maizière eingebunden gewesen sei. Uhrlau habe allgemeine Bedenken vorgebracht und vor Übergriffsmöglichkeiten im Sinne von "Vorsicht vor Mehr" gewarnt, erinnerte sich dieser. Um Selektoren sei es nicht gegangen. Die Suchmerkmale seien ihm erst 2013 oder 2014 "begegnet", als er sich auf ein Gespräch mit seiner britischen Kollegin vorbereitet habe.

Nicht immer, wenn ein Unternehmen von Geheimdiensten beobachtet werde, handele es sich um Wirtschaftsspionage, befand de Maizière. Hier würden "Begrifflichkeiten gelegentlich durcheinandergebracht". So sei es "unsere verdammte Pflicht", die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu bekämpfen. Es sei selbstverständlich, dass auch die NSA Proliferation aufkläre oder einzelne Firmenmitarbeiter überwache, wenn diese in Terrorverdacht gerieten. Es gebe aber nach wie vor keinerlei Hinweise, dass der US-Dienst Betriebe ausspähe, um heimischen Unternehmen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.

Schon vor Snowden war laut de Maizière allgemein bekannt, dass "Interessen amerikanischer Nachrichtendienste" nicht immer mit den deutscher deckungsgleich seien. Für die US-Community sei das Sammeln von Informationen "wertneutral" und erfolge unabhängig davon, ob es sich auf das "Handy von Merkel oder Müller" beziehe. Es gebe auch berechtigte Zweifel, ob die NSA dem Anspruch immer gerecht geworden sei, "Maß und Mitte" beachtet zu haben.

Steinmeier wusch seine Hände im März 2016 im Ausschuss ebenfalls in Unschuld. Er sei "gelinde gesagt überrascht" gewesen über Berichte, dass der Auslandsgeheimdienst befreundete Regierungsstellen und andere Einrichtungen in Europa und Drittstaaten ausgespäht habe, erklärte der Sozialdemokrat. Er habe nie Informationen erhalten, dass der BND Dinge außerhalb seines Auftrags aufgeklärt habe.

"Der politische Schaden einer Spionage gegen befreundete Regierungen übertrifft deutlich deren Nutzen", machte Steinmeier klar. Die unterschiedlichen Positionen seien in diesem Rahmen "eh bekannt, "dafür brauche ich keine geheimdienstlichen Vorhaltungen".

Ebenso unerwartet habe er kürzlich hören müssen, dass Internet-Suchbegriffe der NSA bei der umstrittenen Kooperation zur Telekommunikationsaufklärung mit dem BND sogar gegen deutsche Botschaften gerichtet gewesen sein sollten, gab der langjährige Chef des Bundeskanzleramts an. Wenn es solche Versuche gegeben habe, handele es sich um einen "inakzeptablen Verstoß" gegen die Vereinbarung zur Zusammenarbeit mit der NSA von 2002 in Form des MoA. Er beteuerte, noch nie einen Selektor der NSA oder gar eine ganze Liste davon gesehen zu haben.

Mit den Snowden-Enhüllungen hätten wir dann "einiges" über NSA-Praktiken erfahren, "was nachdenklich gemacht und Vertrauen infrage gestellt hat", stellte Steinmeier fest. Die Vorwürfe müssten weiter im "offenen Dialog" aufgeklärt werden, ohne die Kooperation mit den USA grundsätzlich in Frage zu stellen.

Im Oktober 2015 informierte die Bundesregierung das Parlamentarische Kontrollgremium darüber, dass der BND nicht nur problematische Selektoren der NSA verwendet, sondern offenbar auch mit eigenen Suchkriterien gegen das Recht verstieß. Diese Zielvorgaben sollen sich etwa gegen französische und US-amerikanische Ziele gerichtet haben und seien ausdrücklich nicht mit dem Auftrag an den Geheimdienst und dem Bonmot der Kanzlerin vereinbar, wonach Ausspähen unter Freunden gar nicht gehe.

"Missing Link"

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Nach einer Untersuchung beklagten die Geheimdienstkontrolleure des Bundestags im Dezember 2015 gravierende Rechtsverletzungen durch den BND und forderten dringend Konsequenzen. Der Auslandsgeheimdienst habe in Eigenregie eine Vielzahl an Zielen in EU- und Nato-Staaten ausgeforscht einschließlich ausländischer Regierungsstellen und EU-Institutionen. In Einzelfällen seien auch deutsche Staatsbürger ausgespäht worden, was der BND mit der "Funktionsträgertheorie" begründet habe.

Parallel sollte es erste personelle Konsequenzen bei der Behörde geben. Berichten zufolge verloren drei Mitarbeiter der Abteilung Technische Aufklärung ihre Posten. Demnach werden zwei von ihnen mit anderen Aufgaben innerhalb des BND betraut, hieß es. Der Leiter der Abteilung, Bundeswehrgeneral Pauland, sollte zum Militär zurückkehren. Disziplinarrechtlich verfolgt wurde aber kein hiesiger Agent.

Im abschließenden PKGr-Bericht zu den illegitimen BND-Selektoren vom Juli 2016 beschreibt die darauf angesetzte Arbeitsgruppe einen Fall als besonders gravierend und "selbst bei wohlwollender Betrachtung" ungerechtfertigt. Es gebe "keinerlei Hinweise, dass im BND zu irgendeinem Zeitpunkt der erhoffte Informationsgewinn gegen das politische Risiko der Maßnahme abgewogen wurde", rügen die Volksvertreter. Neben diplomatischen Vertretungen tauchen laut dem Bericht besonders viele Einzelpersonen als BND-Ziele in EU- oder Nato-Ländern auf. Auch hier könnte noch Sprengstoff verborgen liegen, denn die Ermittler räumen ein, dass aus den von der Behörde überlassenen Unterlagen meist nicht hervorgeht, um wen es sich handelt und warum der Betroffene abgehört wurde.

Angela Merkel verteidigte im Ausschuss [28] auch angesichts der BND-Praktiken ihre Ansage, dass gezielte Schnüffeleien unter Partnern gar nicht gingen. Der Ausspruch habe immer ihre innere Überzeugung wiedergegeben, "was Nachrichtendienste tun sollen und was nicht". Sie halte diese nach wie vor für richtig und sei davon ausgegangen, dass auch der (BND) "so etwas nicht macht". Verhandlungspositionen vorab auszuspähen, sei absurd, befand die Kanzlerin ähnlich wie Steinmeier: "Ich bin gut durch meine Kanzlertätigkeit gekommen, ohne dass ich das wusste." Alles andere stelle nach dem Ende des Kalten Krieges eine Ressourcenverschwendung dar.

Dass der BND massiv gegen ihre "anspruchsvolle" Vorgabe verstoßen hat, mache diese "nicht falsch", betonte die 62-Jährige. Das Kanzleramt habe in einer Presseerklärung im April 2015 aber relativ harsch "Defizite" im Auslandsgeheimdienst gerügt. Die weiteren Dinge habe nicht sie durchgesetzt, dafür hätten Altmaier und der Geheimdienstbeauftragte Klaus-Dieter Fritsche gesorgt, auch wenn sie die Gesamtverantwortung trage. Entscheidend ist ihr zufolge: "Wir müssen uns darauf verlassen, dass auch der BND aus diesen Vorkommnissen gelernt hat."

Bei Freunden wie Hillary Clinton, John Kerry oder François Hollande, die Berichten zufolge auf der BND-Spähliste standen, hat sich die Kanzlerin nach eigenen Angaben nicht entschuldigt, mit anderen Regierungsspitzen in der Affäre auch nicht telefoniert: "Ich habe meine öffentlichen Äußerungen gemacht, Dinge eingeleitet, das spricht für sich." Mit einzelnen Selektoren habe sie sich nicht beschäftigt, sondern nur Altmaier ermutigt, entschlossen gegen die damit verknüpften BND-Fehltritte vorzugehen. (mho [29])


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[7] https://www.heise.de/news/Geheimakte-BND-NSA-Grundrechte-ade-die-Funktionstraegertheorie-3672554.html
[8] https://www.heise.de/news/Geheimakte-BND-NSA-Operation-Eikonal-das-Inland-als-virtuelles-Ausland-3677151.html
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[11] https://www.heise.de/news/Geheimakte-BND-NSA-Achtung-Freund-hoert-mit-3699934.html
[12] https://www.heise.de/news/NSA-Skandal-BND-im-grossen-Stil-von-NSA-unterwandert-2618259.html
[13] https://www.heise.de/news/Ex-BND-General-NSA-wollte-Wirtschaftsspionage-betreiben-2569294.html
[14] https://www.heise.de/news/Ex-BND-General-NSA-hat-eigene-illegitime-Selektoren-als-Buerofehler-abgetan-3173437.html
[15] https://www.heise.de/news/BND-Agent-im-NSA-Ausschuss-Wir-sind-keine-Zweigstelle-der-NSA-2403859.html
[16] https://www.heise.de/news/NSA-Ausschuss-Kanzleramt-will-BND-Datenstaubsauger-strenger-regulieren-3356342.html
[17] https://www.heise.de/news/BND-NSA-Affaere-Sonderermittler-deckt-erhebliche-Maengel-und-Rechtsbruch-auf-2866243.html
[18] https://www.heise.de/news/Sonderermittler-stellt-BND-und-NSA-weitgehenden-Persilschein-aus-2884498.html
[19] https://www.heise.de/news/Geheimakte-BND-NSA-Operation-Eikonal-das-Inland-als-virtuelles-Ausland-3677151.html
[20] https://www.heise.de/news/Selektoren-Streit-Auch-G-10-Kommission-klagt-vor-dem-Verfassungsgericht-3029048.html
[21] https://www.heise.de/news/G10-Kommission-scheitert-mit-Klage-im-Selektoren-Streit-3350362.html
[22] http://veith-yaeger.de/2015/05/08/zeichnungen-aus-dem-nsa-untersuchungsausschuss/
[23] https://www.heise.de/news/NSA-Ausschuss-BND-hat-Liste-brenzliger-Ausspaehziele-geloescht-2638435.html
[24] http://veith-yaeger.de/2015/05/08/zeichnungen-aus-dem-nsa-untersuchungsausschuss/
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[28] https://www.heise.de/news/Merkel-im-NSA-Ausschuss-Keine-Entschuldigung-fuers-Ausspaehen-von-Freunden-3629057.html
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